Urteil vom Europäischer Gerichtshof - C-329/16

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

7. Dezember 2017 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Medizinprodukte – Richtlinie 93/42/EWG – Anwendungsbereich – Begriff ‚Medizinprodukt‘ – CE‑Kennzeichnung – Nationale Rechtsvorschriften, die Software zur Unterstützung bei der Verschreibung von Arzneimitteln einem von einer nationalen Behörde festgelegten Zertifizierungsverfahren unterwerfen“

In der Rechtssache C‑329/16

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) mit Entscheidung vom 8. Juni 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Juni 2016, in dem Verfahren

Syndicat national de l’industrie des technologies médicales (Snitem),

Philips France

gegen

Premier ministre,

Ministre des Affaires sociales et de la Santé

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz, der Richter C. Vajda und E. Juhász (Berichterstatter), der Richterin K. Jürimäe und des Richters C. Lycourgos,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: V. Giacobbo-Peyronnel, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 26. April 2017,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

des Syndicat national de l’industrie des technologies médicales (Snitem) und von Philips France, vertreten durch B. Geneste und S. Ledda-Noel, avocats,

der französischen Regierung, vertreten durch J. Traband, D. Colas und E. de Moustier als Bevollmächtigte,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von M. Russo, avvocato dello Stato,

der Europäischen Kommission, vertreten durch P. Mihaylova und O. Beynet als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 28. Juni 2017

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 93/42/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 über Medizinprodukte (ABl. 1993, L 169, S. 1) in der durch die Richtlinie 2007/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. September 2007 (ABl. 2007, L 247, S. 21) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 93/42).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Syndicat national de l’industrie des technologies médicales (Snitem) und Philips France auf der einen Seite und dem Premier ministre (Premierminister, Frankreich) und dem Ministre des Affaires sociales et de la Santé (Minister für Soziales und Gesundheit, Frankreich) auf der anderen Seite über die Rechtmäßigkeit von Art. 1 Nr. 3 und Art. 2 des décret no 2014‑1359, du 14 novembre 2014, relatif à l’obligation de certification des logiciels d’aide à la prescription médicale et des logiciels d’aide à la dispensation prévue à l’article L. 161‑38 du code de la sécurité sociale (Dekret Nr. 2014‑1359 vom 14. November 2014 über die in Art. L. 161‑38 des Sozialgesetzbuchs vorgesehene Zertifizierungspflicht für Software zur Unterstützung bei der Verschreibung von Arzneimitteln und Software zur Unterstützung bei ihrer Abgabe) (JORF vom 15. November 2014, S. 19255, im Folgenden: Dekret Nr. 2014‑1359).

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

In den Erwägungsgründen 2 bis 4 der Richtlinie 93/42 heißt es:

„Die in den Mitgliedstaaten geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften bezüglich der Sicherheit, des Gesundheitsschutzes und der Leistungen der Medizinprodukte unterscheiden sich jeweils nach Inhalt und Geltungsbereich. Auch die Zertifizierungs- und Kontrollverfahren für diese Produkte sind von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat verschieden; solche Unterschiede stellen Hemmnisse im innergemeinschaftlichen Handel dar.

Die einzelstaatlichen Bestimmungen, die der Sicherheit und dem Gesundheitsschutz der Patienten, der Anwender und gegebenenfalls Dritter im Hinblick auf die Anwendung der Medizinprodukte dienen, bedürfen der Harmonisierung, um den freien Verkehr dieser Erzeugnisse auf dem Binnenmarkt zu gewährleisten.

Die harmonisierten Bestimmungen müssen von den Maßnahmen unterschieden werden, die die Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Finanzierung des öffentlichen Gesundheitssystems und des Krankenversicherungssystems getroffen haben und die derartige Produkte direkt oder indirekt betreffen. Sie lassen daher das Recht der Mitgliedstaaten auf Durchführung der genannten Maßnahmen unter Einhaltung des Gemeinschaftsrechts unberührt.“

4

Art. 1 („Begriffsbestimmungen, Anwendungsbereich“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)   Diese Richtlinie gilt für Medizinprodukte und ihr Zubehör. Im Sinne dieser Richtlinie wird Zubehör als eigenständiges Medizinprodukt behandelt. Medizinprodukte und Zubehör werden nachstehend ‚Produkte‘ genannt.

