Urteil vom Europäischer Gerichtshof - C-600/14
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
5. Dezember 2017 ( *1 )
„Nichtigkeitsklage – Auswärtiges Handeln der Europäischen Union – Art. 216 Abs. 1 AEUV – Art. 218 Abs. 9 AEUV – Festlegung des Standpunkts, der im Namen der Union in einem durch eine internationale Übereinkunft eingesetzten Gremium zu vertreten ist – Revisionsausschuss der Zwischenstaatlichen Organisation für den internationalen Eisenbahnverkehr (OTIF) – Änderung des Übereinkommens über den internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF) und seiner Anhänge – Zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit – Außenkompetenz der Union in einem Bereich, in dem sie noch keine gemeinsamen Regeln erlassen hat – Gültigkeit des Beschlusses 2014/699/EU – Begründungspflicht – Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit“
In der Rechtssache C‑600/14
betreffend eine Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV, eingereicht am 22. Dezember 2014,
Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch T. Henze und J. Möller als Bevollmächtigte,
Klägerin,
unterstützt durch
Französische Republik, vertreten zunächst durch D. Colas, G. de Bergues und M. Hours, dann durch D. Colas und M.-L. Kitamura als Bevollmächtigte,
Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland, vertreten durch C. Brodie, M. Holt und D. Robertson als Bevollmächtigte im Beistand von J. Holmes, QC,
Streithelfer,
gegen
Rat der Europäischen Union, vertreten durch E. Finnegan, Z. Kupčová und J.-P. Hix als Bevollmächtigte,
Beklagter,
unterstützt durch
Europäische Kommission, vertreten durch F. Erlbacher, W. Mölls und J. Hottiaux als Bevollmächtigte,
Streithelferin,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, T. von Danwitz, J. L. da Cruz Vilaça, J. Malenovský und C. Vajda (Berichterstatter), der Richter A. Borg Barthet, J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev, S. Rodin und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe sowie der Richter C. Lycourgos und M. Vilaras,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 25. Oktober 2016,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 24. April 2017
folgendes
Urteil
1 |
Mit ihrer Klage begehrt die Bundesrepublik Deutschland die teilweise Nichtigerklärung des Beschlusses 2014/699/EU des Rates vom 24. Juni 2014 zur Festlegung des im Namen der Europäischen Union anlässlich der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses zu bestimmten Änderungen des Übereinkommens über den internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF) und seiner Anhänge zu vertretenden Standpunkts (ABl. 2014, L 293, S. 26, im Folgenden: angefochtener Beschluss). |
Rechtlicher Rahmen
Internationales Recht
COTIF
2 |
Das Übereinkommen über den internationalen Eisenbahnverkehr vom 9. Mai 1980 in der Fassung des Änderungsprotokolls von Vilnius vom 3. Juni 1999 (im Folgenden: COTIF) trat am 1. Juli 2006 in Kraft. Die 49 Staaten, die Parteien des COTIF sind und zu denen alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit Ausnahme der Republik Zypern und der Republik Malta gehören, bilden die Zwischenstaatliche Organisation für den internationalen Eisenbahnverkehr (OTIF). |
3 |
Nach Art. 2 § 1 COTIF ist es Ziel der OTIF, den internationalen Eisenbahnverkehr in jeder Hinsicht zu fördern, zu verbessern und zu erleichtern, indem sie insbesondere einheitliche Rechtsordnungen für verschiedene den internationalen Eisenbahnverkehr betreffende Rechtsbereiche aufstellt. |
4 |
In Art. 6 („Einheitliche Rechtsvorschriften“) COTIF heißt es: „§ 1 Sofern keine Erklärungen oder Vorbehalte gemäß Artikel 42 § 1 Satz 1 abgegeben oder eingelegt worden sind, finden im internationalen Eisenbahnverkehr und bei der technischen Zulassung von Eisenbahnmaterial zur Verwendung im internationalen Verkehr Anwendung: …
…
… § 2 Die in § 1 genannten Einheitlichen Rechtsvorschriften und Rechtsordnungen sind mit ihren Anlagen Bestandteil des [COTIF].“ |
5 |
Art. 12 § 5 COTIF lautet: „Eisenbahnfahrzeuge können in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen, in dem der Halter seinen Sitz hat, nur auf Grund einer Entscheidung der Gerichte dieses Staates mit Arrest belegt oder gepfändet werden. Der Ausdruck ‚Halter‘ bezeichnet denjenigen, der als Eigentümer oder sonst Verfügungsberechtigter das Eisenbahnfahrzeug dauerhaft als Beförderungsmittel wirtschaftlich nutzt.“ |
6 |
Der OTIF‑Revisionsausschuss besteht grundsätzlich aus allen Parteien des COTIF. |
7 |
Gemäß Art. 17 § 1 Buchst. a und b COTIF entscheidet er im Rahmen seiner Zuständigkeiten über Anträge auf Änderung des COTIF und prüft außerdem die Anträge, die der OTIF‑Generalversammlung zur Entscheidung vorzulegen sind. Die jeweiligen Zuständigkeiten dieser beiden OTIF‑Gremien für Änderungen des COTIF sind in dessen Art. 33 geregelt. |
Die Beitrittsvereinbarung
8 |
Die am 23. Juni 2011 in Bern unterzeichnete Vereinbarung zwischen der Europäischen Union und der Zwischenstaatlichen Organisation für den internationalen Eisenbahnverkehr über den Beitritt der Europäischen Union zum Übereinkommen über den internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF) vom 9. Mai 1980 in der Fassung des Änderungsprotokolls von Vilnius vom 3. Juni 1999 (ABl. 2013, L 51, S. 8, im Folgenden: Beitrittsvereinbarung) ist gemäß ihrem Art. 9 am 1. Juli 2011 in Kraft getreten. |
9 |
Art. 2 der Beitrittsvereinbarung bestimmt: „Unbeschadet des Ziels und des Zwecks des [COTIF], den grenzüberschreitenden Eisenbahnverkehr zu fördern, zu verbessern und zu erleichtern, sowie unbeschadet seiner uneingeschränkten Anwendung gegenüber anderen Vertragsparteien des [COTIF] wenden Vertragsparteien des [COTIF], die Mitgliedstaaten der Union sind, in ihren Beziehungen untereinander die Rechtsvorschriften der Union an und wenden dementsprechend nicht die Vorschriften aufgrund des [COTIF] an, außer wenn für den betreffenden Gegenstand keine Unionsvorschriften bestehen.“ |
10 |
Art. 6 der Beitrittsvereinbarung lautet: „(1) Bei Beschlüssen in Angelegenheiten, in denen die Union ausschließlich zuständig ist, nimmt die Union die Stimmrechte ihrer Mitgliedstaaten im Rahmen des [COTIF] wahr. (2) Bei Beschlüssen in Angelegenheiten, in denen die Union gemeinsam mit ihren Mitgliedstaaten zuständig ist, nehmen entweder die Union oder ihre Mitgliedstaaten an der Abstimmung teil. (3) Vorbehaltlich des Artikels 26 [§] 7 [COTIF] verfügt die Union über dieselbe Anzahl von Stimmen wie ihre Mitgliedstaaten, die auch Parteien des [COTIF] sind. Wenn die Union an der Abstimmung teilnimmt, sind ihre Mitgliedstaaten nicht stimmberechtigt. (4) Die Union unterrichtet in jedem einzelnen Fall die anderen Parteien des [COTIF], wenn sie bei den verschiedenen Tagesordnungspunkten der Tagungen der Generalversammlung und anderer Entscheidungsgremien die Stimmrechte nach den Absätzen 1 bis 3 ausüben wird. Diese Verpflichtung gilt auch für Beschlüsse, die im schriftlichen Verfahren gefasst werden. Diese Unterrichtung erfolgt frühzeitig genug über das OTIF‑Generalsekretariat, damit die betreffenden Informationen zusammen mit den Sitzungsunterlagen weitergeleitet oder Beschlüsse im schriftlichen Verfahren gefasst werden können.“ |
11 |
Art. 7 der Beitrittsvereinbarung bestimmt: „Der Umfang der Zuständigkeiten der Union wird in allgemeiner Form in einer schriftlichen Erklärung festgehalten, welche die Union zum Zeitpunkt des Abschlusses dieser Vereinbarung abgibt. Diese Erklärung kann bei Bedarf durch eine entsprechende Notifikation der Union an die OTIF geändert werden. Sie ersetzt oder beschränkt nicht die Angelegenheiten, zu denen gegebenenfalls Notifikationen über die Zuständigkeit der Union erfolgen, bevor bei der OTIF durch förmliche Abstimmung oder ein anderes Verfahren ein Beschluss gefasst wird.“ |
Unionsrecht
12 |
Die Beitrittsvereinbarung wurde durch den Beschluss 2013/103/EU des Rates vom 16. Juni 2011 über die Unterzeichnung und den Abschluss der Vereinbarung zwischen der Europäischen Union und der Zwischenstaatlichen Organisation für den Internationalen Eisenbahnverkehr über den Beitritt der Europäischen Union zum Übereinkommen über den Internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF) vom 9. Mai 1980 in der Fassung des Änderungsprotokolls von Vilnius vom 3. Juni 1999 (ABl. 2013, L 51, S. 1) im Namen der Union genehmigt. |
13 |
In Anhang I dieses Beschlusses findet sich eine Erklärung über die Ausübung der Zuständigkeiten, die die Union bei Unterzeichnung der Beitrittsvereinbarung abgegeben hat. |
14 |
