Urteil vom Europäischer Gerichtshof - C-630/16

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

14. Dezember 2017 ( *1 )

[Text berichtigt durch Beschluss vom 20. März 2018]

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Harmonisierte Bedingungen für die Vermarktung von Bauprodukten – Harmonisierte Norm EN 1090‑1:2009+A1:2011 – Kriterien für die Bestimmung des Anwendungsbereichs einer vom Europäischen Komitee für Normung (CEN) im Auftrag der Europäischen Kommission angenommenen Norm – Abhängeteile, die im Beton vor dessen Erhärten befestigt werden und für die Verbindung von Schalenelementen und Mauerwerkabfangungen mit dem Rahmenwerk des Gebäudes verwendet werden sollen“

In der Rechtssache C‑630/16

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Helsingin hallinto-oikeus (Verwaltungsgericht Helsinki, Finnland) mit Entscheidung vom 1. Dezember 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Dezember 2016, in dem Verfahren auf Antrag der

Anstar Oy

Beteiligter:

Turvallisuus- ja kemikaalivirasto (Tukes)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. Malenovský sowie der Richter D. Šváby (Berichterstatter) und M. Vilaras,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzlerin: R. Șereș, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. September 2017,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

des Turvallisuus- ja kemikaalivirasto (Tukes), vertreten durch K. Peltonen, J. Karjalainen, P. Kulmala und K. Siponen als Bevollmächtigte,

der finnischen Regierung, vertreten durch S. Hartikainen als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Zavvos, P. Aalto und M. Huttunen als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EU) Nr. 305/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2011 zur Festlegung harmonisierter Bedingungen für die Vermarktung von Bauprodukten und zur Aufhebung der Richtlinie 89/106/EWG des Rates (ABl. 2011, L 88 S. 5) sowie der harmonisierten Norm EN 1090‑1:2009+A1:2011 („Ausführung von Stahltragwerken und Aluminiumtragwerken – Teil 1: Konformitätsnachweisverfahren für tragende Bauteile“) (im Folgenden: Norm EN 1090‑1:2009+A1:2011).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines von der Anstar Oy, einer Gesellschaft nach finnischem Recht, vor dem Helsingin hallinto-oikeus (Verwaltungsgericht Helsinki, Finnland) eingeleiteten Verfahrens über eine Entscheidung des Turvallisuus- ja kemikaalivirasto (Tukes) (Sicherheits- und Chemikalienamt, Finnland) (im Folgenden: Amt), durch die das Amt Anstar im Wesentlichen untersagte, die CE-Kennzeichnung nach der Norm EN 1090‑1:2009+A1:2011 für vier Gruppen von ihr erzeugter Produkte zu verwenden.

Rechtlicher Rahmen

Verordnung Nr. 305/2011

3

Die Erwägungsgründe 6 und 10 der Verordnung Nr. 305/2011 betonen, dass das mit dieser Verordnung verfolgte Ziel darin besteht, die technischen Handelshemmnisse für Bauprodukte durch harmonisierte technische Spezifikationen zu beseitigen, anhand derer die Leistung von Bauprodukten bewertet wird, um deren freien Verkehr im Binnenmarkt zu verbessern.

4

Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Verordnung Nr. 305/2011 stellt klar, was die folgenden Ausdrücke bezeichnen:

„10.   ‚harmonisierte technische Spezifikationen‘ die harmonisierten Normen und Europäischen Bewertungsdokumente;

11.   ‚Harmonisierte Norm‘ eine Norm, die von einem der in Anhang I der Richtlinie 98/34/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juni 1998 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften (ABl. 1998, L 204, S. 37)] aufgeführten europäischen Normungsgremien auf der Grundlage eines Ersuchens der Kommission nach Artikel 6 jener Richtlinie angenommen wurde;

…“

5

Art. 4 dieser Verordnung, der sich auf die „Leistungserklärung“ bezieht, bestimmt in seinem Abs. 1:

„Ist ein Bauprodukt von einer harmonisierten Norm erfasst oder entspricht ein Bauprodukt einer Europäischen Technischen Bewertung, die für dieses ausgestellt wurde, so erstellt der Hersteller eine Leistungserklärung für das Produkt, wenn es in Verkehr gebracht wird.“

6

Art. 17 dieser Verordnung, der die „Harmonisierten Normen“ betrifft, sieht in seinen Abs. 1, 3 und 5 vor:

„(1)   Harmonisierte Normen werden von den in Anhang I der Richtlinie 98/34/EG aufgeführten europäischen Normungsgremien auf der Grundlage von Ersuchen (im Folgenden ‚Mandate‘) erstellt, die die Kommission gemäß Artikel 6 jener Richtlinie und nach Konsultation des Ständigen Ausschusses für das Bauwesen gemäß Artikel 64 der vorliegenden Verordnung (im Folgenden ‚Ständiger Ausschuss für das Bauwesen‘) unterbreitet.

