Urteil vom Europäischer Gerichtshof - C-64/16
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
27. Februar 2018 ( *1 )
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 19 Abs. 1 EUV – Rechtsbehelfe – Wirksamer Rechtsschutz – Richterliche Unabhängigkeit – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 – Kürzung der Bezüge im nationalen öffentlichen Dienst – Sparmaßnahmen“
In der Rechtssache C‑64/16
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Supremo Tribunal Administrativo (Oberster Verwaltungsgerichtshof, Portugal) mit Entscheidung vom 7. Januar 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 5. Februar 2016, in dem Verfahren
Associação Sindical dos Juízes Portugueses
gegen
Tribunal de Contas
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, T. von Danwitz, J. L. da Cruz Vilaça, A. Rosas, E. Levits (Berichterstatter) und C. G. Fernlund, der Richterin C. Toader, der Richter M. Safjan und D. Šváby, der Richterinnen M. Berger und A. Prechal sowie der Richter E. Jarašiūnas und E. Regan,
Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. Februar 2017,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– |
der Associação Sindical dos Juízes Portugueses, vertreten durch M. Rodrigues, advogado, |
– |
der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, M. Figueiredo, M. Rebelo, F. Almeida und V. Silva als Bevollmächtigte, |
– |
der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Flynn und M. França als Bevollmächtigte, |
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 18. Mai 2017
folgendes
Urteil
1 |
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). |
2 |
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Associação Sindical dos Juízes Portugueses (Gewerkschaft der portugiesischen Richter, im Folgenden: ASJP) und dem Tribunal de Contas (Rechnungshof, Portugal) wegen der vorübergehenden Kürzung der Bezüge der Mitglieder des Tribunal de Contas (Rechnungshof) im Rahmen der haushaltspolitischen Leitlinien des portugiesischen Staates. |
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 |
Art. 2 EUV lautet: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ |
4 |
Art. 19 Abs. 1 und 2 EUV bestimmt: „(1) Der Gerichtshof der Europäischen Union umfasst den Gerichtshof, das Gericht und Fachgerichte. Er sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge. Die Mitgliedstaaten schaffen die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist. (2) … Als Richter und Generalanwälte des Gerichtshofs und als Richter des Gerichts sind Persönlichkeiten auszuwählen, die jede Gewähr für Unabhängigkeit bieten …“ |
Portugiesisches Recht
5 |
Mit der Lei n.° 75/2014 – Estabelece os mecanismos das reduções remuneratórias temporárias e as condições da sua reversão (Gesetz Nr. 75/2014 – Festlegung der Mechanismen zur vorübergehenden Kürzung der Bezüge und der Bedingungen für ihre Rückgängigmachung) vom 12. September 2014 (Diário da República, Reihe I, Nr. 176 vom 12. September 2014, S. 4896, im Folgenden: Gesetz Nr. 75/2014) wird die vorübergehende Kürzung der Bezüge im öffentlichen Dienst geregelt (Art. 1 Abs. 1 des Gesetzes). |
6 |
Art. 2 des Gesetzes Nr. 75/2014 bestimmt: „1 – Die monatlichen Gesamt-Bruttobezüge von Personen im Sinne von Abs. 9, die 1500 Euro übersteigen, werden unabhängig davon, ob diese Personen zu diesem Zeitpunkt ihrer Tätigkeit nachgingen oder sie zu einem späteren Zeitpunkt, auf welcher Grundlage auch immer, aufgenommen haben, nach folgenden Maßgaben herabgesetzt:
… 9 – Das vorliegende Gesetz findet auf die Inhaber öffentlicher Ämter sowie die nachstehend genannten Personen Anwendung:
… 15 – Die Regelung nach diesem Artikel ist zwingend und hat Vorrang vor allen ihr entgegenstehenden Bestimmungen, unabhängig davon, ob es sich um besondere oder Ausnahmebestimmungen handelt, sowie vor Kollektivvereinbarungen und Arbeitsverträgen und kann durch diese weder aufgehoben noch geändert werden.“ |
7 |