(2)   Es gelten folgende Begriffsbestimmungen:

a)

‚Medizinprodukt‘: alle einzeln oder miteinander verbunden verwendeten Instrumente, Apparate, Vorrichtungen, Software, Stoffe oder anderen Gegenstände, einschließlich der vom Hersteller speziell zur Anwendung für diagnostische und/oder therapeutische Zwecke bestimmten und für ein einwandfreies Funktionieren des Medizinprodukts eingesetzten Software, die vom Hersteller zur Anwendung für Menschen für folgende Zwecke bestimmt sind:

Erkennung, Verhütung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten;

Erkennung, Überwachung, Behandlung, Linderung oder Kompensierung von Verletzungen oder Behinderungen;

Untersuchung, Ersatz oder Veränderung des anatomischen Aufbaus oder eines physiologischen Vorgangs;

Empfängnisregelung,

und deren bestimmungsgemäße Hauptwirkung im oder am menschlichen Körper weder durch pharmakologische oder immunologische Mittel noch metabolisch erreicht wird, deren Wirkungsweise aber durch solche Mittel unterstützt werden kann.

b)

Zubehör: Gegenstand, der selbst kein Produkt ist, sondern nach seiner vom Hersteller speziell festgelegten Zweckbestimmung zusammen mit einem Produkt zu verwenden ist, damit dieses entsprechend der vom Hersteller des Produkts festgelegten Zweckbestimmung des Produkts angewendet werden kann.

g)

Zweckbestimmung: Verwendung, für die das Produkt entsprechend den Angaben des Herstellers in der Etikettierung, der Gebrauchsanweisung und/oder dem Werbematerial bestimmt ist.

…“

5

Art. 4 („Freier Verkehr, Produkte für besondere Zwecke“) Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten behindern in ihrem Hoheitsgebiet nicht das Inverkehrbringen und die Inbetriebnahme von Produkten, die die CE‑Kennzeichnung nach Artikel 17 tragen, aus der hervorgeht, dass sie einer Konformitätsbewertung nach Artikel 11 unterzogen worden sind.“

6

Art. 5 („Verweis auf Normen“) der Richtlinie sieht in seinem Abs. 1 vor:

„Die Mitgliedstaaten gehen von der Einhaltung der grundlegenden Anforderungen … bei Produkten aus, die den einschlägigen nationalen Normen zur Durchführung der harmonisierten Normen, deren Fundstellen im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht wurden, entsprechen; die Mitgliedstaaten veröffentlichen die Fundstellen dieser nationalen Normen.“

7

Art. 8 („Schutzklausel“) der Richtlinie 93/42 bestimmt in seinem Abs. 1:

„Stellt ein Mitglied[staat] fest, dass in Artikel 4 Absatz 1 bzw. Artikel 4 Absatz 2 zweiter Gedankenstrich genannte Produkte die Gesundheit und/oder die Sicherheit der Patienten, der Anwender oder gegebenenfalls Dritter gefährden können, auch wenn sie sachgemäß installiert, instand gehalten und ihrer Zweckbestimmung entsprechend verwendet werden, so trifft er alle geeigneten vorläufigen Maßnahmen, um diese Produkte vom Markt zurückzuziehen oder ihr Inverkehrbringen oder ihre Inbetriebnahme zu verbieten oder einzuschränken. Der Mitgliedstaat teilt der Kommission unverzüglich diese Maßnahmen mit, nennt die Gründe für seine Entscheidung und gibt insbesondere an, ob die Nichtübereinstimmung mit dieser Richtlinie zurückzuführen ist auf

a)

die Nichteinhaltung der in Artikel 3 genannten grundlegenden Anforderungen,

b)

eine unzulängliche Anwendung der Normen gemäß Artikel 5, sofern die Anwendung dieser Normen behauptet wird,

c)

einen Mangel in diesen Normen selbst.“

8

Art. 9 („Klassifizierung“) dieser Richtlinie sieht in Abs. 1 vor:

„Die Produkte werden in die Klassen I, IIa, IIb und III eingestuft. Die Klassifizierung erfolgt nach den Regeln gemäß Anhang IX.“