In dieser Erklärung heißt es: „Im Eisenbahnbereich ist die Europäische Union … nach den Artikeln 90 und 91 … in Verbindung mit Artikel 100 Absatz 1 und den Artikeln 171 und 172 [AEUV] gemeinsam mit den Mitgliedstaaten der Union … zuständig. … Auf der Grundlage [der Art. 91 und 171 AEUV] hat die Union eine beträchtliche Zahl von Rechtsinstrumenten verabschiedet, die auf den Eisenbahnverkehr Anwendung finden. Das Unionsrecht verleiht der Union die ausschließliche Zuständigkeit in Angelegenheiten des Eisenbahnverkehrs, in denen das [COTIF] oder auf seiner Grundlage verabschiedete Rechtsinstrumente diese bestehenden Vorschriften der Union berühren oder deren Anwendungsbereich abändern könnten. In Angelegenheiten, die unter das [COTIF] fallen und bei denen die Union über ausschließliche Zuständigkeit verfügt, sind die Mitgliedstaaten nicht zuständig. In Angelegenheiten, zu denen Vorschriften der Union bestehen, die aber vom [COTIF] oder Rechtsinstrumenten, die auf seiner Grundlage verabschiedet wurden, nicht berührt werden, nimmt die Union die Zuständigkeiten in Bezug auf das [COTIF] gemeinsam mit den Mitgliedstaaten wahr. Eine Liste der bei Inkrafttreten dieser Vereinbarung geltenden einschlägigen Rechtsakte der Union ist als Anlage zu diesem Anhang beigefügt. Der Umfang der Zuständigkeit der Union ist jeweils aufgrund des genauen Inhalts dieser Rechtsakte und insbesondere danach zu beurteilen, ob darin gemeinsame Regeln festgelegt werden. Die Zuständigkeit der Union unterliegt einer ständigen Entwicklung. Im Rahmen des Vertrags über die Europäische Union und des [AEU-Vertrags] können die zuständigen Organe der Union Entscheidungen treffen, die den Umfang der Zuständigkeiten der Union bestimmen. Die Union behält sich daher das Recht vor, diese Erklärung entsprechend abzuändern, ohne dass dies eine Voraussetzung für die Ausübung ihrer Zuständigkeit für unter das [COTIF] fallende Angelegenheiten wäre.“ |
15 |
In der Anlage zu Anhang I des Beschlusses 2013/103 sind die Rechtsakte der Union im Bereich von Angelegenheiten, die Gegenstand des COTIF sind, aufgelistet. |
Vorgeschichte des Rechtsstreits und angefochtener Beschluss
16 |
Im April 2014 teilte der Generalsekretär der OTIF den Mitgliedstaaten der OTIF Anträge auf Änderungen des COTIF mit, die dem OTIF‑Revisionsausschuss anlässlich seiner 25. Sitzung in Bern vom 25. bis 27. Juni 2014 unterbreitet werden sollten. Diese Änderungsanträge betrafen u. a. Anhang B zum COTIF über die Einheitlichen Rechtsvorschriften für den Vertrag über die internationale Eisenbahnbeförderung von Gütern (CIM) (im Folgenden: Anhang B [CIM]), Anhang D zum COTIF über die Einheitlichen Rechtsvorschriften für Verträge über die Verwendung von Wagen im internationalen Eisenbahnverkehr (CUV) (im Folgenden: Anhang D [CUV]) in Verbindung mit Art. 12 COTIF und Anhang E zum COTIF über die Einheitlichen Rechtsvorschriften für den Vertrag über die Nutzung der Infrastruktur im internationalen Eisenbahnverkehr (CUI) (im Folgenden: Anhang E [CUI]). Am 25. April bzw. 27. Mai 2014 wurden dem OTIF‑Revisionsausschuss im Hinblick auf die genannte Sitzung auch zwei Anträge der Französischen Republik bzw. der Bundesrepublik Deutschland zu Anhang D (CUV) unterbreitet. |
17 |
Am 26. Mai 2014 legte die Europäische Kommission der Arbeitsgruppe „Landverkehr“ des Rates der Europäischen Union zur Vorbereitung der Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses ein Arbeitspapier zu bestimmten Änderungen des COTIF vor. Am 5. Juni 2014 unterbreitete die Kommission dem Rat einen Vorschlag für einen Beschluss des Rates über den Standpunkt der Union anlässlich der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses (COM[2014] 338 final, im Folgenden: Beschlussvorschlag). Nach Abschluss der Arbeitssitzungen, die in den Vorbereitungsgremien des Rates stattgefunden hatten, erließ dieser in seiner Sitzung vom 24. Juni 2014 den angefochtenen Beschluss, mit dem er festlegte, welche Standpunkte im Namen der Union u. a. zu den Anträgen auf Änderung des Art. 12 COTIF sowie der Anhänge B (CIM), D (CUV) und E (CUI) des COTIF (im Folgenden zusammen: streitige Änderungen) zu vertreten waren. |
18 |
Die Bundesrepublik Deutschland stimmte gegen den genannten Vorschlag und gab bei der Annahme des angefochtenen Beschlusses folgende Erklärung ab: „Die Bundesrepublik Deutschland vertritt die Auffassung, dass bezüglich der Änderungen der Anhänge B (… CIM), D (… CUV) und E (… CUI) zum [COTIF] keine [Unionsk]ompetenz und daher keine Notwendigkeit einer Koordination einer [Unionsp]osition für die 25. Tagung des Revisionsausschusses der OTIF vom 25. bis 27. Juni 2014 besteht. Die [Union] hat bislang von ihrer Rechtsetzungskompetenz auf den in diesen Anhängen geregelten Gebieten des privaten Transportrechts keinen Gebrauch gemacht. Daher können die Mitgliedstaaten gemäß Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 AEUV ihre Zuständigkeiten weiter ausüben. Für die Fälle geteilter Zuständigkeit sieht Artikel 6 Absatz 2 der Vereinbarung zwischen der OTIF und der [Union] über den Beitritt der [Union] zum COTIF … zudem ausdrücklich vor, dass die Mitgliedstaaten weiterhin auf diesen Gebieten ihr Stimmrecht eigenständig ausüben können. [Die Bundesrepublik] Deutschland widerspricht vorsorglich einer Abgabe der deutschen Stimme durch die [Europäische] Kommission.“ |
19 |
In den Erwägungsgründen 3 bis 6, 9 und 11 des angefochtenen Beschlusses wird ausgeführt: „Der Rat der Europäischen Union – gestützt auf den [AEU-Vertrag], insbesondere auf Artikel 91 in Verbindung mit Artikel 218 Absatz 9, … in Erwägung nachstehender Gründe: …
…
…
|
20 |
Art. 1 Abs. 1 des angefochtenen Beschlusses bestimmt, dass „[d]er Standpunkt, der im Namen der Union anlässlich der 25. Sitzung des durch das [COTIF] eingerichteten Revisionsausschusses zu vertreten ist, … dem Anhang dieses Beschlusses [entspricht]“. |
21 |
Abschnitt 3 des Anhangs des genannten Beschlusses enthält in Bezug auf die verschiedenen Tagesordnungspunkte für die 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses Ausführungen zur Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten, zur Ausübung der Stimmrechte und zum empfohlenen abgestimmten Standpunkt. Teile von Punkt 4 sowie die Punkte 5, 7 und 12 der besagten Tagesordnung betreffen die streitigen Änderungen. |
22 |
Zu Punkt 4 der Tagesordnung für die 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses, der die Teilrevision des COTIF betrifft, sieht Abschnitt 3 des Anhangs des angefochtenen Beschlusses vor: „… Zuständigkeit: geteilt. Ausübung der Stimmrechte: Mitgliedstaaten. Empfohlener abgestimmter Standpunkt: … Die Änderungen des Artikels 12 (Vollstreckung von Urteilen. Arrest und Pfändung) werden befürwortet, da die Begriffsbestimmung für ‚Halter‘ mit dem Unionsrecht in Einklang gebracht wird. …“ |
23 |
Zu Punkt 5 der Tagesordnung für die 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses, der die Teilrevision von Anhang B (CIM) betrifft, heißt es in Abschnitt 3 des Anhangs des angefochtenen Beschlusses: „… Zuständigkeit: geteilt. Ausübung der Stimmrechte: Union für die Artikel 6 und 6a; Mitgliedstaaten für die übrigen Artikel. Empfohlener abgestimmter Standpunkt: Die Änderungen der Artikel 6 und 6a betreffen Unionsrecht, da der Frachtbrief und seine Begleitdokumente im Rahmen der gesundheitspolizeilichen und pflanzenschutzrechtlichen Verfahren verwendet werden. Die Union stimmt mit der Absicht der OTIF überein, vorrangig den elektronischen Frachtbrief zu verwenden. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann der Beschluss dieser Änderungen allerdings unbeabsichtigte Auswirkungen haben. Das vereinfachte zollrechtliche Versandverfahren im Eisenbahnverkehr ist derzeit nur mit Dokumenten in Papierform möglich. Wenn sich die Eisenbahnunternehmen also für den elektronischen Frachtbrief entscheiden, müssen sie das Standardversandverfahren und das neue EDV-gestützte Versandsystem anwenden. Die Kommission hat mit der Einsetzung einer Arbeitsgruppe begonnen, in der die Verwendung elektronischer Frachtpapiere für den Transit gemäß Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates [vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union (ABl. 2013, L 269, S. 1)] erörtert werden soll. Die Auftaktsitzung dieser Arbeitsgruppe wird am 4. und 5. Juni 2014 stattfinden. Die Union unterstützt auch die Absicht, die Begleitdokumente in elektronischer Form zu erstellen. Derzeit gibt es im Unionsrecht allerdings keine Rechtsgrundlage für die Erstellung dieser Dokumente (z. B. Gemeinsames Veterinärdokument für die Einfuhr, Gemeinsames Dokument für die Einfuhr) in elektronischer Form, so dass sie weiterhin in Papierform bereitzustellen sind. Die Kommission hat einen Verordnungsentwurf erarbeitet, der eine elektronische Zertifizierung vorsieht, und der Entwurf wird derzeit im Europäischen Parlament und im Rat erörtert. Diese Verordnung (Verordnung über die amtliche Kontrolle) soll Ende 2015/Anfang 2016 verabschiedet werden, wenngleich bis zu ihrer Durchsetzung eine Übergangsfrist vorgesehen ist. Die Union schlägt daher vor, dass in dieser Sitzung des Revisionsausschusses kein Beschluss zu diesen Punkten gefasst wird und die OTIF ihre Zusammenarbeit mit der Union in dieser Frage fortsetzt, um eine geeignete Lösung für eine künftige Revision der CIM auszuarbeiten, die nach Möglichkeit mit der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 und ihren Durchführungsbestimmungen, die ab 1. Mai 2016 in Kraft treten sollen, zeitlich abgestimmt wird. Bestimmte elektronische Verfahren könnten gemäß Artikel 278 der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 zwischen 2016 und 2020 eingeführt werden. …“ |