Die durch das Gesetz Nr. 75/2014 eingeführten Kürzungen wurden durch die Lei n.° 159-A/2015 – Extinção da redução remuneratória na Administração Pública (Gesetz Nr. 159‑A/2015 – Aufhebung der Kürzung der Bezüge im öffentlichen Dienst) vom 30. Dezember 2015 (Diário da República, Reihe I, Nr. 254 vom 30. Dezember 2015, S. 10006-[4], im Folgenden: Gesetz Nr. 159‑A/2015) ab dem 1. Januar 2016 schrittweise aufgehoben. |
8 |
Art. 1 des Gesetzes Nr. 159‑A/2015 lautet: „Durch dieses Gesetz wird die gemäß dem Gesetz [Nr. 75/2014] erfolgte Kürzung der Bezüge nach dem im folgenden Artikel bestimmten Zeitplan aufgehoben.“ |
9 |
Art. 2 des Gesetzes Nr. 159‑A/2015 lautet: „Die gemäß dem Gesetz [Nr. 75/2014] erfolgte Kürzung der Bezüge wird im Jahr 2016 nach folgendem Zeitplan in Vierteljahresschritten aufgehoben:
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10 |
Nach der Lei n.° 98/97 de Organização e Processo do Tribunal de Contas (Gesetz Nr. 98/97 über die Organisation und das Verfahren des Tribunal de Contas [Rechnungshof]) vom 26. August 1997 (Diário da República, Reihe I‑A, Nr. 196 vom 26. August 1997) ist das Tribunal de Contas (Rechnungshof) u. a. für die Kontrolle der Erhebung von Eigenmitteln der Union und der Verwendung finanzieller Mittel, die von der Union gewährt werden, zuständig. Es kann hierzu mit den zuständigen Stellen der Union zusammenarbeiten (Art. 5 Abs. 1 Buchst. h des Gesetzes). Das Tribunal de Contas (Rechnungshof) ist ferner für die Vorabkontrolle („visto“) der Rechtmäßigkeit von Rechtsakten, Verträgen oder anderen Handlungen zuständig, die zu Ausgaben oder der Aufnahme von Krediten durch den Staat führen, insbesondere im Zusammenhang mit der Vergabe öffentlicher Aufträge (Art. 44 und 96 des Gesetzes). |
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
11 |
Mit dem Gesetz Nr. 75/2014 senkte der portugiesische Gesetzgeber bei einer ganzen Reihe von Personen, die ein öffentliches Amt innehaben oder Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnehmen, ab Oktober 2014 vorübergehend die Bezüge. Mit Verwaltungsakten betreffend die „Bearbeitung der Bezüge“, die auf der Grundlage dieses Gesetzes erlassen wurden, wurden auch die Bezüge der Mitglieder des Tribunal de Contas (Rechnungshof) gekürzt. |
12 |
Die ASJP erhob im Namen von Mitgliedern des Tribunal de Contas (Rechnungshof) beim Supremo Tribunal Administrativo (Oberster Verwaltungsgerichtshof, Portugal) Klage auf Aufhebung der die Bezüge für den Monat Oktober 2014 und die Folgemonate betreffenden Verwaltungsakte, auf Nachzahlung der vorgenommenen Kürzungen nebst Verzugszinsen in gesetzlicher Höhe und auf Feststellung, dass die Betroffenen Anspruch auf Zahlung ihrer vollen Bezüge haben. |
13 |
Die ASJP macht zur Stützung dieser Klage geltend, die Kürzung der Bezüge verstoße gegen den „Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit“, der nicht nur in der portugiesischen Verfassung verankert sei, sondern auch im Unionsrecht, und zwar in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und in Art. 47 der Charta. |
14 |
Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts hingen die Maßnahmen zur vorübergehenden Kürzung der Bezüge im öffentlichen Dienst damit zusammen, dass sich der portugiesische Staat gezwungen sah, das übermäßige Haushaltsdefizit, das er im Jahr 2011 zu verzeichnen hatte, abzubauen. Die Maßnahmen seien im Rahmen des Unionsrechts ergriffen worden oder zumindest darauf zurückzuführen, weil die portugiesische Regierung durch Beschlüsse der Union, mit denen Portugal u. a. eine Finanzhilfe erhalten habe, zum Abbau des Defizits verpflichtet worden sei. |
15 |
Der von den Unionsorganen anerkannte Wertungsspielraum, über den der portugiesische Staat bei der Umsetzung der Leitlinien für seine Haushaltspolitik verfüge, entbinde ihn jedoch nicht von seiner Verpflichtung, die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts zu beachten, u. a. den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit, der sowohl für die Unionsgerichte als auch für die nationalen Gerichte gelte. |
16 |