9

Art. 17 („CE‑Kennzeichnung“) dieser Richtlinie sieht in Abs. 1 vor:

„Mit Ausnahme von Sonderanfertigungen und Produkten, die für klinische Prüfungen bestimmt sind, müssen alle Produkte, von deren Übereinstimmung mit den grundlegenden Anforderungen gemäß Artikel 3 auszugehen ist, bei ihrem Inverkehrbringen mit einer CE‑Kennzeichnung versehen sein.“

10

Anhang IX („Klassifizierungskriterien“) dieser Richtlinie enthält folgenden Passus:

„I. Definitionen

1. Definitionen zu den Klassifizierungsregeln

1.4.

Aktives Medizinprodukt

… Eigenständige Software gilt als aktives Medizinprodukt.

II. Anwendungsregeln

2. Anwendung der Regeln

2.1.

Die Anwendung der Klassifizierungsregeln richtet sich nach der Zweckbestimmung der Produkte.

2.2.

Wenn ein Produkt dazu bestimmt ist, in Verbindung mit einem anderen Produkt angewandt zu werden, werden die Klassifizierungsregeln auf jedes Produkt gesondert angewendet. Zubehör wird unabhängig von dem Produkt, mit dem es verwendet wird, gesondert klassifiziert.

2.3.

Software, die ein Produkt steuert oder dessen Anwendung beeinflusst, wird automatisch derselben Klasse zugerechnet wie das Produkt.

…“

11

Der sechste Erwägungsgrund der Richtlinie 2007/47, die u. a. zum Gegenstand hatte, eigenständige Software in die in Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 93/42 vorgesehene Definition von Medizinprodukt aufzunehmen, lautet:

„Es ist eine Klarstellung erforderlich, dass Software als solche, wenn sie spezifisch vom Hersteller für einen oder mehrere der in der Definition von Medizinprodukt genannten medizinischen Zwecke bestimmt ist, ein Medizinprodukt ist. Software für allgemeine Zwecke ist kein Medizinprodukt, auch wenn sie im Zusammenhang mit der Gesundheitspflege genutzt wird.“

Französisches Recht

12

Art. L. 161-38 des Code de la sécurité sociale (Sozialgesetzbuch) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung bestimmt:

„…

II.

[Die Haute Autorité de santé (Hohe Gesundheitsbehörde, Frankreich)] legt das Zertifizierungsverfahren für Software zur Unterstützung bei der Verschreibung von Arzneimitteln unter Beachtung einer Reihe von Regeln guter Praxis fest. Sie wacht darüber, dass die Regeln guter Praxis bestimmen, dass diese Software die von der Haute Autorité de santé ermittelten Empfehlungen und medizinisch-wirtschaftlichen Stellungnahmen einbezieht, dass sie es ermöglicht, unmittelbar unter international gebräuchlicher Bezeichnung Arzneimittel zu verschreiben, die Preise der Produkte zum Zeitpunkt der Verschreibung und den Gesamtbetrag der Verschreibung anzuzeigen und auf die Zugehörigkeit eines Produkts zum Verzeichnis von Generika hinzuweisen, und dass sie eine Information über ihren Entwickler und die Art ihrer Finanzierung enthält.

Dieses Zertifizierungsverfahren trägt zur Verbesserung der Praktiken bei der Verschreibung von Arzneimitteln bei. Es garantiert, dass die Software den Mindestanforderungen in Bezug auf Sicherheit, Konformität und Effizienz der Verschreibung entspricht.

IV.

Die in den Abs. I bis III geregelten Zertifizierungen werden von den vom Comité français d’accréditation (Französischer Akkreditierungsausschuss) akkreditierten Zertifizierungsstellen oder von der zuständigen Behörde eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union erstellt und erteilt. Sie bescheinigen die Einhaltung der von der Haute Autorité de santé ausgearbeiteten Regeln guter Praxis.