(3)   Harmonisierte Normen enthalten die Verfahren und Kriterien für die Bewertung der Leistung von Bauprodukten in Bezug auf ihre [w]esentlichen Merkmale.

Sofern im jeweiligen Mandat vorgesehen, bezieht sich eine harmonisierte Norm auf einen Verwendungszweck der von ihr erfassten Produkte.

Harmonisierte Normen enthalten, soweit angemessen, Verfahren zur Bewertung der Leistung von Bauprodukten in Bezug auf ihre [w]esentlichen Merkmale, die weniger aufwendig sind als Prüfungen, ohne dadurch die Genauigkeit, die Zuverlässigkeit und die Stabilität der Ergebnisse zu beeinträchtigen.

(5)   Die Kommission prüft, ob die von den europäischen Normungsgremien erstellten harmonisierten Normen mit den dazugehörigen Mandaten übereinstimmen.

Die Kommission veröffentlicht im Amtsblatt der Europäischen Union ein Verzeichnis der Fundstellen harmonisierter Normen, die den jeweiligen Mandaten entsprechen.“

7

In Art. 19 der Verordnung, der das „Europäische Bewertungsdokument“ betrifft, heißt es u. a.:

„(1)   Beantragt ein Hersteller eine Europäische Technische Bewertung, so wird ein Europäisches Bewertungsdokument von der Organisation Technischer Bewertungsstellen für ein Bauprodukt erstellt und angenommen, das nicht oder nicht vollständig von einer harmonisierten Norm erfasst ist und dessen Leistung in Bezug auf seine [w]esentlichen Merkmale nicht vollständig anhand einer bestehenden harmonisierten Norm bewertet werden kann, weil unter anderem

a)

das Produkt nicht in den Anwendungsbereich einer bestehenden harmonisierten Norm fällt;

b)

das in der harmonisierten Norm vorgesehene Bewertungsverfahren für mindestens ein [w]esentliches Merkmal dieses Produkts nicht geeignet ist; oder

c)

die harmonisierte Norm für mindestens ein [w]esentliches Merkmal dieses Produkts kein Bewertungsverfahren vorsieht.“

8

Art. 21 der Verordnung Nr. 305/2011, in dem es um die Pflichten der Technischen Bewertungsstellen, die einen Antrag auf eine Europäische Technische Bewertung erhalten, geht, sieht u. a. vor:

„(1)   Die Technische Bewertungsstelle, die einen Antrag auf eine Europäische Technische Bewertung erhält, unterrichtet den Hersteller wie folgt, wenn das Bauprodukt ganz oder teilweise von einer harmonisierten technischen Spezifikation erfasst ist:

a)

Ist das Produkt ganz von einer harmonisierten Norm erfasst, so teilt die Technische Bewertungsstelle dem Hersteller mit, dass nach Artikel 19 Absatz 1 für das Produkt keine Europäische Technische Bewertung ausgestellt werden kann;

b)

ist das Produkt ganz von einem Europäischen Bewertungsdokument erfasst, so teilt die Technische Bewertungsstelle dem Hersteller mit, dass dieses Dokument als Grundlage für die auszustellende Europäische Technische Bewertung dienen wird;

c)

ist das Produkt nicht oder nicht ganz von einer harmonisierten technischen Spezifikation erfasst, so wendet die Technische Bewertungsstelle die Verfahren an, die in Anhang II niedergelegt sind oder nach Artikel 19 Absatz 3 festgelegt wurden.“

9

Art. 59 („Formale Nichtkonformität“) dieser Verordnung lautet:

„(1)   Unbeschadet des Artikels 56 fordert ein Mitgliedstaat den betroffenen Wirtschaftsakteur dazu auf, die betreffende Nichtkonformität zu korrigieren, falls er einen der folgenden Fälle feststellt:

a)

Die CE-Kennzeichnung wurde unter Nichteinhaltung von Artikel 8 oder Artikel 9 angebracht;

b)

die CE-Kennzeichnung wurde nicht angebracht, obwohl dies gemäß Artikel 8 Absatz 2 erforderlich ist;

c)

unbeschadet Artikel 5: die Leistungserklärung wurde nicht erstellt, obwohl dies gemäß Artikel 4 erforderlich ist;

d)

die Leistungserklärung wurde nicht in Übereinstimmung mit den Artikeln 4, 6 und 7 erstellt;

e)

die technische Dokumentation ist entweder nicht verfügbar oder unvollständig.