24 |
Zu Punkt 7 der Tagesordnung für die 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses, der die Teilrevision von Anhang D (CUV) betrifft, wird in Abschnitt 3 des Anhangs des angefochtenen Beschlusses ausgeführt: „… Zuständigkeit: geteilt. Ausübung der Stimmrechte: Union. Empfohlener Standpunkt der Union: Die Änderungen der Artikel 2 und 9 werden befürwortet, da die Aufgaben des Halters und der für die Instandhaltung zuständigen Stelle im Einklang mit dem Unionsrecht (Richtlinie 2008/110/EG des Europäischen Parlaments und des Rates [vom 16. Dezember 2008 zur Änderung der Richtlinie 2004/49/EG über Eisenbahnsicherheit in der Gemeinschaft (Richtlinie über die Eisenbahnsicherheit) (ABl. 2008, 345, S. 62)]) präzisiert werden. Die von [der Französischen Republik] vorgeschlagene Änderung des Artikels 7 hinsichtlich der Haftung der einen Wagen als Beförderungsmittel zur Verfügung stellenden Person für Schäden, die durch einen Defekt an diesem Wagen verursacht werden, erfordert eine eingehendere Prüfung innerhalb der Union, bevor in der OTIF ein Beschluss gefasst wird. Die Union kann deshalb dem Änderungsvorschlag in dieser Sitzung des Revisionsausschusses nicht zustimmen und schlägt vor, die Beschlussfassung auf die nächste Tagung der Generalversammlung zu vertagen, um diese Frage weiter zu prüfen. Im Zusammenhang mit dem von [der Bundesrepublik] Deutschland vorgeschlagenen neuen Artikel 1a, der der OTIF während der Unions-Koordinierung vorgelegt wurde, vertritt die Union die gleiche Auffassung, d. h., die Beschlussfassung soll auf die nächste Tagung der Generalversammlung vertagt werden, um diese Frage weiter zu prüfen. Zusätzlicher empfohlener Standpunkt der Union: In Dokument CR 25/7 ADD 1, Seite 6, § 8 Buchstabe a ist am Ende folgender Satz hinzuzufügen: ‚Die Änderung des Artikels 9 § 3 Spiegelstrich 1 berührt nicht die Verteilung der Haftung zwischen der [für die Instandhaltung zuständigen Stelle] und dem Halter der Wagen.‘“ |
25 |
Zu Punkt 12 der Tagesordnung für die 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses, der die Teilrevision von Anhang E (CUI) betrifft, heißt es in Abschnitt 3 des Anhangs des angefochtenen Beschlusses: „… Zuständigkeit: geteilt. Ausübung der Stimmrechte: Union. Empfohlener abgestimmter Standpunkt: Ablehnung der Änderungen. Die vom [Internationalen Eisenbahntransportkomitee] angeregten Änderungen betreffen die Ausweitung des Anwendungsbereichs [des Anhangs E (CUI)] auf den Betrieb im Inland, die Einführung verbindlicher allgemeiner Nutzungsbedingungen sowie die Ausdehnung der Haftung des Infrastrukturbetreibers und bedürfen unter Umständen einer eingehenderen Prüfung. Eine hinreichend genaue Untersuchung ihrer Auswirkungen war jedoch nicht möglich, da die Änderungen in keinem Forum der OTIF vor der Sitzung des Revisionsausschusses erörtert wurden. Eine Änderung [von Anhang E (CUI)] ([der] derzeit dem Unionsrecht [entspricht]) in dieser Sitzung des Revisionsausschusses ohne angemessene Vorbereitung erscheint verfrüht.“ |
Anträge der Parteien und Verfahren vor dem Gerichtshof
26 |
Die Bundesrepublik Deutschland beantragt,
|
27 |
Der Rat beantragt,
|
28 |
Durch Entscheidungen des Präsidenten des Gerichtshofs vom 29. Mai 2015 sind die Französische Republik und das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Bundesrepublik Deutschland zugelassen worden, während die Kommission als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge des Rates zugelassen worden ist. |
Zur Klage
29 |
Die Bundesrepublik Deutschland stützt ihre Klage auf drei Gründe. |
30 |
Mit dem ersten Klagegrund wird gerügt, dass die Union unzuständig und der in Art. 5 Abs. 2 Satz 1 EUV geregelte Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung verletzt worden sei. Mit dem zweiten Klagegrund wird ein Verstoß gegen die Begründungspflicht nach Art. 296 AEUV geltend gemacht. Mit dem dritten Klagegrund wird ein Verstoß gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit in Verbindung mit dem Grundsatz eines effektiven Rechtsschutzes beanstandet. |
Zum ersten Klagegrund: Unzuständigkeit der Union und Verletzung des in Art. 5 Abs. 2 Satz 1 EUV geregelten Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung
Vorbringen der Parteien
31 |
Mit ihrem ersten Klagegrund macht die Bundesrepublik Deutschland unterstützt von der Französischen Republik geltend, die Union habe nicht nach Art. 91 AEUV und Art. 218 Abs. 9 AEUV die Zuständigkeit für den Erlass des angefochtenen Beschlusses, soweit er die streitigen Änderungen betreffe, besessen. Der Rat habe diesen Beschluss daher unter Verstoß gegen den in Art. 5 Abs. 2 Satz 1 EUV geregelten Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung erlassen. |
32 |
Die Bundesrepublik Deutschland betont, dass auf dem Gebiet des Verkehrs, dem das COTIF im Allgemeinen und die streitigen Änderungen im Besonderen zuzuordnen seien, die Union und die Mitgliedstaaten sowohl nach innen als grundsätzlich auch nach außen gemäß Art. 4 Abs. 2 Buchst. g AEUV eine geteilte Zuständigkeit hätten. |
33 |
Um festzustellen, ob der Rat dafür zuständig sei, gemäß Art. 218 Abs. 9 AEUV einen im Namen der Union in einem internationalen Gremium zu vertretenden Standpunkt anzunehmen, wenn der von einem solchen Gremium erlassene Akt die Änderung einer gemischten Übereinkunft betreffe, was vorliegend der Fall sei, sei zu prüfen, ob sich die vorgeschlagenen Änderungen auf Bestimmungen der Übereinkunft bezögen, die in die Zuständigkeit der Union fielen. Sei dem nicht so, könne ein Beschluss zur Festlegung des Standpunkts der Union nicht ergehen. |
34 |
Bei dieser Prüfung komme es darauf an, ob, wie in Rn. 64 des Urteils vom 7. Oktober 2014, Deutschland/Rat (C‑399/12, EU:C:2014:2258), präzisiert, der Beschluss des fraglichen internationalen Gremiums unmittelbare Auswirkung auf den Besitzstand der Union in dem Sinne habe, dass es gemeinsame Regeln der Union gebe, die im Sinne der ausgehend vom Urteil vom 31. März 1971, Kommission/Rat (22/70, EU:C:1971:32), entwickelten Rechtsprechung Gefahr liefen, durch den betreffenden Beschluss beeinträchtigt oder in ihrer Tragweite verändert zu werden. Voraussetzung für das Bestehen einer solchen Gefahr sei somit, dass die Änderungen der Bestimmungen einer internationalen Übereinkunft ein Gebiet beträfen, auf dem die Union bereits gemeinsame Regeln erlassen habe. |
35 |
Die Bundesrepublik Deutschland weist darauf hin, dass der Rat, dem im vorliegenden Fall der Nachweis obliege, dass die streitigen Änderungen ein Gebiet beträfen, das in den Anwendungsbereich bestehender Vorschriften des Unionsrechts falle, einen solchen Nachweis im angefochtenen Beschluss nicht erbracht habe. Jedenfalls habe die Union auf dem Gebiet des privaten Vertragsrechts im Bereich der grenzüberschreitenden Eisenbahnbeförderung von Gütern und Personen, dem die streitigen Änderungen zuzuordnen seien, bislang von ihrer internen Zuständigkeit für den Erlass gemeinsamer Regeln keinen Gebrauch gemacht. Die Französische Republik fügt hinzu, dass in den Bereichen, auf die sich die streitigen Änderungen bezögen, keine Initiative der Union geplant sei. |
36 |
Die Bundesrepublik Deutschland räumt ein, dass in einem Bereich, der in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten falle, die im Rahmen eines internationalen Gremiums zu vertretenden Standpunkte nach dem in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit Gegenstand einer Koordinierung sein könnten. Ein Beschluss des Rates nach Art. 218 Abs. 9 AEUV könne in diesem Rahmen jedoch nicht ergehen. |
37 |
Ferner ist die Bundesrepublik Deutschland der Ansicht, dass die Union auf dem Gebiet des privaten Transportvertragsrechts, für das eine geteilte Zuständigkeit bestehe, eine Zuständigkeit nach außen nicht ausüben könne, solange sie nicht von ihrer Zuständigkeit nach innen Gebrauch gemacht habe. Andernfalls bestehe die Gefahr einer Umgehung des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens und einer Verletzung der Rechte des Europäischen Parlaments. Berücksichtige man nämlich auch die „Trennungsklausel“ in Art. 2 der Beitrittsvereinbarung, hätten die Akte des OTIF‑Revisionsausschusses im Unionsrecht dieselben Wirkungen wie Verordnungen und Richtlinien. |