Die Zertifizierung ist verpflichtend für jede Software, bei der zumindest eine der Funktionalitäten darin besteht, Unterstützung bei der Verschreibung von Arzneimitteln oder der Abgabe von Arzneimitteln unter den vom Conseil d’État (Staatsrat) bis zum 1. Januar 2015 durch Dekret vorgesehenen Voraussetzungen zu bieten.“

13

Art. 1 Nr. 3 des Dekrets Nr. 2014-1359 fügte dem Code de la sécurité sociale (Sozialgesetzbuch) die Art. R. 161‑76‑1 bis R. 161‑76‑9 hinzu.

14

Art. R. 161-76-1 dieses Code lautet:

„Jede Software, die den in einer Stadt, einer Gesundheitseinrichtung oder einer medizinisch-sozialen Einrichtung tätigen Ausstellern von Verschreibungen eine Unterstützung bei der Verschreibung von Arzneimitteln bieten soll, unterliegt der in Art. L. 161‑38 vorgesehenen Zertifizierungspflicht, unbeschadet der Bestimmungen der Art. R. 5211‑1 ff. des Code de la santé publique (Gesetz über die öffentliche Gesundheit). Software, die andere Funktionalitäten als die Unterstützung bei der Verschreibung von Arzneimitteln umfasst, unterliegt der Zertifizierung nur für die letztgenannte Funktion.“

15

Art. R. 161-76-3 dieses Code sieht vor:

„Die Software zur Unterstützung bei der Verschreibung von Arzneimitteln wird anhand eines von der Haute Autorité de santé erstellten Bezugsrahmens zertifiziert, der Folgendes vorsieht:

1.

Mindestanforderungen an die Sicherheit, die u. a. das Fehlen jeder Information, die in keinem Zusammenhang mit der Verschreibung steht, und von Werbung aller Art sowie ihre ergonomische Qualität betreffen;

2.

Mindestanforderungen an die Vereinbarkeit der Verschreibung mit den Regelungen und den Regeln guter Praxis im Bereich der Verschreibung von Arzneimitteln;

3.

Mindestanforderungen an die Effizienz zur Sicherstellung einer Senkung der Behandlungskosten bei gleicher Qualität;

4.

die Verschreibung unter gemeinsamer Bezeichnung im Sinne der Definition in Art. R. 5121‑1 Nr. 5 des Code de la santé publique;

5.

eine Information über das Arzneimittel, die aus einer Datenbank über Arzneimittel stammt, die einer von der Haute Autorité de santé ausgearbeiteten Qualitätscharta entsprechen;

6.

Informationen zum Softwareentwickler und zur Finanzierung der Entwicklung dieser Software.“

16

Art. 2 des Dekrets Nr. 2014-1359 lautet:

„Die Zertifizierungen gemäß den Art. R. 161-76-1 und R. 161-76-10 sind ab 1. Januar 2015 verpflichtend.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

17

Das Snitem umfasst Unternehmen aus dem Sektor der Medizinprodukte, wie Philips France, die ihre Tätigkeiten im Bereich der Gesundheitspflege ausüben und u. a. Software zur Unterstützung bei der Verschreibung von Arzneimitteln vertreiben.

18

Das Snitem und Philips France befassten den Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) mit einer Klage auf Nichtigerklärung von Art. 1 Nr. 3 und Art. 2 des Dekrets Nr. 2014‑1359. Sie tragen vor, da zumindest bestimmte Software zur Unterstützung bei der Verschreibung von Arzneimitteln in den Anwendungsbereich der Richtlinie 93/42 falle, verstießen die Bestimmungen des Art. L. 161‑38 des Code de la sécurité sociale (Sozialgesetzbuch) und dieses Dekrets, weil sie auf nationaler Ebene bestimmte Software einer Zertifizierungspflicht unterstellten, obwohl die Software mit der CE‑Kennzeichnung versehen sei, gegen die Ziele des Art. 4 der Richtlinie 93/42, der den Mitgliedstaaten verbiete, das Inverkehrbringen oder die Inbetriebnahme von Medizinprodukten, die mit dieser CE‑Kennzeichnung versehen seien, zu verhindern oder zu beschränken.

19

Die Kläger des Ausgangsverfahrens machen ferner einen Verstoß gegen Art. 8 der Richtlinie 93/42 geltend, da die im nationalen Recht vorgesehene Zertifizierungspflicht nicht als Schutzmaßnahme im Sinne dieses Artikels angesehen werden könne. Darüber hinaus machen sie einen Verstoß gegen Art. 34 AEUV geltend, soweit die Verpflichtung, die Software an technische Normen anzupassen, eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen darstelle, die aufgrund der für Software geltenden Zertifizierungspflicht von Medizinprodukten in der Richtlinie 93/42 unnötig sei und daher nicht den Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit und die Erforderlichkeit genüge.