(2)   Besteht die Nichtkonformität gemäß Absatz 1 weiter, trifft der Mitgliedstaat alle geeigneten Maßnahmen, um die Bereitstellung des Bauprodukts auf dem Markt zu beschränken oder zu untersagen oder um dafür zu sorgen, dass es zurückgerufen oder vom Markt genommen wird.“

Die Norm EN 1090-1:2009+A1:2011

10

Die Norm EN 1090-1:2009+A1:2011 wurde ursprünglich in Form der Norm EN 1090-1:2009 aufgrund eines gemäß der Richtlinie 89/106/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Bauprodukte (ABl. 1989, L 40, S. 12) erteilten Auftrags der Kommission vom 11. März 1998 (M 120 – Auftrag an CEN/Cenelec über harmonisierte Normen für Metallbauprodukte und Zubehörteile, im Folgenden: Auftrag M 120) vom Europäischen Komitee für Normung (CEN) am 15. Juni 2008 angenommen.

11

Die Norm EN 1090-1:2009+A1:2011 wurde unter der Fundstelle „EN 1090‑1:2009“ im Amtsblatt der Europäischen Union vom 17. Dezember 2010 (ABl. 2010, C 344, S. 1) veröffentlicht.

12

Nachdem das CEN am 3. Oktober 2011 die Änderung 1 der Norm EN 1090‑1:2009+A1:2011 angenommen hatte, wurde diese neuerlich im Amtsblatt der Europäischen Union vom 19. Juni 2012 veröffentlicht (ABl. 2012, C 176, S. 1).

13

In Punkt 1 dieser Norm, der ihren „Anwendungsbereich“ absteckt, heißt es:

„Diese Europäische Norm legt Anforderungen an den Konformitätsnachweis von Stahlbauteilen, Aluminiumbauteilen und Bausätzen fest, die als Bauprodukte in Verkehr gebracht werden. Der Konformitätsnachweis umfasst die Herstellungsmerkmale und, sofern erforderlich, Tragfähigkeitsmerkmale.

Diese Europäische Norm befasst sich ebenfalls mit dem Konformitätsnachweis von Stahlbauteilen, die in Verbundtragwerken aus Stahl und Beton verwendet werden.

Diese Europäische Norm gilt nicht für den Konformitätsnachweis von Bauteilen für abgehängte Decken sowie für Schienen und Schwellen von Eisenbahnsystemen.

…“

14

Punkt 3.1.9 der Norm EN 1090-1:2009+A1:2011 definiert „tragende Bauteile“ wie folgt:

„Bauteile zur Sicherstellung der mechanischen Festigkeit und Stabilität und/oder des Feuerwiderstandes unter Berücksichtigung von Dauerhaftigkeit und Gebrauchstauglichkeit. Tragende Bauteile können gegebenenfalls als solche direkt verwendet werden oder sind zum Einbau in ein Tragwerk vorgesehen“.

15

Punkt 4.5 dieser Norm, der sich auf die „Tragfähigkeitsmerkmale“ bezieht, umfasst einen Punkt 4.5.1 („Allgemeines“), der u. a. vorsieht:

„Die Tragfähigkeitsmerkmale von Bauteilen, die von dieser Europäischen Norm abgedeckt werden, umfassen die Tragfähigkeit, Verformung im Grenzzustand der Gebrauchstauglichkeit, die Ermüdungsfestigkeit und den Feuerwiderstand.“

Die Norm EN 845-1:2013

16

Die harmonisierte Norm EN 845-1:2013 („Festlegungen für Ergänzungsbauteile für Mauerwerk – Teil 1: Maueranker, Zugbänder, Auflager und Konsolen“) (im Folgenden: Norm EN 845‑1:2013) wurde vom CEN aufgrund eines gemäß der Richtlinie 89/106 erteilten Auftrags der Kommission vom 28. Mai 1997 (M 116 – Auftrag an CEN/Cenelec über die Erstellung harmonisierter Normen für Mauerwerk und verwandte Erzeugnisse, im Folgenden: Auftrag M 116) am 21. März 2013 angenommen.