38 |
Die Bundesrepublik Deutschland macht unterstützt von der Französischen Republik auch geltend, im Bereich des Verkehrs, für den die Zuständigkeit zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten geteilt sei, bildeten die in Art. 3 Abs. 2 AEUV vorgesehenen Fälle, also diejenigen, in denen die Union über eine ausschließliche Außenkompetenz verfüge, die einzigen Konstellationen, in denen die Union eine internationale Übereinkunft schließen könne. Vorliegend ergebe sich aber eine ausschließliche Außenkompetenz aus keinem der in Art. 3 Abs. 2 AEUV vorgesehenen Fälle. Dieser Mitgliedstaat fügt hinzu, dass die Union außerhalb dieser Fälle keine Außenkompetenz habe. |
39 |
Was genauer das vom Rat angeführte Urteil vom 30. Mai 2006, Kommission/Irland (C‑459/03, EU:C:2006:345), betrifft, weist die Bundesrepublik Deutschland darauf hin, dass die Tragweite dieses Urteils vom Gerichtshof in seinem Urteil vom 8. März 2011, Lesoochranárske zoskupenie (C‑240/09, EU:C:2011:125), eingegrenzt worden sei. Nach Ansicht der Französischen Republik können in der vorliegenden Rechtssache aus dem ersten dieser Urteile keine Erkenntnisse gewonnen werden, da der Gerichtshof darin der Besonderheit des Umweltbereichs Rechnung getragen habe, in dem die Verträge der Union eine ausdrückliche Außenkompetenz verliehen hätten. Anders als im Umweltbereich zähle aber zu den Zielen der Verkehrspolitik nicht die Entwicklung einer internationalen Politik. |
40 |
Der Rat macht in erster Linie geltend, die Union besitze nach Art. 3 Abs. 2 letzte Variante AEUV und der aus dem Urteil vom 31. März 1971, Kommission/Rat (22/70, EU:C:1971:32), hervorgegangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs eine ausschließliche Zuständigkeit für die Festlegung eines Standpunkts zu den anlässlich der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses vorgelegten streitigen Änderungen. |
41 |
Hilfsweise bringt der Rat unterstützt von der Kommission unter Verweis auf das Gutachten 2/00 (Protokoll von Cartagena über die biologische Sicherheit) vom 6. Dezember 2001 (EU:C:2001:664, Rn. 44 bis 47) sowie auf die Urteile vom 7. Oktober 2004, Kommission/Frankreich (C‑239/03, EU:C:2004:598, Rn. 30), und vom 30. Mai 2006, Kommission/Irland (C‑459/03, EU:C:2006:345, Rn. 95), vor, die Union sei für die Annahme eines solchen Standpunkts gemäß Art. 218 Abs. 9 AEUV aufgrund einer Zuständigkeit, die sie mit ihren Mitgliedstaaten teile, zuständig, auch wenn es keine Unionsregeln auf dem Gebiet des privaten Transportvertragsrechts gebe. Beide Organe vertreten die Auffassung, dass das auswärtige Handeln der Union entgegen dem Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland nicht auf die Bereiche beschränkt sei, die bereits Gegenstand gemeinsamer Regeln der Union seien, sondern sich auch auf Angelegenheiten erstrecke, die noch nicht oder nur ganz partiell Gegenstand einer Regelung auf Unionsebene seien, die aus diesem Grund nicht berührt sein könne. Auch in letzterem Fall sei die Union für den Erlass eines Beschlusses nach Art. 218 Abs. 9 AEUV zuständig. Dabei handle sie aufgrund einer geteilten Außenkompetenz, die gemäß dem dem EU-Vertrag und dem AEU-Vertrag beigefügten Protokoll (Nr. 25) über die Ausübung der geteilten Zuständigkeit auf die spezifischen Punkte beschränkt sei, die durch den betreffenden Unionsbeschluss geregelt würden. |
42 |
Die Kommission fügt hinzu, das Bestehen einer geteilten Außenkompetenz hänge nicht von der Ausübung der geteilten Zuständigkeit nach innen ab, sondern folge unmittelbar aus den Verträgen, genauer aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 4 Abs. 2 Buchst. g AEUV. In der Tat sehe keine Bestimmung der Verträge über die geteilten Zuständigkeiten vor, dass die erstmalige Ausübung einer solchen Zuständigkeit nur zum Erlass von Unionsakten führen dürfe, die nicht die Außenbeziehungen beträfen. |
Würdigung durch den Gerichtshof
43 |
Mit ihrem ersten Klagegrund macht die Bundesrepublik Deutschland im Wesentlichen geltend, dass Punkt 4 der Tagesordnung für die 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses, soweit er die Änderung von Art. 12 COTIF betreffe, sowie die die Änderungen der Anhänge B (CIM), D (CUV) und E (CUI) des COTIF betreffenden Punkte 5, 7 und 12 dieser Tagesordnung, zu denen mit dem angefochtenen Beschluss die im Namen der Union zu vertretenden Standpunkte festgelegt worden seien, nicht in die Außenkompetenz der Union fielen, da diese zuvor keine gemeinsamen Regeln erlassen habe, die durch die genannten Änderungen beeinträchtigt werden könnten. Somit komme es dem Rat nicht zu, diese Standpunkte nach Art. 218 Abs. 9 AEUV festzulegen. Indem er dies getan habe, habe er unter Verstoß gegen den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung nach Art. 5 Abs. 2 Satz 1 EUV gehandelt. |
44 |
Eingangs ist daran zu erinnern, dass nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 EUV „[f]ür die Abgrenzung der Zuständigkeiten der Union … der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung [gilt]“. In Art. 5 Abs. 2 EUV heißt es zum einen, dass „[n]ach [diesem] Grundsatz … die Union nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig [wird], die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben“, und zum anderen, dass „[a]lle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten … bei den Mitgliedstaaten [verbleiben]“. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs gilt dieser Grundsatz sowohl für internes als auch für völkerrechtliches Handeln der Union (Gutachten 2/94 [Beitritt der Gemeinschaft zur EMRK] vom 28. März 1996, EU:C:1996:140, Rn. 24). |
45 |
Wie der Gerichtshof u. a. im Gutachten 1/03 (Neues Übereinkommen von Lugano) vom 7. Februar 2006 (EU:C:2006:81, Rn. 114) ausgeführt hat, kann die Zuständigkeit der Union für den Abschluss internationaler Übereinkünfte nicht nur aus einer ausdrücklichen Übertragung durch die Verträge resultieren, sondern sich auch implizit aus anderen Vertragsbestimmungen sowie aus Rechtsakten ergeben, die im Rahmen dieser Bestimmungen von den Unionsorganen erlassen wurden. Insbesondere verfügt die Union immer dann, wenn das Unionsrecht ihren Organen im Hinblick auf die Verwirklichung eines bestimmten Ziels interne Zuständigkeiten verleiht, über die Befugnis, die zur Erreichung dieses Ziels erforderlichen völkerrechtlichen Verpflichtungen einzugehen, auch wenn es insoweit an einer ausdrücklichen Bestimmung fehlt. Letzteres ist nunmehr in Art. 216 Abs. 1 AEUV geregelt (Gutachten 1/13 [Beitritt von Drittstaaten zum Haager Übereinkommen] vom 14. Oktober 2014, EU:C:2014:2303, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
46 |
Außerdem sind nach gefestigter Rechtsprechung des Gerichtshofs die Fragen zu trennen, ob eine Außenkompetenz der Union besteht und ob es sich gegebenenfalls dabei um eine ausschließliche oder eine geteilte Zuständigkeit handelt (Gutachten 1/76 [Übereinkommen über die Errichtung eines Europäischen Stilllegungsfonds für die Binnenschifffahrt] vom 26. April 1977, EU:C:1977:63, Rn. 3 und 4, Gutachten 2/91 [Übereinkommen Nr. 170 der IAO] vom 19. März 1993, EU:C:1993:106, Rn. 13 bis 18, Gutachten 1/03 [Neues Übereinkommen von Lugano] vom 7. Februar 2006, EU:C:2006:81, Rn. 114 und 115, und Urteil vom 30. Mai 2006, Kommission/Irland, C‑459/03, EU:C:2006:345, Rn. 93 und 94; vgl. ebenfalls in diesem Sinne Gutachten 2/00 [Protokoll von Cartagena über die biologische Sicherheit] vom 6. Dezember 2001, EU:C:2001:664, Rn. 44 bis 47). |
47 |
Diese Unterscheidung zwischen dem Bestehen einer Außenkompetenz der Union und ihrer Ausschließlichkeit oder Nichtausschließlichkeit kommt auch im AEU-Vertrag zum Ausdruck. |
48 |
Nach Art. 216 Abs. 1 AEUV „[kann d]ie Union … mit einem oder mehreren Drittländern oder einer oder mehreren internationalen Organisationen eine Übereinkunft schließen, wenn dies in den Verträgen vorgesehen ist oder wenn der Abschluss einer Übereinkunft im Rahmen der Politik der Union entweder zur Verwirklichung eines der in den Verträgen festgesetzten Ziele erforderlich oder in einem verbindlichen Rechtsakt der Union vorgesehen ist oder aber gemeinsame Vorschriften beeinträchtigen oder deren Anwendungsbereich ändern könnte“. |
49 |
Aus dem Wortlaut dieser Vorschrift, der nicht danach unterscheidet, ob die Außenkompetenz der Union eine ausschließliche oder eine geteilte ist, ergibt sich unmittelbar, dass die Union in vier Fällen über eine Außenkompetenz verfügt. Entgegen dem Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland ist die Variante, dass der Abschluss einer Übereinkunft gemeinsame Vorschriften beeinträchtigen oder deren Anwendungsbereich ändern könnte, wobei es sich um einen Fall handelt, in dem die Zuständigkeit der Union nach Art. 3 Abs. 2 AEUV eine ausschließliche ist, nur einer dieser Fälle. |