20

Aufgrund dieser Gesichtspunkte hat der Conseil d’État (Staatsrat) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist die Richtlinie 93/42 dahin auszulegen, dass Software, die den in einer Stadt, einer Gesundheitseinrichtung oder einer medizinisch-sozialen Einrichtung tätigen Ausstellern von Verschreibungen eine Unterstützung bei der Verschreibung von Arzneimitteln bieten soll, um die Sicherheit der Verschreibung zu verbessern, die Arbeit des Ausstellers zu erleichtern, die Konformität des Rezepts mit den Anforderungen der nationalen Regelung zu fördern und die Behandlungskosten bei gleicher Qualität zu senken, ein Medizinprodukt im Sinne der Richtlinie darstellt, wenn die Software zumindest eine Funktionalität aufweist, die es ermöglicht, die Daten eines Patienten zu nutzen, um dessen Arzt bei der Ausstellung seiner Verschreibung zu helfen, indem u. a. Kontraindikationen, Wechselwirkungen von Medikamenten und Überdosierungen festgestellt werden, auch wenn sie selbst nicht im oder am menschlichen Körper wirkt?

Zur Vorlagefrage

21

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 93/42 dahin auszulegen ist, dass Software, bei der eine der Funktionalitäten es ermöglicht, Patientendaten zu nutzen, um u. a. Kontraindikationen, Wechselwirkungen von Medikamenten und Überdosierungen festzustellen, in Bezug auf diese Funktionalität ein Medizinprodukt im Sinne dieser Bestimmungen darstellt, auch wenn diese Software nicht unmittelbar im oder am menschlichen Körper wirkt.

22

Aus Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 93/42 ergibt sich ausdrücklich, dass Software ein Medizinprodukt im Sinne dieser Richtlinie darstellt, wenn sie kumulativ die beiden Voraussetzungen – betreffend den verfolgten Zweck und die erzeugte Wirkung – erfüllt, die jedes Produkt dieser Art erfüllen muss.

23

Was erstens den verfolgten Zweck betrifft, sieht Art. 1 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie vor, dass ein Medizinprodukt vom Hersteller zur Anwendung für Menschen u. a. für die Zwecke der Erkennung, Verhütung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten sowie der Erkennung, Überwachung, Behandlung, Linderung oder Kompensierung von Verletzungen oder Behinderungen bestimmt sein muss.

24

Insofern ist darauf hinzuweisen, dass der Wortlaut von Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 93/42 durch Art. 2 der Richtlinie 2007/47 geändert wurde, in deren sechstem Erwägungsgrund darauf hingewiesen wird, dass Software als solche, wenn sie spezifisch vom Hersteller für einen oder mehrere der in der Definition von Medizinprodukt genannten medizinischen Zwecke bestimmt ist, ein Medizinprodukt ist. In diesem Erwägungsgrund heißt es weiter, dass Software für allgemeine Zwecke kein Medizinprodukt ist, auch wenn sie im Zusammenhang mit der Gesundheitspflege genutzt wird. Der Unionsgesetzgeber hat somit klargestellt, dass Software nicht schon dann in den Anwendungsbereich der Richtlinie 93/42 fällt, wenn sie in einem medizinischen Zusammenhang verwendet wird; erforderlich ist außerdem, dass ihr Hersteller ihr eine spezifisch medizinische Zweckbestimmung gegeben hat (Urteil vom 22. November 2012, Brain Products, C‑219/11,EU:C:2012:742, Rn. 16 und 17). Eine Software, die diese Voraussetzung nicht erfüllt, könnte nur dann in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallen, wenn sie Zubehör zu einem Medizinprodukt im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie darstellt. Eine solche Software müsste dann gemäß Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie für die Zwecke der Richtlinie als eigenständiges Medizinprodukt behandelt werden.