17

Die Fundstellen der Norm EN 845-1:2013 wurden im Amtsblatt der Europäischen Union vom 13. Februar 2015 veröffentlicht (ABl. 2015, C 54, S. 80).

18

Die Norm EN 845-1:2013 sieht in ihrem Punkt 1 („Anwendungsbereich“) vor:

„Diese Europäische Norm legt Anforderungen an Maueranker, Zugbänder, Auflager und Konsolen zur Verbindung von Bauteilen aus Mauerwerk untereinander und zur Verbindung von Mauerwerk mit anderen Teilen von baulichen Anlagen und Gebäuden einschließlich Wänden, Geschossdecken, Trägern und Stützen fest. Sofern Anker oder Befestigungsmittel als Teil eines Ergänzungsbauteils geliefert werden oder als solches festgelegt sind, gelten die Anforderungen einschließlich der Leistungsanforderungen für das vollständige Produkt.

Diese Europäische Norm gilt nicht für:

a)

Anker und Befestigungsmittel, die nicht Teil eines Ergänzungsbauteils sind;

b)

Wandabfangungen;

…“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

19

Mit Entscheidung vom 18. Februar 2014 forderte das Amt Anstar gemäß Art. 59 der Verordnung Nr. 305/2011 auf, die Abgabe und den Verkauf von vier Produktgruppen mit einer CE-Kennzeichnung nach der Norm EN 1090‑1:2009+A1:2011 einzustellen sowie die Verwendung der CE-Kennzeichnung und der Leistungserklärung nach Art. 4 der Verordnung Nr. 305/2011 in allen Zusammenhängen, die diese vier Produktgruppen betreffen, bis zum 4. März 2014 einzustellen (im Folgenden: streitige Entscheidung).

20

Diese Entscheidung beschreibt die vier betroffenen Produktgruppen wie folgt:

„1.

Abhängesysteme, die zur Verbindung von Schalenelementen und Mauerwerkabfangungen mit dem Rahmenwerk von Gebäuden verwendet werden; …

2.

Ankerbolzen …;

Ankerplatten und Standard-Stahleinbauteile …;

Windverband-Systeme; …

3.

Stützen- und Wandschuhe; …

4.

Balkonanschlüsse“.

21

In der Entscheidung wird festgestellt, dass diese Produktgruppen nicht im Auftrag M 120 genannt seien und daher nicht in den Anwendungsbereich der Norm EN 1090‑1:2009+A1:2011 fielen.

22

Nach Angaben des Amtes sind nämlich für die Ankerbolzen, Ankerplatten, Standard-Stahleinbauteile, Windverband-Systeme und Stützenschuhe mit gleichem oder ähnlichem Verwendungszweck wie die Produkte der Anstar die Europäischen Technischen Zulassungen ETA‑02/0006 und ETA‑04/0056 ausgestellt worden. Da zum einen diese Zulassungen, die auf der Grundlage der Richtlinie 89/106 ausgestellt worden seien und Europäische Bewertungsdokumente im Sinne des Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 305/2011 darstellten, weiterhin gültig seien und zum anderen solche Zulassungen oder Dokumente nur für ein Produkt erlangt werden könnten, das nicht oder nicht vollständig in den Anwendungsbereich einer harmonisierten Norm falle, sei die Norm EN 1090‑1:2009+A1:2011 auf die genannten Produkte nicht anwendbar.

23

Die zur Verbindung von Schalenelementen und Mauerwerkabfangungen mit dem Rahmenwerk von Gebäuden verwendeten Abhängesysteme fielen in den Anwendungsbereich des Auftrags M 116. Daher sei die CE-Kennzeichnung dieser Abhängesysteme nur gerechtfertigt, wenn die auf der Grundlage des Auftrags M 116 ausgearbeitete harmonisierte Norm eingehalten werde.

24

Da nach Auffassung von Anstar die von ihr erzeugten Produkte von der Norm EN 1090‑1:2009+A1:2011 und dem Auftrag M 120 erfasst sind, erhob sie beim vorlegenden Gericht, dem Helsingin hallinto-oikeus (Verwaltungsgericht Helsinki, Finnland), Klage auf Nichtigerklärung der streitigen Entscheidung.