Wie sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergebe, werde der wirksame Schutz der sich aus der Unionsrechtsordnung ergebenden Rechte nämlich in erster Linie durch die nationalen Gerichte gewährleistet, die dabei die in Art. 47 der Charta niedergelegten Grundsätze der Unabhängigkeit und der Unparteilichkeit beachten müssten. |
17 |
Dabei hänge die Unabhängigkeit der Gerichte von den Garantien ab, die der Status als Mitglied des Gerichts gewähre, auch im Hinblick auf die Besoldung. |
18 |
Der Supremo Tribunal Administrativo (Oberster Verwaltungsgerichtshof) hat das Verfahren deshalb ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt: Ist angesichts der Erfordernisse des Abbaus des übermäßigen Haushaltsdefizits und des durch europäische Vorschriften geregelten finanziellen Beistands der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit, wie er sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 47 der Charta und der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, in dem Sinne auszulegen, dass er den Maßnahmen zur Kürzung der Bezüge, denen die Richter in Portugal unterworfen sind, entgegensteht, die einseitig von anderen Gewalten/Verfassungsorganen fortdauernd auferlegt werden, wie sich aus Art. 2 des Gesetzes Nr. 75/2014 ergibt? |
Zur Vorlagefrage
Zur Zulässigkeit
19 |
Die Europäische Kommission macht geltend, das vorlegende Gericht habe in der Vorlageentscheidung nicht dargelegt, aus welchen Gründen es die Auslegung gerade der von ihm angeführten Bestimmungen des Unionsrechts begehre. |
20 |
Hierzu ist festzustellen, dass aus dem Geist der Zusammenarbeit, in dem das Vorabentscheidungsverfahren durchzuführen ist, folgt, dass es unerlässlich ist, dass das nationale Gericht in seiner Vorlageentscheidung die genauen Gründe darlegt, aus denen es eine Beantwortung seiner Fragen nach der Auslegung bestimmter Vorschriften des Unionsrechts für entscheidungserheblich hält (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Mai 2016, Philip Morris Brands u. a., C‑547/14, EU:C:2016:325, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
21 |
Im vorliegenden Fall enthält die Vorlageentscheidung hinreichende Angaben zu den Gründen, aus denen das vorlegende Gericht für die Zwecke des Ausgangsverfahrens um eine Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta ersucht. |
22 |
Die portugiesische Regierung hält das Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig, weil die ab dem 1. Oktober 2014 erfolgte Senkung der Bezüge im öffentlichen Dienst durch das Gesetz Nr. 159‑A/2015 mit Wirkung vom 1. Oktober 2016 in vollem Umfang aufgehoben worden sei. Dadurch sei das Vorbringen, mit der Senkung der Bezüge sei gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit verstoßen worden, gegenstandslos geworden. |
23 |
Hierzu ist festzustellen, dass der Gerichtshof die Entscheidung über ein Ersuchen eines nationalen Gerichts u. a. dann verweigern kann, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder das Problem hypothetischer Natur ist (vgl. u. a. Urteil vom 21. Dezember 2016, Associazione Italia Nostra Onlus, C‑444/15, EU:C:2016:978, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
24 |
Wie der Generalanwalt in Nr. 32 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits die Aufhebung der Verwaltungsakte, mit denen die Bezüge der Mitglieder des Tribunal de Contas (Rechnungshof) gekürzt wurden, und die Zahlung der gemäß dem Gesetz Nr. 75/2014 vorgenommenen Kürzungen. |
25 |
Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt sich, dass die zwischen Oktober 2014 und Oktober 2016 von den Bezügen einbehaltenen Beträge den betreffenden Personen noch nicht gezahlt wurden. Der Ausgangsrechtsstreit ist demnach nicht gegenstandslos geworden, so dass die Unzulässigkeitseinrede der portugiesischen Regierung zurückzuweisen ist. |
26 |
Das Vorabentscheidungsersuchen ist somit zulässig. |
Zur Beantwortung der Vorlagefrage
27 |
Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass es nicht mit dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit vereinbar ist, dass auf Mitglieder der rechtsprechenden Gewalt eines Mitgliedstaats allgemeine Maßnahmen zur Kürzung von Bezügen wie die, um die es im Ausgangsverfahren geht, Anwendung finden, die mit der Notwendigkeit des Abbaus eines übermäßigen Haushaltsdefizits und einem Finanzhilfeprogramm der Union zusammenhängen. |
28 |
Da die Klägerin des Ausgangsverfahrens ausschließlich im Namen der Mitglieder des Tribunal de Contas (Rechnungshof) handelt, ist für die Beantwortung der Vorlagefrage nur auf deren Situation abzustellen. |
29 |
Zunächst ist zum sachlichen Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV festzustellen, dass diese Bestimmung in „den vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ Anwendung findet. Insoweit kommt es nicht darauf an, in welchem Kontext die Mitgliedstaaten Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführen. |
30 |
Nach Art. 2 EUV gründet sich die Union auf Werte wie die Rechtsstaatlichkeit, die allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft, die sich u. a. durch Gerechtigkeit auszeichnet, gemeinsam sind. Das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten und insbesondere zwischen deren Gerichten beruht auf der Prämisse, dass die Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilen, auf die sich, wie es in Art. 2 EUV heißt, die Union gründet (vgl. in diesem Sinne Gutachten 2/13 [Beitritt der Union zur EMRK] vom 18. Dezember 2014, EU:C:2014:2454, Rn. 168). |
31 |
Die Union ist eine Rechtsunion, in der den Betroffenen das Recht zusteht, die Rechtmäßigkeit nationaler Entscheidungen oder jeder anderen nationalen Handlung, mit der eine Handlung der Union auf sie angewandt wird, gerichtlich anzufechten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Oktober 2013, Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat, C‑583/11 P, EU:C:2013:625, Rn. 91 und 94 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). |
32 |
Art. 19 EUV, mit dem der Wert der in Art. 2 EUV proklamierten Rechtsstaatlichkeit konkretisiert wird, überträgt die Aufgabe, in der Rechtsordnung der Union die gerichtliche Kontrolle zu gewährleisten, nicht nur dem Gerichtshof, sondern auch den nationalen Gerichten (vgl. in diesem Sinne Gutachten 1/09 [Übereinkommen zur Schaffung eines einheitlichen Patentgerichtssystems] vom 8. März 2011, EU:C:2011:123, Rn. 66, sowie Urteile vom 3. Oktober 2013, Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat, C‑583/11 P, EU:C:2013:625, Rn. 90, und vom 28. April 2015, T & L Sugars und Sidul Açúcares/Kommission, C‑456/13 P, EU:C:2015:284, Rn. 45). |
33 |
Die nationalen Gerichte erfüllen dabei in Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof eine Aufgabe, die ihnen gemeinsam übertragen ist, um die Wahrung des Rechts bei der Anwendung und Auslegung der Verträge zu sichern (vgl. in diesem Sinne Gutachten 1/09[Übereinkommen zur Schaffung eines einheitlichen Patentgerichtssystems] vom 8. März 2011, EU:C:2011:123, Rn. 69, und Urteil vom 3. Oktober 2013, Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat, C‑583/11 P, EU:C:2013:625, Rn. 99). |
34 |
Demnach haben die Mitgliedstaaten u. a. aufgrund des in Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 1 EUV niedergelegten Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit in ihrem Hoheitsgebiet für die Anwendung und Wahrung des Unionsrechts zu sorgen (vgl. in diesem Sinne Gutachten 1/09[Übereinkommen zur Schaffung eines einheitlichen Patentgerichtssystems] vom 8. März 2011, EU:C:2011:123, Rn. 68). Damit in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen ein wirksamer Rechtsschutz gewährleistet ist, müssen sie die erforderlichen Rechtsbehelfe schaffen (Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV), d. h. ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorsehen, mit dem in diesen Bereichen eine wirksame gerichtliche Kontrolle gewährleistet ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Oktober 2013, Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat, C‑583/11 P, EU:C:2013:625, Rn. 100 und 101 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). |