25

Im vorliegenden Fall wird eine Software, die Patientendaten mit Medikamenten abgleicht, die der Arzt verschreiben möchte, und so in der Lage ist, ihm in automatisierter Form eine Analyse zu liefern, mit der u. a. etwaige Kontraindikationen, Wechselwirkungen von Medikamenten und Überdosierungen festgestellt werden sollen, für die Zwecke der Verhütung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten verwendet; sie verfolgt daher einen spezifisch medizinischen Zweck, was sie zum Medizinprodukt im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 93/42 macht.

26

Dies trifft jedoch nicht auf eine Software zu, die, obwohl sie in einem medizinischen Zusammenhang verwendet werden soll, ausschließlich den Zweck hat, Daten zu archivieren, zu sammeln und zu übertragen, wie eine Speichersoftware für medizinische Patientendaten, eine Software, deren Funktion sich darauf beschränkt, dem behandelnden Arzt die Bezeichnung des Generikums zu dem Medikament anzugeben, das er verschreiben will, oder auch eine Software, die auf die vom Hersteller dieses Medikaments in seiner Gebrauchsanweisung genannten Kontraindikationen hinweisen soll.

27

Was zweitens die Voraussetzung der erzeugten Wirkung betrifft, fragt sich das vorlegende Gericht, ob eine Software, die selbst nicht im oder am menschlichen Körper wirkt, ein Medizinprodukt im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 93/42 sein kann.

28

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung zwar vorsieht, dass die Hauptwirkung des Medizinprodukts „im oder am menschlichen Körper“ weder ausschließlich durch pharmakologische oder immunologische Mittel noch metabolisch erreicht werden kann, aber nicht verlangt, dass ein solches Produkt unmittelbar im oder am menschlichen Körper wirkt.

29

Wie dem sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2007/47 und Rn. 24 des vorliegenden Urteils zu entnehmen ist, wollte sich der Unionsgesetzgeber für die Einstufung einer Software als Medizinprodukt auf ihren Verwendungszweck konzentrieren und nicht auf die Art, wie die Wirkung eintreten kann, die sie am oder im menschlichen Körper erzeugen kann.

30

Würde man zudem einem Produkt, das nicht unmittelbar im oder am menschlichen Körper wirkt, die Eigenschaft eines Medizinprodukts absprechen, liefe das in der Praxis darauf hinaus, vom Anwendungsbereich der Richtlinie 93/42 Software auszunehmen, die vom Hersteller spezifisch für einen oder mehrere der in der Definition von Medizinprodukt genannten medizinischen Zwecke bestimmt ist, obwohl der Unionsgesetzgeber mit der Richtlinie 2007/47 solche Software, unabhängig davon, ob sie unmittelbar im oder am menschlichen Körper wirkt oder nicht, in die Definition von Medizinprodukt aufnehmen wollte.

31

Die Hinzufügung einer solchen Bedingung brächte daher die Gefahr mit sich, Art. 1 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie teilweise seiner praktischen Wirksamkeit zu berauben.

32

Somit ist es für die Einstufung als Medizinprodukt von geringer Bedeutung, ob eine Software unmittelbar am menschlichen Körper wirkt oder nicht, da es im Wesentlichen darauf ankommt, dass sie gerade einen der in Rn. 24 des vorliegenden Urteils genannten Zwecke erfüllt.

33

Diese Auslegung wird durch die Leitlinien der Kommission zur Einstufung und Klassifizierung von in der Medizin verwendeter eigenständiger Software im Regelwerk für Medizinprodukte („Guidelines on the qualification and classification of stand alone software used in healthcare within the regulatory framework of medical devices“, Meddev 2.1/6) bestätigt, die eine Erleichterung der einheitlichen Anwendung der Bestimmungen der Richtlinie 93/42 innerhalb der Union bezwecken. Sowohl in der im Januar 2012 als auch in der im Juli 2016 veröffentlichten Fassung dieser Leitlinien heißt es nämlich, dass Software, die vom Hersteller dazu bestimmt ist, bei ihrem Gebrauch einen der in Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 93/42 genannten Zwecke zu verfolgen, und dazu dienen soll, medizinische Daten anzulegen oder zu ändern, u. a. mittels Vorgängen der Berechnung, der Quantifizierung oder auch des Vergleichs der gespeicherten Daten mit bestimmten Referenzdaten, um Angaben zu einem bestimmten Patienten zu liefern, ein Medizinprodukt darstellt. In diesen Leitlinien heißt es weiter, dass Software, die auf die Daten in keiner Weise einwirkt oder die sich auf die Speicherung, Archivierung, verlustfreie Komprimierung oder letztlich auf die einfache Suche beschränkt, d. h. in diesem letzteren Fall Software, die eine Datenbankfunktion hat und anhand derer aus Metadaten stammende Informationen gefunden werden können, ohne sie zu verändern oder sie zu interpretieren, nicht als Medizinprodukt angesehen werden darf.