25

Anstar stützt diese Klage darauf, dass die in der streitigen Entscheidung aufgeführten Produktgruppen weder unter die Norm EN 845-1:2013, noch unter die Europäischen Technischen Zulassungen ETA‑02/0006 und ETA‑04/0056 fielen.

26

Das vorlegende Gericht stellt fest, dass die Beschreibungen des Anwendungsbereichs des Auftrags M 120 und der Norm EN 1090‑1:2009+A1:2011 weit und allgemein gefasst seien und die von Anstar hergestellten Produkte, die in der streitigen Entscheidung genannt seien, nicht zwangsläufig oder zumindest nicht zur Gänze ausschlössen, vorausgesetzt sie würden entsprechend der Leistungserklärung nach Art. 4 der Verordnung Nr. 305/2011 verwendet.

27

Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass das Gleiche für die Beschreibungen des Anwendungsbereichs des Auftrags M 116 und der Norm EN 845‑1:2013 gelte. Würden die von Anstar hergestellten Produkte von diesem Auftrag und dieser Norm erfasst, könnten sie nicht unter den Auftrag M 120 und die Norm EN 1090‑1:2009+A1:2011 fallen.

28

Letztlich schließt das vorlegende Gericht nicht aus, dass alle oder einige der von Anstar hergestellten Produkte unter die Europäischen Technischen Zulassungen ETA‑02/0006 und ETA‑04/0056 fallen könnten.

29

Das vorlegende Gericht hält es für erforderlich, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen, da der Anwendungsbereich der Norm EN 1090-1:2009+A1:2011 in den Mitgliedstaaten offenbar unterschiedlich beurteilt werde. Diese Beurteilungsunterschiede könnten Auswirkungen auf den freien Verkehr der Bauprodukte haben und damit eines der u. a. in den Erwägungsgründen 6 und 10 der Verordnung Nr. 305/2011 genannten ausdrücklichen Ziele dieser Verordnung vereiteln.

30

Vor diesem Hintergrund hat das Helsingin hallinto-oikeus (Verwaltungsgericht Helsinki) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Sind der Auftrag M 120 und die auf dessen Grundlage erstellte Norm EN 1090‑1:2009+A1:2011 dahin auszulegen, dass die in den Nrn. 1 bis 4 der streitigen Entscheidung aufgezählten Produkte zur Befestigung in Beton vor dessen Erhärten (Abhängesysteme, die zur Verbindung von Schalenelementen und Mauerwerkabfangungen mit dem Rahmenwerk eines Gebäudes verwendet werden, bestimmte Ankerbolzen, Ankerplatten und Standard-Stahleinbauteile, Windverband-Systeme, Stützen- und Wandschuhe sowie Balkonanschlüsse) nicht in ihren Anwendungsbereich fallen?

2.

Stehen die Verordnung Nr. 305/2011, die im vorliegenden Fall genannten Aufträge der Kommission oder das Unionsrecht der vom Amt vorgenommenen Auslegung, wonach die genannten Produkte nicht in den Anwendungsbereich des Auftrags M 120 und der Norm EN 1090‑1:2009+A1:2011 fallen, in sonstiger Hinsicht entgegen?

Zu den Vorlagefragen

31

Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Norm EN 1090‑1:2009+A1:2011 dahin auszulegen ist, dass Produkte wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die zur Befestigung in Beton vor dessen Erhärten dienen, in ihren Anwendungsbereich fallen.

32

Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof zuständig ist, eine harmonisierte Norm im Sinne von Art. 2 Nr. 11 der Richtlinie Nr. 305/2011, deren Fundstellen von der Kommission in der Ausgabe C des Amtsblatts der Europäischen Union veröffentlicht wurden, im Wege der Vorabentscheidung auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Oktober 2016, James Elliott Construction, C‑613/14, EU:C:2016:821, Rn. 47).

33

Wird dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen zur Auslegung einer solchen harmonisierten Norm vorgelegt, ist es jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, auf der Grundlage der vom Gerichtshof aufgezeigten Auslegung und im Hinblick auf den ihm vorliegenden Sachverhalt die auf ein bestimmtes Produkt anwendbare technische Norm zu bestimmen (vgl. entsprechend im Bereich der zolltariflichen Einreihung Urteile vom 7. November 2002, Lohmann und Medi Bayreuth, C‑260/00 bis C‑263/00, EU:C:2002:637, Rn. 26, sowie vom 28. April 2016, Oniors Bio, C‑233/15, EU:C:2016:305, Rn. 28).