50 |
Außerdem ergibt sich aus einem Vergleich des Wortlauts von Art. 216 Abs. 1 AEUV mit dem von Art. 3 Abs. 2 AEUV, dass sich die Fälle, in denen die Union gemäß Art. 216 Abs. 1 AEUV über eine Außenkompetenz verfügt, nicht auf die verschiedenen Varianten des Art. 3 Abs. 2 AEUV beschränken, in denen die Union eine ausschließliche Außenkompetenz besitzt. |
51 |
Daraus folgt, dass entgegen dem Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland eine Außenkompetenz der Union außerhalb der in Art. 3 Abs. 2 AEUV vorgesehenen Fälle bestehen kann. |
52 |
In diesem Zusammenhang spiegelt die Außenkompetenz der Union gemäß der zweiten Variante des Art. 216 Abs. 1 AEUV, die dem Fall entspricht, dass der Abschluss einer Übereinkunft „im Rahmen der Politik der Union … zur Verwirklichung eines der in den Verträgen festgesetzten Ziele erforderlich“ ist, die oben in Rn. 45 angeführte Rechtsprechung des Gerichtshofs wider. Die Außenkompetenz der Union nach dieser zweiten Variante ist im Unterschied zur vierten Variante des Art. 216 Abs. 1 AEUV nicht an die Voraussetzung geknüpft, dass zuvor Unionsvorschriften erlassen wurden, die beeinträchtigt werden könnten. |
53 |
Somit ist im vorliegenden Fall zu prüfen, ob es im Sinne von Art. 216 Abs. 1 AEUV „im Rahmen der Politik der Union … zur Verwirklichung eines der in den Verträgen festgesetzten Ziele erforderlich“ ist, dass die Union völkerrechtliche Verpflichtungen hinsichtlich der streitigen Änderungen eingeht. Sollte dies der Fall sein, würde die Union über die erforderliche Außenkompetenz für die Festlegung von Standpunkten zu den streitigen Änderungen verfügen, ob sie nun zuvor in den betroffenen Bereichen gemeinsame Vorschriften, die durch diese Änderungen beeinträchtigt werden könnten, erlassen haben mag oder nicht. |
54 |
Insoweit ist festzustellen, dass der angefochtene Beschluss die Festlegung des Standpunkts bezweckt, der im Namen der Union anlässlich der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses zu bestimmten Änderungen des COTIF zu vertreten ist. Wie sich aus Art. 2 COTIF ergibt, „ist es [Ziel der OTIF], den internationalen Eisenbahnverkehr in jeder Hinsicht zu fördern, zu verbessern und zu erleichtern“, indem insbesondere einheitliche Rechtsvorschriften für verschiedene Bereiche des internationalen Eisenbahnverkehrs aufgestellt werden. |
55 |
Die streitigen Änderungen beziehen sich zum einen auf die einheitlichen Rechtsvorschriften für den Vertrag über die internationale Eisenbahnbeförderung von Gütern, für Verträge über die Verwendung von Wagen im internationalen Eisenbahnverkehr bzw. für den Vertrag über die Nutzung der Infrastruktur im internationalen Eisenbahnverkehr und zum anderen auf die Vorschrift des COTIF über die Vollstreckung von aufgrund dieses Übereinkommens ergangenen Urteilen und über die Belegung von Eisenbahnfahrzeugen mit Arrest oder ihre Pfändung. |
56 |
Damit betreffen sie das private Vertragsrecht im Bereich des internationalen Eisenbahnverkehrs, wobei es sich um ein Gebiet handelt, das, wie alle Parteien eingeräumt haben, unter eine Unionspolitik fällt, nämlich die gemeinsame Verkehrspolitik, die Gegenstand des Titels VI („Der Verkehr“) des Dritten Teils („Die internen Politiken und Maßnahmen der Union“) des AEU-Vertrags ist, und bei dem somit davon auszugehen ist, dass es mit einem der Ziele des AEU-Vertrags korrespondiert. |
57 |
Titel VI des Dritten Teils des AEU-Vertrags enthält u. a. Art. 91 Abs. 1 AEUV. Darin ist vorgesehen, dass das Europäische Parlament und der Rat zur Durchführung einer gemeinsamen Verkehrspolitik unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Verkehrs gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren und nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses sowie des Ausschusses der Regionen u. a. „a) für den internationalen Verkehr aus oder nach dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats oder für den Durchgangsverkehr durch das Hoheitsgebiet eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gemeinsame Regeln aufstellen“ und „d) alle sonstigen zweckdienlichen Vorschriften erlassen“. Dieser Titel umfasst auch Art. 100 AEUV, nach dessen Abs. 1 er u. a. für die Beförderungen im Eisenbahnverkehr gilt. |
58 |
Somit ist, den Ausführungen des Generalanwalts in Nr. 103 seiner Schlussanträge folgend, festzustellen, dass die streitigen Änderungen mit der Verwirklichung der Ziele des AEU-Vertrags im Rahmen der gemeinsamen Verkehrspolitik zu tun haben. |
59 |
Insbesondere gelten die in Art. 91 Abs. 1 Buchst. a AEUV vorgesehenen gemeinsamen Regeln „für den internationalen Verkehr aus oder nach dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats oder für den Durchgangsverkehr durch das Hoheitsgebiet eines oder mehrerer Mitgliedstaaten“. In seinem Urteil vom 31. März 1971, Kommission/Rat (22/70, EU:C:1971:32, Rn. 26 und 27), hat der Gerichtshof für ebendiesen Bereich festgestellt, dass diese Bestimmung, die für den im Unionsgebiet gelegenen Streckenteil auch den Verkehr aus oder nach dritten Staaten betrifft und die daher voraussetzt, dass sich die Zuständigkeit der Union auf Beziehungen erstreckt, die dem internationalen Recht unterliegen, deshalb in dem betreffenden Bereich die Notwendigkeit einschließt, mit den beteiligten dritten Ländern Abkommen zu schließen. |
60 |
Mit den Bestimmungen des COTIF und seiner Anhänge, auf die sich die streitigen Änderungen beziehen, sollen harmonisierte Regeln auf internationaler Ebene geschaffen werden, auch für den internationalen Verkehr aus oder nach dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats oder für den Durchgangsverkehr durch das Hoheitsgebiet eines oder mehrerer Mitgliedstaaten, für die außerhalb des Unionsgebiets gelegenen Streckenteile und grundsätzlich auch für die im Unionsgebiet gelegenen Streckenteile. Deshalb ist davon auszugehen, dass es zur Verwirklichung der Ziele der gemeinsamen Verkehrspolitik im Rahmen der Zuständigkeit, die der Union nach Art. 91 Abs. 1 AEUV zugewiesen ist und die auch einen externen Aspekt umfasst (vgl. oben, Rn. 59), beiträgt, dass die Union einen Standpunkt zu den genannten Änderungen einnimmt. Diese Einnahme eines Standpunkts ist folglich im Sinne des Art. 216 Abs. 1 AEUV im Rahmen der Politik der Union zur Verwirklichung eines der in den Verträgen festgesetzten Ziele erforderlich. |
61 |
In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist erstens das Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik zu verwerfen, wonach es in einem Bereich, in dem die Zuständigkeit zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten geteilt sei, außerhalb der Fälle des Art. 3 Abs. 2 AEUV keine Außenkompetenz der Union geben könne. |
62 |
Sollte, zweitens, das Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik, mit dem das Bestehen einer Außenkompetenz der Union im vorliegenden Fall in Abrede gestellt werden soll, dahin zu verstehen sein, dass die Union auf dem Gebiet des Verkehrs, für das sie nach Art. 4 Abs. 2 Buchst. g AEUV die Zuständigkeit mit ihren Mitgliedstaaten teilt, vor einem Tätigwerden nach innen durch den Erlass gemeinsamer Regeln in den Bereichen, in denen völkerrechtliche Verpflichtungen eingegangen wurden, nach außen nicht handeln könne, so kann dieses Vorbringen keinen Erfolg haben. |
63 |
Der Gerichtshof hat nämlich im Urteil vom 30. Mai 2006, Kommission/Irland (C‑459/03, EU:C:2006:345, Rn. 95 und die dort angeführte Rechtsprechung), in der Frage, ob eine Bestimmung einer gemischten Übereinkunft auf dem Gebiet des Umweltschutzes, wo die Zuständigkeit zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten geteilt ist, in die Zuständigkeit der Union fiel, entschieden, dass die Union Übereinkünfte auf dem genannten Gebiet selbst dann abschließen kann, wenn die spezifischen von diesen Übereinkünften erfassten Angelegenheiten noch nicht oder nur ganz partiell Gegenstand einer internen Regelung sind, die aus diesem Grund nicht berührt sein kann. |
64 |
Entgegen dem Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland hat der Gerichtshof die Tragweite dieser Rechtsprechung im Urteil vom 8. März 2011, Lesoochranárske zoskupenie (C‑240/09, EU:C:2011:125), nicht eingegrenzt. Die dort aufgeworfene Frage betraf nämlich, wie sich aus den Rn. 34 und 35 jenes Urteils ergibt, nicht das Bestehen einer Außenkompetenz der Union im Umweltbereich, sondern es ging darum, ob die Union in dem spezifischen Bereich, der von einer Bestimmung einer gemischten Übereinkunft erfasst wurde, ihre Zuständigkeiten ausgeübt und Vorschriften über die Erfüllung der sich daraus ergebenden Verpflichtungen erlassen hatte. |