35 |
Der Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Schutzes der Rechte aus dem Unionsrecht, von dem in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die Rede ist, ist nämlich ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt; er ist in den Art. 6 und 13 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und nun auch in Art. 47 der Charta verankert (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. März 2007, Unibet, C‑432/05, EU:C:2007:163, Rn. 37, und vom 22. Dezember 2010, DEB, C‑279/09, EU:C:2010:811, Rn. 29 bis 33). |
36 |
Schon das Vorhandensein einer wirksamen, zur Gewährleistung der Einhaltung des Unionsrechts dienenden gerichtlichen Kontrolle ist dem Wesen eines Rechtsstaats inhärent (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. März 2017, Rosneft, C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
37 |
Deshalb hat jeder Mitgliedstaat dafür zu sorgen, dass Einrichtungen, die als Gerichte im Sinne des Unionsrechts Bestandteil seines Rechtsbehelfssystems sind, in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gewähren. |
38 |
Bei der Beurteilung der Frage, ob es sich bei einer Einrichtung um ein „Gericht“ handelt, ist u. a. darauf abzustellen, auf welcher gesetzlichen Grundlage die Einrichtung beruht, ob sie auf Dauer angelegt ist, ob ihre Entscheidungen verbindlich sind, ob das Verfahren kontradiktorisch ist, ob Rechtsnormen angewendet werden und ob die Einrichtung unabhängig ist (Urteil vom 16. Februar 2017, Margarit Panicello, C‑503/15, EU:C:2017:126, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
39 |
Nach den Angaben, über die der Gerichtshof verfügt und die vom vorlegenden Gericht zu überprüfen sind, kann das Tribunal de Contas (Rechnungshof) in Anwendung des oben in Rn. 10 angeführten Gesetzes Nr. 98/97 mit Fragen befasst werden, die die Eigenmittel der Union und die Verwendung von der Union gewährter finanzieller Mittel betreffen. Solche Fragen können die Anwendung oder die Auslegung des Unionsrechts betreffen (vgl. u. a. Urteil vom 26. Mai 2016, Județul Neamț und Județul Bacău, C‑260/14 und C‑261/14, EU:C:2016:360). Dasselbe gilt für Fragen zur Vorabkontrolle („visto“) der Rechtmäßigkeit von Rechtsakten, Verträgen oder anderen Handlungen, die zu Ausgaben oder zur Aufnahme von Krediten durch den Staat führen, u. a. im Rahmen der Vergabe öffentlicher Aufträge, mit denen der Rechnungshof nach dem Gesetz Nr. 98/97 ebenfalls befasst werden kann. |
40 |
Soweit das Tribunal de Contas (Rechnungshof) als „Gericht“ in dem oben in Rn. 38 genannten Sinne über Fragen der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden hat, was das vorlegende Gericht zu überprüfen hat, muss der betreffende Mitgliedstaat dafür sorgen, dass die Einrichtung im Einklang mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gewährt. |
41 |
Zur Gewährleistung dieses Schutzes ist die Unabhängigkeit der Einrichtung von grundlegender Bedeutung, wie Art. 47 Abs. 2 der Charta bestätigt, wonach zu den Anforderungen im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf wirksamen Rechtsschutz u. a. der Zugang zu einem „unabhängigen“ Gericht gehört. |
42 |
Die Unabhängigkeit, die dem Auftrag des Richters inhärent ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. September 2006, Wilson, C‑506/04, EU:C:2006:587, Rn. 49, vom 14. Juni 2017, Online Games u. a., C‑685/15, EU:C:2017:452, Rn. 60, und vom 13. Dezember 2017, El Hassani, C‑403/16, EU:C:2017:960, Rn. 40), ist nicht nur auf der Ebene der Union für die Richter der Union und die Generalanwälte des Gerichtshofs zu gewährleisten (Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 3 EUV), sondern auch auf der Ebene der Mitgliedstaaten für die nationalen Gerichte. |
43 |