34

Dabei ist für die Auslegung der Norm EN 1090-1:2009+A1:2011 erstens auf den Inhalt dieser Norm einschließlich ihrer Anhänge im Hinblick auf ihren Anwendungsbereich abzustellen.

35

Zweitens ist eine harmonisierte Norm im Licht des ihr zugrunde liegenden Auftrags (Mandats) auszulegen. Gemäß Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 305/2011 werden nämlich harmonisierte Normen von den in Anhang I der Richtlinie 98/34 aufgeführten europäischen Normungsgremien auf der Grundlage von Ersuchen der Kommission erstellt. Nach Art. 17 Abs. 5 dieser Verordnung hat die Kommission die Aufgabe, zu prüfen, ob die von den europäischen Normungsgremien erstellten harmonisierten Normen mit den dazugehörigen Mandaten übereinstimmen.

36

Daher ist der Anwendungsbereich einer harmonisierten Norm nicht weiter auszulegen als der Anwendungsbereich des ihr zugrunde liegenden Mandats (Auftrags).

37

Im vorliegenden Fall ist also die Norm EN 1090-1:2009+A1:2011 im Licht des Auftrags M 120 auszulegen.

38

Drittens ist, wenn ein Produkt, wie im Rahmen des Rechtsstreits des Ausgangsverfahrens, in den Anwendungsbereich mehrerer harmonisierter technischer Spezifikationen fallen könnte, zunächst zu untersuchen, ob die jüngste Norm nicht die Aufhebung der ältesten Norm bewirkt.

39

Insoweit ergibt sich aus Art. 17 Abs. 5 Unterabs. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 305/2011, dass für jede harmonisierte Norm in dem im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlichten Verzeichnis der Fundstellen harmonisierter Normen, die den jeweiligen Mandaten entsprechen, die Fundstellen „ersetzter harmonisierter technischer Spezifikationen“ anzugeben sind, was im Hinblick auf Art. 2 Nr. 10 dieser Verordnung sowohl die harmonisierten Normen als auch die Europäischen Bewertungsdokumente betrifft.

40

Wenn also eine harmonisierte Norm nicht ausdrücklich angibt, dass sie eine andere harmonisierte Norm oder eine oder mehrere Europäische Technische Bewertungen ersetzen soll, bleiben diese harmonisierten technischen Spezifikationen in Kraft und stellen eine abweichende Spezialregelung dar. Nach Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 305/2011 kann nämlich ein Europäisches Bewertungsdokument nur für ein Bauprodukt angenommen werden, das nicht oder nicht vollständig von einer harmonisierten Norm erfasst ist und dessen Leistung in Bezug auf seine wesentlichen Merkmale nicht vollständig anhand einer bestehenden harmonisierten Norm bewertet werden kann.

41

Diese Auslegung von Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 305/2011 wird außerdem durch Art. 21 Abs. 1 Buchst. a dieser Verordnung untermauert, wonach eine technische Bewertungsstelle, wenn sie einen Antrag auf eine Europäische Technische Bewertung erhält, die ein Produkt betrifft, das ganz von einer harmonisierten Norm erfasst ist, dem Hersteller mitteilt, dass nach Art. 19 Abs. 1 dieser Verordnung für das Produkt keine Europäische Technische Bewertung ausgestellt werden kann.

42

Außerdem trifft es zwar zu, dass Europäische Bewertungsdokumente im Sinne von Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 305/2011 ebenso wie Europäische Technische Zulassungen im Sinne von Art. 8 der durch diese Verordnung aufgehobenen Richtlinie 89/106 nur für Bauprodukte erstellt werden dürfen, die nicht oder nicht vollständig von einer harmonisierten Norm erfasst sind, dennoch obliegt die Auslegung dieser Normen, wie in Rn. 32 des vorliegenden Urteils ausgeführt, letztlich dem Gerichtshof und nicht dem Urheber solcher Dokumente oder Zulassungen. Daher kann der Gerichtshof, wenn er um Auslegung einer harmonisierten Norm ersucht wird, das Vorliegen eines Europäischen Bewertungsdokuments oder einer Europäischen Technischen Zulassung als einen von mehreren Anhaltspunkten berücksichtigen, nämlich sowohl als Indiz dafür, dass die von dem Europäischen Bewertungsdokument oder der Europäischen Technischen Zulassung erfassten Produkte sowie entsprechende Produkte von keiner harmonisierten Norm erfasst sind, ohne dass jedoch ein solcher Anhaltspunkt ausschlaggebend wäre oder den Gerichtshof daran hindern würde, gegebenenfalls zu einer anderen Auslegung der betreffenden harmonisierten Norm zu gelangen als der Urheber dieses Dokuments oder dieser Zulassung.