65 |
Die vorstehend in den Rn. 63 und 64 angeführte Rechtsprechung bezieht sich zwar auf den Bereich der Umwelt, in dem der Union im Unterschied zum Bereich des Verkehrs nach Art. 191 Abs. 1 vierter Gedankenstrich AEUV eine ausdrückliche Außenkompetenz zugewiesen ist. |
66 |
Allerdings ergibt sich fortan aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 AEUV, der die geteilten Zuständigkeiten betrifft, dass wenn „die Verträge der Union für einen bestimmten Bereich eine mit den Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit [übertragen], … die Union und die Mitgliedstaaten in diesem Bereich gesetzgeberisch tätig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen [können]“. Nach dieser Bestimmung hängt das Bestehen einer mit ihren Mitgliedstaaten geteilten Außenkompetenz der Union nicht davon ab, dass es in den Verträgen eine Bestimmung gibt, die der Union eine solche Außenkompetenz ausdrücklich verleiht. |
67 |
Dass das Bestehen einer Außenkompetenz der Union keinesfalls davon abhängt, dass die Union im Vorfeld ihre interne Rechtsetzungszuständigkeit in dem betreffenden Bereich ausgeübt hat, geht auch aus Rn. 243 des Gutachtens 2/15 (Freihandelsabkommen mit Singapur) vom 16. Mai 2017 (EU:C:2017:376) hervor, wonach die maßgeblichen Bestimmungen des betreffenden Abkommens über andere ausländische Investitionen als Direktinvestitionen in die zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit fallen, obwohl, wie sich aus den Rn. 229 und 230 dieses Gutachtens ergibt, zwischen den Verfahrensbeteiligten unstreitig war, dass die Union nach innen in keiner Weise durch den Erlass von Regeln des Sekundärrechts in diesem Bereich tätig geworden war. |
68 |
Zwar stellte der Gerichtshof in Rn. 244 dieses Gutachtens fest, dass die maßgeblichen Bestimmungen des betreffenden Abkommens über andere ausländische Investitionen als Direktinvestitionen, die in die zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit fallen, nicht von der Union allein genehmigt werden konnten. Damit stellte er jedoch nur auf die vom Rat im damaligen Gutachtenverfahren vorgetragene Unmöglichkeit ab, die erforderliche Ratsmehrheit dafür zu erreichen, dass die Union die in diesem Bereich mit den Mitgliedstaaten geteilte Außenkompetenz allein ausüben konnte. |
69 |
Die Bundesrepublik Deutschland kann auch aus dem Urteil vom 7. Oktober 2014, Deutschland/Rat (C‑399/12, EU:C:2014:2258), kein Argument herleiten. Wie sich aus den Rn. 51 und 52 jenes Urteils ergibt, berücksichtigte der Gerichtshof den Umstand, dass der Bereich der gemeinsamen Agrarpolitik und speziell die gemeinsame Marktorganisation für Wein vom Unionsgesetzgeber im Rahmen der auf Art. 43 AEUV beruhenden Zuständigkeit in sehr weiten Teilen geregelt worden ist, für die Feststellung, ob die Union Art. 218 Abs. 9 AEUV heranziehen konnte, obwohl sie keine Partei der internationalen Übereinkunft war, um die es in der damaligen Rechtssache ging. Eine entsprechende Frage stellt sich aber in der vorliegenden Rechtssache nicht, da die Union dem COTIF mit Wirkung vom 1. Juli 2011 beigetreten ist. |
70 |
Drittens kann auch das Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland keinen Erfolg haben, mit dem eine Umgehung des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens und eine Verletzung der Rechte des Europäischen Parlaments geltend gemacht werden, weil der Rat Art. 218 Abs. 9 AEUV in Bereichen herangezogen habe, in denen die Union bislang keine internen Vorschriften gemäß diesem Verfahren erlassen habe. |
71 |
Dieses Vorbringen ist nicht nur aufgrund der Erwägungen in den Rn. 63 bis 69 des vorliegenden Urteils, sondern auch aufgrund des Wortlauts von Art. 218 Abs. 9 AEUV zurückzuweisen, nach dem der Rat ermächtigt ist, auf Vorschlag der Kommission oder des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik einen Beschluss zu erlassen „zur Festlegung der Standpunkte, die im Namen der Union in einem durch eine Übereinkunft eingesetzten Gremium zu vertreten sind, sofern dieses Gremium rechtswirksame Akte … zu erlassen hat“. In der Tat beschränkt Art. 218 Abs. 9 AEUV das Handeln der Union nicht auf die Fälle, in denen sie zuvor interne Vorschriften gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen hat. |
72 |
Die vorstehenden Erwägungen führen zu dem Ergebnis, dass die die streitigen Änderungen betreffenden Tagesordnungspunkte für die 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses, zu denen der Rat mit dem angefochtenen Beschluss die im Namen der Union zu vertretenden Standpunkte festgelegt hat, in die Außenkompetenz der Union fallen. Somit hat der Rat mit der Annahme dieses Beschlusses nicht gegen den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung gemäß Art. 5 Abs. 2 Satz 1 EUV verstoßen. |
73 |
Demnach ist der erste Klagegrund der Bundesrepublik Deutschland zu verwerfen. |
Zum zweiten Klagegrund: Verstoß gegen die Begründungspflicht nach Art. 296 AEUV
Vorbringen der Parteien
74 |
Im Rahmen ihres zweiten Klagegrundes macht die Bundesrepublik Deutschland geltend, der angefochtene Beschluss sei mit einem Begründungsmangel behaftet, da der Rat darin nicht im Geringsten ausgeführt habe, dass die Punkte, zu denen ein Standpunkt der Union festgelegt worden sei, einen im Unionsrecht bereits weitgehend geregelten Bereich beträfen. Eine klare Abgrenzung der Zuständigkeiten sei besonders bei gemischten Übereinkünften geboten, weil zum einen die Bestimmungen dieser Übereinkünfte sowohl im Unionsrecht als auch im nationalen Recht gälten und um zum anderen die Befugnisse der jeweiligen Akteure in den Gremien der internationalen Organisationen zu bestimmen. Im vorliegenden Fall habe der Rat aber kein Instrument des Unionsrechts in dem betroffenen Bereich angeführt und sich nur auf Instrumente im Zusammenhang mit dem öffentlichen Recht bezogen, obwohl die streitigen Änderungen unter das private Transportvertragsrecht fielen. |
75 |
Darüber hinaus habe der Rat im angefochtenen Beschluss keinerlei materielle Rechtsgrundlage angegeben, auf der eine materielle Außenkompetenz der Union gründe. Art. 91 AEUV, auf den Bezug genommen werde, verleihe der Union nur eine interne Zuständigkeit. |
76 |
Im Übrigen hat die Bundesrepublik Deutschland in der mündlichen Verhandlung beanstandet, dass der Rat dort die zweite Variante von Art. 216 Abs. 1 AEUV herangezogen habe, um das Bestehen einer Außenkompetenz der Union zu begründen, während er diese Bestimmung im angefochtenen Beschluss nicht erwähnt habe. |
77 |
Der Rat bringt unterstützt von der Kommission vor, dass sich die Begründung für das Vorliegen der Unionskompetenz aus dem angefochtenen Beschluss eindeutig ergebe. Die Änderungsanträge zum COTIF und seinen Anhängen, die das Unionsrecht beträfen, und die Unionsvorschriften, die durch die streitigen Änderungen beeinträchtigt werden könnten, würden in diesem Beschluss angegeben. Außerdem sei auch die Begründung in den Arbeitsdokumenten der OTIF zu berücksichtigen. Dass die Bundesrepublik Deutschland die angeführten Vorschriften des Unionsrechts für nicht relevant halte, könne nicht an der ausreichenden Begründung des angefochtenen Beschlusses zweifeln lassen. Jedenfalls genüge der Rat in einem Bereich, für den zumindest eine zwischen der Union und den Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit bestehe, seiner Begründungspflicht schon durch einen Verweis auf die geeignete Rechtsgrundlage und durch eine Beschreibung seines Standpunkts. |
Würdigung durch den Gerichtshof
78 |
Aus der Prüfung des ersten Klagegrundes der Bundesrepublik Deutschland ergibt sich, dass die Tagesordnungspunkte für die 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses, die die streitigen Änderungen betreffen, in die Zuständigkeit der Union fallen, ohne dass dafür zu prüfen wäre, ob es in dem betroffenen Bereich eine interne Regelung der Union gibt, die durch diese Änderungen beeinträchtigt würde. Daher ist das Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland zu verwerfen, mit dem sie beanstandet, der Rat habe in dem angefochtenen Beschluss nicht begründet, dass sich die besagten Änderungen auf einen von der Union bereits weitgehend geregelten Bereich bezögen. |
79 |
Zu der behaupteten Notwendigkeit, im angefochtenen Beschluss außer Art. 91 Abs. 1 AEUV die zweite Variante von Art. 216 Abs. 1 AEUV anzugeben, ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung die in Art. 296 AEUV verankerte Begründungspflicht verlangt, dass alle dort angesprochenen Rechtsakte eine Darstellung der Gründe enthalten, die das Organ zu ihrem Erlass veranlasst haben, so dass der Gerichtshof seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann und sowohl die Mitgliedstaaten als auch die beteiligten Dritten erfahren, unter welchen Bedingungen die Unionsorgane den AEU-Vertrag angewandt haben (Urteil vom 1. Oktober 2009, Kommission/Rat, C‑370/07, EU:C:2009:590, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
