Urteil vom Europäischer Gerichtshof - C-370/16
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)
30. Mai 2018 ( *1 )
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union – Protokoll Nr. 7 – Art. 1 – Notwendigkeit einer vorherigen Ermächtigung durch den Gerichtshof – Strukturfonds – Finanzielle Beteiligung durch die Europäische Union – Pfändungsverfahren gegenüber einer mitgliedstaatlichen Behörde in Bezug auf Beträge, die aus dieser Beteiligung stammen“
In der Rechtssache C‑370/16
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale di Novara (Gericht von Novara, Italien) mit Entscheidung vom 21. Januar 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Juli 2016, in dem Verfahren
Bruno Dell’Acqua
gegen
Eurocom Srl,
Regione Lombardia,
Beteiligte:
Renato Quattrocchi,
Antonella Pozzoli,
Loris Lucini,
Diego Chierici,
Nicoletta Malaraggia,
Elio Zonca,
Sonia Fusi,
Danilo Cattaneo,
Alberto Terraneo,
Luigi Luzzi,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen (Berichterstatter) sowie der Richter J. Malenovský, M. Safjan, D. Šváby und M. Vilaras,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– |
der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von F. Di Matteo, avvocato dello Stato, |
– |
der Europäischen Kommission, vertreten durch P. Arenas und D. Nardi als Bevollmächtigte, |
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 26. Juli 2017
folgendes
Urteil
1 |
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Satz 3 des Protokolls (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union (ABl. 2010, C 83, S. 266, im Folgenden: Protokoll). |
2 |
Es ergeht im Rahmen eines von Herrn Bruno Dell’Acqua angestrengten Vollstreckungsverfahrens gegen die Eurocom Srl in Form einer Drittpfändung bei der Regione Lombardia (Region Lombardei, Italien). |
Rechtlicher Rahmen
Protokoll
3 |
Art. 1 Satz 3 des Protokolls bestimmt, dass „[d]ie Vermögensgegenstände und Guthaben der Union … ohne Ermächtigung des Gerichtshofs nicht Gegenstand von Zwangsmaßnahmen der Verwaltungsbehörden oder Gerichte sein [dürfen]“. |
Verordnung (EG) Nr. 1083/2006
4 |
Art. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates vom 11. Juli 2006 mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds und den Kohäsionsfonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1260/1999 (ABl. 2006, L 210, S. 25) sieht vor, dass diese Verordnung die allgemeinen Bestimmungen u. a. für den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) und den Europäischen Sozialfonds (ESF), die Strukturfonds genannt werden, enthält. |
5 |
Gemäß Art. 3 Abs. 2 Buchst. a dieser Verordnung stellt „das Ziel ‚Konvergenz‘“, das in der Beschleunigung der Konvergenz der Mitgliedstaaten und Regionen mit dem größten Entwicklungsrückstand besteht, die Priorität der Strukturfonds und des Kohäsionsfonds (im Folgenden: Fonds) dar. |
6 |
Art. 9 Abs. 1 der Verordnung bestimmt: „Die Fonds ergänzen mit ihren Interventionen die nationalen Aktionen, einschließlich der Aktionen auf regionaler und lokaler Ebene, und integrieren so in diese Maßnahmen die Prioritäten der Gemeinschaft.“ |
7 |
Gemäß Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1083/2006 „[erfolgt d]ie Verwirklichung der Ziele der Fonds … im Rahmen einer engen Zusammenarbeit zwischen der Kommission und dem betreffenden Mitgliedstaat (nachstehend ‚Partnerschaft‘ genannt)“. |
8 |
Die Ausführung der den Fonds zugewiesenen Haushaltsmittel der Europäischen Union erfolgt nach Art. 14 Abs. 1 der Verordnung im Rahmen der zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission geteilten Mittelverwaltung. |
9 |