Die Unabhängigkeit der nationalen Gerichte ist insbesondere für das reibungslose Funktionieren des Systems der justiziellen Zusammenarbeit von grundlegender Bedeutung. Eine Form dieser Zusammenarbeit ist der Mechanismus des Vorabentscheidungsersuchens gemäß Art. 267 AEUV. Nach der oben in Rn. 38 angeführten ständigen Rechtsprechung ist die Vorlageberechtigung von Einrichtungen, die mit der Anwendung des Unionsrechts betraut sind, u. a. daran geknüpft, dass sie unabhängig sind. |
44 |
Der Begriff der Unabhängigkeit setzt u. a. voraus, dass die betreffende Einrichtung ihre richterlichen Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, und dass sie auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. September 2006, Wilson, C‑506/04, EU:C:2006:587, Rn. 51, und vom 16. Februar 2017, Margarit Panicello, C‑503/15, EU:C:2017:126, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
45 |
Neben der Nichtabsetzbarkeit der Mitglieder der betreffenden Einrichtung (vgl. u. a. Urteile vom 19. September 2006, Wilson, C‑506/04, EU:C:2006:587, Rn. 51) stellt auch eine der Bedeutung der ausgeübten Funktionen entsprechende Vergütung eine wesentliche Garantie für die richterliche Unabhängigkeit dar. |
46 |
Im vorliegenden Fall erfolgte die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Kürzung der Bezüge nach den Angaben des vorlegenden Gerichts, weil es im Zusammenhang mit einem Finanzhilfeprogramm der Union erforderlich gewesen sei, das übermäßige Haushaltsdefizit des portugiesischen Staates abzubauen. |
47 |
Diese Maßnahmen sahen eine begrenzte Absenkung der Bezüge um einen von ihrer Höhe abhängigen Prozentsatz vor. |
48 |
Die Maßnahmen galten nicht nur für die Mitglieder des Tribunal de Contas (Rechnungshof), sondern allgemeiner für eine ganze Reihe von Inhabern öffentlicher Ämter und von Personen, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnehmen, darunter die Repräsentanten der gesetzgebenden, der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt. |
49 |
Die Maßnahmen richteten sich also nicht speziell gegen die Mitglieder des Tribunal de Contas (Rechnungshof). Es handelte sich vielmehr um allgemeine Maßnahmen, mit denen dem gesamten nationalen öffentlichen Dienst ein Beitrag zu den Einsparungen abverlangt wurde, die zum Abbau des übermäßigen Haushaltsdefizits des portugiesischen Staates erforderlich waren. |
50 |
Wie schließlich aus dem Titel des Gesetzes Nr. 75/2014 und aus dem Wortlaut seines Art. 1 Abs. 1 hervorgeht, handelte es sich bei den durch dieses Gesetz eingeführten Kürzungen der Bezüge, die am 1. Oktober 2014 in Kraft traten, um vorübergehende Maßnahmen. Sie wurden im Jahr 2016 schrittweise aufgehoben und mit dem Gesetz Nr. 159-A/2015 am 1. Oktober 2016 endgültig beendet. |
51 |
Unter diesen Umständen kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Maßnahmen zur Kürzung der Bezüge, um die es im Ausgangsverfahren geht, die Unabhängigkeit der Mitglieder des Tribunal de Contas (Rechnungshof) beeinträchtigten. |
52 |
Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass es mit dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit vereinbar ist, wenn auf die Mitglieder des Tribunal de Contas (Rechnungshof) allgemeine Maßnahmen zur Kürzung von Bezügen wie die, um die es im Ausgangsverfahren geht, Anwendung finden, die mit der Notwendigkeit des Abbaus eines übermäßigen Haushaltsdefizits und einem Finanzhilfeprogramm der Union zusammenhängen. |
Kosten
53 |
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. |
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: |
Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist dahin auszulegen, dass es mit dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit vereinbar ist, wenn auf die Mitglieder des Tribunal de Contas (Rechnungshof, Portugal) allgemeine Maßnahmen zur Kürzung von Bezügen wie die, um die es im Ausgangsverfahren geht, Anwendung finden, die mit der Notwendigkeit des Abbaus eines übermäßigen Haushaltsdefizits und einem Finanzhilfeprogramm der Europäischen Union zusammenhängen. |
Unterschriften |
( *1 ) Verfahrenssprache: Portugiesisch.
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Referenzen
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