80 |
Die Angabe der Rechtsgrundlage ist im Hinblick auf den in Art. 5 Abs. 2 EUV verankerten Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung geboten, wonach die Union nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig wird, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben, und zwar sowohl für internes als auch für völkerrechtliches Unionshandeln. Die Wahl der geeigneten Rechtsgrundlage hat nämlich verfassungsrechtliche Bedeutung, da die Union, die nur über begrenzte Einzelermächtigungen verfügt, die Rechtsakte, die sie erlässt, mit den Bestimmungen des AEU-Vertrags verknüpfen muss, die sie tatsächlich hierzu ermächtigen (Urteil vom 25. Oktober 2017, Kommission/Rat [WRC‑15], C‑687/15, EU:C:2017:803, Rn. 48 und 49). |
81 |
Die Angabe der Rechtsgrundlage ist auch von besonderer Bedeutung für die Wahrung der Rechte der vom Verfahren für den Erlass eines Rechtsakts betroffenen Unionsorgane (Urteil vom 25. Oktober 2017, Kommission/Rat [WRC‑15], C‑687/15, EU:C:2017:803, Rn. 50). |
82 |
Sie ist außerdem im Hinblick auf die Begründungspflicht nach Art. 296 AEUV erforderlich. Diese Pflicht, die insbesondere deshalb besteht, damit der Gerichtshof eine gerichtliche Kontrolle ausüben kann, muss grundsätzlich für jede Handlung der Union gelten, die Rechtswirkungen entfaltet (Urteil vom 25. Oktober 2017, Kommission/Rat [WRC‑15], C‑687/15, EU:C:2017:803, Rn. 52). |
83 |
Der Gerichtshof hat auch entschieden, dass das Gebot der Rechtssicherheit verlangt, dass jede Handlung, die rechtliche Wirkungen erzeugen soll, ihre Bindungswirkung einer Bestimmung des Unionsrechts entnimmt, die ausdrücklich als Rechtsgrundlage bezeichnet sein muss und die Rechtsform vorschreibt, in der die Handlung vorzunehmen ist (Urteile vom 1. Oktober 2009, Kommission/Rat, C‑370/07, EU:C:2009:590, Rn. 39, und vom 25. Oktober 2017, Kommission/Rat [WRC‑15], C‑687/15, EU:C:2017:803, Rn. 53). |
84 |
Ferner stellt nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs das behauptete Versäumnis einer Bezugnahme auf eine bestimmte Vorschrift des Vertrags, wie im vorliegenden Fall Art. 216 Abs. 1 AEUV, auf den die Bundesrepublik Deutschland Bezug nimmt, keinen wesentlichen Mangel dar, wenn die Rechtsgrundlage der betreffenden Handlung anhand anderer Bestandteile der Handlung ermittelt werden kann und die Betroffenen und der Gerichtshof nicht über die genaue Rechtsgrundlage im Unklaren gelassen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Oktober 2017, Kommission/Rat [WRC‑15], C‑687/15, EU:C:2017:803, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
85 |
Dies ist hier der Fall, denn die materielle und die verfahrensrechtliche Rechtsgrundlage des angefochtenen Beschlusses können eindeutig bestimmt werden. |
86 |
Erstens ist nämlich festzustellen, dass der Rat durch die ausdrückliche Bezugnahme auf Art. 91 AEUV in dem angefochtenen Beschluss dessen materielle Rechtsgrundlage darin korrekt angegeben hat. Soweit die Bundesrepublik Deutschland damit argumentiert, dass Art. 91 AEUV der Union keine Außenkompetenz verleihen könne, genügt der Hinweis, dass dieses Argument das Bestehen an sich einer Zuständigkeit betrifft und deshalb nicht mit Erfolg für einen Klagegrund geltend gemacht werden kann, mit dem ein Verstoß gegen die Begründungspflicht gerügt wird. |
87 |
Zweitens ist festzustellen, dass der Rat den angefochtenen Beschluss im Hinblick auf das in Art. 216 Abs. 1 zweite Variante AEUV vorgesehene Erforderlichkeitskriterium hinreichend begründet hat, auch unter Berücksichtigung dessen, dass sich die Begründung, die diese zweite Variante erfordert, von derjenigen unterscheidet, die Art. 3 Abs. 2 AEUV verlangt. |
88 |
In der Tat stellen der erste und der dritte Satz des elften Erwägungsgrundes des angefochtenen Beschlusses in Verbindung mit den oben in den Rn. 22 bis 25 wiedergegebenen Gründen für die Formulierung der Standpunkte, die im Anhang dieses Beschlusses im Namen der Union zu den Tagesordnungspunkten 4, 5, 7 und 12 für die 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses festgelegt wurden, klar die Erforderlichkeit heraus, darauf zu achten, dass die Kohärenz zwischen den völkerrechtlichen Vorschriften auf dem Gebiet des internationalen Eisenbahnverkehrs und dem Unionsrecht sichergestellt ist, und damit die Erforderlichkeit eines auswärtigen Handelns der Union zu diesem Zweck. |
89 |
Im Übrigen zählt zwar Art. 216 Abs. 1 AEUV die verschiedenen Fälle auf, in denen die Union zum Abschluss einer internationalen Übereinkunft befugt ist, doch im Unterschied zu Art. 352 AEUV enthält er hierfür keine Form- oder Verfahrensvorschriften. Die Form der Handlung und das zu befolgende Verfahren sind daher anhand anderer Vorschriften der Verträge zu bestimmen. |
90 |
Drittens ist festzustellen, dass Art. 218 Abs. 9 AEUV, der als verfahrensrechtliche Rechtsgrundlage für den angefochtenen Beschluss genannt wird, das Verfahren bestimmt, das bei der Beschlussfassung zu befolgen ist. |
91 |
Unter diesen Bedingungen ist viertens festzustellen, dass sich die vorliegende Rechtssache von derjenigen unterscheidet, in der das Urteil vom 25. Oktober 2017, Kommission/Rat (WRC‑15) (C‑687/15, EU:C:2017:803), erging. Der Rat hatte nämlich damals die materielle und die verfahrensrechtliche Rechtsgrundlage der angefochtenen Handlung nicht angegeben, und nichts in dieser Handlung ließ ihre Bestimmung zu. |
92 |
In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen hat daher das Fehlen einer ausdrücklichen Erwähnung der zweiten Variante des Art. 216 Abs. 1 AEUV in dem angefochtenen Beschluss keinerlei Ungewissheit hinsichtlich der Natur und der rechtlichen Tragweite dieses Beschlusses und auch nicht in Bezug auf das für seinen Erlass zu befolgende Verfahren zur Folge und kann demnach nicht zu seiner teilweisen Nichtigerklärung führen. |
93 |
Somit ist der zweite Klagegrund der Bundesrepublik Deutschland als unbegründet zu verwerfen. |
Zum dritten Klagegrund: Verstoß gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit in Verbindung mit dem Grundsatz eines effektiven Rechtsschutzes
Vorbringen der Parteien
94 |
Im Rahmen ihres dritten Klagegrundes weist die Bundesrepublik Deutschland darauf hin, dass der in Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 1 EUV verankerte Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nicht nur die Mitgliedstaaten verpflichte, alle Maßnahmen zu treffen, die geeignet seien, die Geltung und die Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten, sondern auch den Unionsorganen entsprechende Pflichten zur loyalen Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten auferlege. |
95 |
Besonders bei der Ausübung von Mitgliedschaftsrechten in einer internationalen Organisation durch die Union und ihre Mitgliedstaaten sei eine enge Zusammenarbeit geboten. Bestehe zwischen den Mitgliedstaaten der Union und Letzterer Uneinigkeit über die Abgrenzung der Zuständigkeiten, müssten die Unionsorgane und die Mitgliedstaaten in redlicher Weise zusammenarbeiten, um die Schwierigkeiten zu überwinden und eine Klärung herbeizuführen. So müssten die Unionsorgane das Verfahren zum Erlass eines Rechtsakts so ausgestalten, dass sichergestellt sei, dass ein Mitgliedstaat, der die Zuständigkeit der Union in Abrede stelle, rechtzeitig den Gerichtshof anrufen könne, um die Zuständigkeitsfrage klären zu lassen. |
96 |
Außerdem verlange der Grundsatz eines effektiven Rechtsschutzes, auf den sich auch die Mitgliedstaaten berufen könnten, ebenfalls, dass das Verfahren zum Erlass eines Rechtsakts so ausgestaltet sei, dass den Mitgliedstaaten zwischen der Annahme dieses Rechtsakts und dem Zeitpunkt, ab dem er unumkehrbare Wirkungen erzeuge, ausreichend Zeit bleibe, um die Unionsgerichte gegebenenfalls mit einem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Rechtsakts zu befassen. |
97 |
Auch Art. 263 AEUV, der den Mitgliedstaaten ein privilegiertes Klagerecht einräume, werde so seiner praktischen Wirksamkeit beraubt, wenn die Frist zwischen dem Erlass des Rechtsakts und dem Eintritt seiner unumkehrbaren Wirkungen so kurz sei, dass eine rechtzeitige Klageerhebung bei den Unionsgerichten unmöglich gemacht werde. |
98 |