34

Daher stellt Software, bei der eine der Funktionalitäten es ermöglicht, Patientendaten zu nutzen, um u. a. Kontraindikationen, Wechselwirkungen von Medikamenten und Überdosierungen festzustellen, in Bezug auf diese Funktionalität ein Medizinprodukt im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 93/42 dar, auch wenn diese Software nicht unmittelbar im oder am menschlichen Körper wirkt.

35

Soweit es sich bei einer solchen Software um ein Medizinprodukt handelt, muss sie folglich gemäß Art. 17 Abs. 1 dieser Richtlinie bei ihrem Inverkehrbringen zwingend mit einer CE‑Konformitätskennzeichnung versehen sein. Sobald diese Kennzeichnung erlangt wurde, kann das Produkt, was diese Funktionalität angeht, in der Union in den Verkehr gebracht werden und dort frei verkehren, ohne dass ein zusätzliches Verfahren wie etwa eine neuerliche Zertifizierung erforderlich wäre (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. November 2009, Nordiska Dental, C‑288/08, EU:C:2009:718, Rn. 21).

36

Im Fall einer medizinischen Software, die gleichzeitig Module umfasst, die der Definition von „Medizinprodukt“ entsprechen, und andere, die ihr nicht entsprechen und kein Zubehör im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 93/42 sind, fallen nur die erstgenannten Module in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie und müssen mit einer CE‑Kennzeichnung versehen werden.

37

Insoweit bestätigen die in Rn. 33 des vorliegenden Urteils genannten Leitlinien der Kommission in Titel 4 („Module“) im Wesentlichen, dass, wenn eine Software aus Modulen besteht, die der Definition des Begriffs „Medizinprodukt“ entsprechen, und solchen, die dieser Definition nicht entsprechen, nur die erstgenannten Module mit einer CE‑Kennzeichnung versehen werden müssen, da die anderen den Bestimmungen dieser Richtlinie nicht unterliegen. Diese Leitlinien stellen klar, dass es Sache des Herstellers ist, die Grenzen und Schnittstellen der verschiedenen Module anzugeben. Diese müssen, was die der Richtlinie 93/42 unterliegenden Module anbelangt, vom Hersteller eindeutig angegeben werden und auf der künftigen Verwendung des Produkts beruhen.

38

Der Hersteller einer solchen Software ist daher verpflichtet, diejenigen Module anzugeben, die Medizinprodukte darstellen, damit die CE‑Kennzeichnung allein auf diesen Modulen angebracht werden kann.

39

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 93/42 dahin auszulegen ist, dass Software, bei der eine der Funktionalitäten es ermöglicht, Patientendaten zu nutzen, um u. a. Kontraindikationen, Wechselwirkungen von Medikamenten und Überdosierungen festzustellen, in Bezug auf diese Funktionalität ein Medizinprodukt im Sinne dieser Bestimmungen darstellt, auch wenn diese Software nicht unmittelbar im oder am menschlichen Körper wirkt.

Kosten

40

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 1 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 93/42/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 über Medizinprodukte in der durch die Richtlinie 2007/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. September 2007 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass Software, bei der eine der Funktionalitäten es ermöglicht, Patientendaten zu nutzen, um u. a. Kontraindikationen, Wechselwirkungen von Medikamenten und Überdosierungen festzustellen, in Bezug auf diese Funktionalität ein Medizinprodukt im Sinne dieser Bestimmungen darstellt, auch wenn diese Software nicht unmittelbar im oder am menschlichen Körper wirkt.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch

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Referenzen

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