43

Doch im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht die Europäischen Technischen Zulassungen ETA‑02/0006 und ETA‑04/0056 zwar in seinem Ersuchen erwähnt, diese sind aber nicht in der dem Gerichtshof vorliegenden Akte enthalten, so dass der Gerichtshof sie für die Auslegung der Norm EN 1090‑1:2009+A1:2011 nicht berücksichtigen kann.

44

Viertens ist in Bezug auf Leitfäden, die von nationalen oder internationalen Normungsgremien herausgegeben werden, darauf hinzuweisen, dass solche Leitfäden, auch wenn sie den Anwendungsbereich der harmonisierten Normen, deren Fundstellen von der Kommission veröffentlicht werden, abstecken sollen, dennoch keine bindenden Rechtsakte in der Unionsrechtsordnung darstellen können. Daher haben sie keine Auswirkung auf die Auslegung einer harmonisierten Norm und binden auch nicht die nationalen Gerichte, selbst wenn sie einen nützlichen Wegweiser für die Umsetzung dieser Norm darstellen können.

45

Im vorliegenden Fall ergibt sich hinsichtlich der von der streitigen Entscheidung erfassten Produkte zunächst aus Punkt 1 der Norm EN 1090‑1:2009+A1:2011, der ihren „Anwendungsbereich“ absteckt, dass diese harmonisierte Norm zum einen Anforderungen an den Konformitätsnachweis von Stahlbauteilen, Aluminiumbauteilen und Bausätzen festlegt, die als Bauprodukte in Verkehr gebracht werden, und sich zum anderen mit dem Konformitätsnachweis von Stahlbauteilen befasst, die in Verbundtragwerken aus Stahl und Beton verwendet werden.

46

Außerdem bezeichnen „tragende Bauteile“ laut Punkt 3.1.9 dieser Norm Bauteile zur Sicherstellung der mechanischen Festigkeit und Stabilität und/oder des Feuerwiderstands.

47

Überdies stellt Punkt 4.5.1 der Norm EN 1090‑1:2009+A1:2011 klar, dass die Tragfähigkeitsmerkmale von Bauteilen, die von dieser Norm abgedeckt werden, u. a. ihre Tragfähigkeit umfassen.

48

Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass die Norm EN 1090‑1:2009+A1:2011 auf Bauprodukte Anwendung finden soll, die eine Trägerfunktion haben, d. h. auf diejenigen Produkte, deren Entfernung aus einem Bauwerk unmittelbar dessen Standfestigkeit verringern würde. Die Funktion des tragenden Bauteils in der gesamten Tragekonstruktion des Bauwerks muss also wesentlich sein.

49

Nach alledem ist auf die Fragen des vorlegenden Gerichts zu antworten, dass die Norm EN 1090‑1:2009+A1:2011 dahin auszulegen ist, dass Produkte wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die zur Befestigung in Beton vor dessen Erhärten dienen, in ihren Anwendungsbereich fallen, wenn sie eine Trägerfunktion in dem Sinne haben, dass ihre Entfernung aus einem Bauwerk unmittelbar dessen Standfestigkeit verringern würde.

[Berichtigt durch Beschluss vom 20. März 2018] Kosten

50

[Berichtigt durch Beschluss vom 20. März 2018] Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

 

Die Norm EN 1090-1:2009+A1:2011 („Ausführung von Stahltragwerken und Aluminiumtragwerken – Teil 1: Konformitätsnachweisverfahren für tragende Bauteile“) ist dahin auszulegen, dass Produkte wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die zur Befestigung in Beton vor dessen Erhärten dienen, in ihren Anwendungsbereich fallen, wenn sie eine Trägerfunktion in dem Sinne haben, dass ihre Entfernung aus einem Bauwerk unmittelbar dessen Standfestigkeit verringern würde.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Finnisch.

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Referenzen

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