Im vorliegenden Fall habe der Rat, obwohl die Bundesrepublik Deutschland ihre Vorbehalte bezüglich der Zuständigkeit der Union unmittelbar nach der Vorlage des Beschlussvorschlags durch die Kommission am 5. Juni 2014 angemeldet habe, mit der Annahme des angefochtenen Beschlusses bis zum 24. Juni 2014, d. h. dem Vortag der Eröffnung der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses, gewartet, wodurch der Bundesrepublik Deutschland für eine Anrufung des Gerichtshofs weniger als 24 Stunden verblieben seien. Ihr sei es in dieser Zeitspanne nicht möglich gewesen, die internen Verfahren durchzuführen, die für die Erhebung einer Klage und die Einreichung eines Antrags auf Aussetzung der Vollziehung beim Gerichtshof vorgesehen seien. |
99 |
Aufgrund des fehlenden Rechtsschutzes sei die Bundesrepublik Deutschland, um ihre Zuständigkeiten zu wahren, zur Abstimmung unter Abweichung vom Unionsstandpunkt gezwungen gewesen. Die Kommission habe aus diesem Grund ein „EU-Pilot“-Verfahren gegen sie eingeleitet, dem jederzeit ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV folgen könne. |
100 |
Der Rat macht unterstützt von der Kommission geltend, es sei ihm nicht möglich gewesen, seine Arbeiten früher anzufangen oder abzuschließen. Die meisten Arbeitsdokumente, die die Änderungsanträge enthalten hätten, die auf die Tagesordnung für die 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses gesetzt worden seien, habe der OTIF‑Generalsekretär nämlich am 25. April 2014 übermittelt. Einige Dokumente seien am 6. und am 12. Mai 2014 eingegangen, und ein Antrag der Bundesrepublik Deutschland zu Anhang D (CUV) sei am 3. Juni 2014 erhalten worden. Die Kommission habe der zuständigen Ratsarbeitsgruppe am 26. Mai 2014 ein erstes Arbeitspapier vorgelegt, das bereits mögliche Lösungen im Hinblick auf einen koordinierten Unionsstandpunkt angeführt habe. Die Beratungen dieser Arbeitsgruppe seien am 5. und am 16. Juni 2014 auf der Grundlage des zwischenzeitlich von der Kommission eingereichten Beschlussvorschlags fortgesetzt worden. Dieser Vorschlag sei, nachdem er am 17. Juni 2014 vom Ausschuss der Ständigen Vertreter gebilligt worden sei, vom Rat am 24. Juni 2014 – rechtzeitig vor der Eröffnung der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses am 25. Juni 2014 – verabschiedet worden. |
101 |
Der Rat betont, dass die Zeitspanne von einem Monat, nach deren Ablauf er den Entscheidungsprozess abgeschlossen habe, für die Behandlung komplizierter technischer und rechtlicher Fragen extrem kurz sei. Während des Entscheidungsprozesses habe er mit Hilfe der Kommission seinen Standpunkt so genau wie möglich mit den Delegationen erörtert, um u. a. die Bundesrepublik Deutschland davon zu überzeugen, dass die Union in Bezug auf die Tagesordnungspunkte für die 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses, hinsichtlich deren die Bundesrepublik Zweifel geäußert habe, über die erforderliche Zuständigkeit verfüge. Damit habe er alles getan, um den Unionsstandpunkt unter Beachtung des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit zu verabschieden. |
102 |
Außerdem gehe die Forderung der Bundesrepublik Deutschland, dass der Unionsstandpunkt früh genug hätte verabschiedet werden sollen, um ihr einen Antrag beim Gerichtshof auf Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Beschlusses zu ermöglichen, zu weit und sei unrealistisch. Dass die Bundesrepublik das vorliegende Verfahren eingeleitet habe, zeige gerade, dass der Grundsatz eines effektiven Rechtsschutzes gewahrt sei. |
103 |
Im Übrigen könnten keine unumkehrbaren Wirkungen des angefochtenen Beschlusses für die Bundesrepublik Deutschland festgestellt werden, da gemäß den anwendbaren Regeln die in der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses diskutierten Änderungen dort entweder nicht endgültig verabschiedet worden oder jedoch angenommen worden, aber noch nicht in Kraft getreten seien. Außerdem könnten diese Änderungen nach den besagten Regeln nicht in Kraft treten, falls ein Viertel der OTIF‑Mitgliedstaaten Widerspruch erhebe. Jedenfalls müsse der Rat, sollte der Gerichtshof den angefochtenen Beschluss für nichtig erklären, nach Art. 266 Abs. 1 AEUV die Maßnahmen ergreifen, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergäben. Eine entsprechende Durchführung des Urteils sei angesichts der Stimmenmehrheit der Union in der OTIF möglich. |
Würdigung durch den Gerichtshof
104 |
Mit ihrem dritten Klagegrund beanstandet die Bundesrepublik Deutschland, der Rat habe bei der Ausgestaltung des Entscheidungsprozesses im Hinblick auf den Erlass des angefochtenen Beschlusses seine Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit verletzt, da er ihr nicht genug Zeit gelassen habe, um vor dem Gerichtshof gegen diesen Beschluss vorzugehen, bevor er unumkehrbare Wirkungen entfaltet habe. Damit habe der Rat gegen den Grundsatz eines effektiven Rechtsschutzes verstoßen. |
105 |
Nach Art. 4 Abs. 3 EUV, in dem der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit niedergelegt ist, achten und unterstützen sich die Union und die Mitgliedstaaten gegenseitig bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben. |
106 |
Zu prüfen ist also, ob der Rat unter Berücksichtigung des Ablaufs des Entscheidungsprozesses, wie er von ihm selbst geschildert und von der Bundesrepublik Deutschland nicht in Abrede gestellt worden ist, seine Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit verletzt hat. |
107 |
Die Erörterungen in der Ratsarbeitsgruppe im Hinblick auf die Festlegung eines Unionsstandpunkts begannen hier am 26. April 2014, also am Tag, nachdem die meisten Dokumente vom OTIF‑Generalsekretär übermittelt worden waren, und wurden in den nächsten beiden Sitzungen auf der Grundlage des Beschlussvorschlags der Kommission fortgeführt. Außerdem zeigt der Verfahrensablauf, wie er vom Rat beschrieben und oben in Rn. 100 zusammengefasst worden ist, dass der Rat die Vorberatungen im Hinblick auf die Annahme eines Unionsstandpunkts aufnahm, ohne abzuwarten, bis ihm sämtliche für die 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses erstellten Arbeitsdokumente übermittelt worden waren. In den vier Sitzungen der zuständigen Ratsarbeitsgruppe und des Ausschusses der Ständigen Vertreter ging es u. a. um die Klärung der Zuständigkeitsverteilung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten in Bezug auf die Tagesordnungspunkte für die 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses, hinsichtlich deren die Bundesrepublik Deutschland Vorbehalte geäußert hatte. Schließlich hat die Bundesrepublik Deutschland nicht dargetan, dass die Zeitspanne von einer Woche, die zwischen der Billigung des Beschlussvorschlags durch den Ausschuss der Ständigen Vertreter und dem Erlass des angefochtenen Beschlusses durch den Rat verstrich, derart überzogen wäre, dass daran gezweifelt werden könnte, ob der Rat seiner Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit gegenüber den Mitgliedstaaten nachgekommen ist. |
108 |
Was das Vorbringen eines Verstoßes gegen den Grundsatz eines effektiven Rechtsschutzes betrifft, so beruht es auf der Prämisse, dass es der Bundesrepublik Deutschland unmöglich gemacht worden sei, beim Gerichtshof Klage gegen den angefochtenen Beschluss zu erheben und gleichzeitig die Aussetzung der Vollziehung dieses Beschlusses zu beantragen, bevor dieser in der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses unumkehrbare Wirkungen erzeugt habe. Dieses Vorbringen geht aber jedenfalls von einer falschen Voraussetzung aus. Die Bundesrepublik hat nämlich nicht nachgewiesen, dass der angefochtene Beschluss in dieser Sitzung solche Wirkungen erzeugt hätte, und sie hat auch nicht das Verteidigungsvorbringen des Rates dagegen, wie es oben in Rn. 103 zusammengefasst worden ist, entkräftet. Deshalb kann ihr Vorbringen eines Verstoßes gegen den Grundsatz eines effektiven Rechtsschutzes keinen Erfolg haben. |
109 |
Der dritte Klagegrund ist daher als unbegründet zu verwerfen. |
110 |
Nach alledem ist die Klage der Bundesrepublik Deutschland abzuweisen. |
Kosten
111 |
Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da der Rat beantragt hat, die Bundesrepublik Deutschland zur Tragung der Kosten zu verurteilen, und diese mit ihren Klagegründen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen. |
112 |
Nach Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung, wonach die Mitgliedstaaten und die Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten tragen, haben die Französische Republik, das Vereinigte Königreich und die Kommission ihre eigenen Kosten zu tragen. |
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden: |
|
|
|
Lenaerts Tizzano Bay Larsen von Danwitz Da Cruz Vilaça Malenovský Vajda Borg Barthet Bonichot Arabadjiev Rodin Biltgen Jürimäe Lycourgos Vilaras Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 5. Dezember 2017. Der Kanzler A. Calot Escobar Der Präsident K. Lenaerts |
( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.
Referenzen
This content does not contain any references.