Art. 32 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1083/2006 sieht vor, dass jedes operationelle Programm für einen Zeitraum zwischen dem 1. Januar 2007 und dem 31. Dezember 2013 gilt. Jedes operationelle Programm wird gemäß Art. 32 Abs. 2 dieser Verordnung vom Mitgliedstaat ausgearbeitet und dann gemäß Art. 32 Abs. 4 und 5 von der Kommission angenommen. |
10 |
Gemäß Art. 37 Abs. 1 Buchst. g Ziff. iii der Verordnung umfassen die operationellen Programme im Rahmen der Ziele „Konvergenz“ sowie „Regionale Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung“ Angaben über die für die Entgegennahme der von der Kommission geleisteten Zahlungen zuständige Stelle sowie über die für die Zahlungen an die Begünstigten zuständige(n) Stelle(n). |
11 |
Gemäß Art. 61 Buchst. a der Verordnung Nr. 1083/2006 hat die für ein operationelles Programm zuständige Bescheinigungsbehörde insbesondere die Aufgabe, bescheinigte Ausgabenerklärungen und Zahlungsanträge zu erstellen und der Kommission zu übermitteln. |
12 |
Art. 70 Abs. 1 und 2 der Verordnung bestimmt: „(1) Die Mitgliedstaaten sind zuständig für die Verwaltung und Kontrolle der operationellen Programme und treffen hierzu insbesondere folgende Maßnahmen: …
(2) Können rechtsgrundlos an einen Begünstigten gezahlte Beträge nicht wieder eingezogen werden, so haftet der Mitgliedstaat für die Erstattung der verlorenen Beträge an den Gesamthaushalt der Europäischen Union, wenn nachgewiesen wird, dass der Verlust durch einen ihm anzulastenden Fehler oder durch seine Fahrlässigkeit entstanden ist.“ |
13 |
Art. 76 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1083/2006 lautet: „(1) Die Fondsbeteiligung wird von der Kommission entsprechend den Mittelzuweisungen gezahlt. Alle Zahlungen werden den jeweils ältesten offenen Mittelbindungen des betreffenden Fonds zugeordnet. (2) Die Zahlungen können als Vorschusszahlung, Zwischenzahlungen oder Restzahlungen geleistet werden. Sie werden an die vom Mitgliedstaat benannte Stelle gerichtet.“ |
14 |
Art. 80 der Verordnung bestimmt: „Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass die mit den Zahlungen beauftragten Stellen darauf achten, dass die Begünstigten den Gesamtbetrag der öffentlichen Beteiligung so bald wie möglich und vollständig erhalten. Der den Begünstigten zu zahlende Betrag wird durch keinerlei Abzüge, Einbehalte, später erhobene spezifische Abgaben oder Ähnliches verringert.“ |
15 |
Art. 93 Abs. 1 und 3 der Verordnung sieht vor: „(1) Die Kommission hebt automatisch den Teil der Mittelbindung für das operationelle Programm auf, der nicht für die Vorschusszahlung oder für Zwischenzahlungen in Anspruch genommen wurde oder für den bis zum 31. Dezember des zweiten Jahres nach dem Jahr der Mittelbindung im Rahmen des Programms kein Zahlungsantrag gemäß Artikel 86 übermittelt worden ist; dies gilt jedoch nicht für die in Absatz 2 genannte Ausnahme. … (3) Der am 31. Dezember 2015 noch offene Teil der Mittelbindungen wird automatisch aufgehoben, wenn bis zum 31. März 2017 für diese kein zulässiger Zahlungsantrag bei der Kommission eingegangen ist.“ |
16 |
Art. 93 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1083/2006 in der durch die Verordnung (EG) Nr. 539/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Juni 2010 (ABl. 2010, L 158, S. 1) geänderten Fassung bestimmt: „Die Kommission hebt automatisch den Teil des Betrags, der gemäß Unterabsatz 2 für das operationelle Programm berechnet wurde, auf, der nicht für die Vorschusszahlung oder für Zwischenzahlungen in Anspruch genommen wurde oder für den bis zum 31. Dezember des zweiten Jahres nach dem Jahr der Mittelbindung im Rahmen des Programms kein Zahlungsantrag gemäß Artikel 86 übermittelt worden ist; dies gilt jedoch nicht für die in Absatz 2 genannte Ausnahme. Für den Zweck der automatischen Aufhebung der Mittelbindung berechnet die Kommission den Betrag, indem sie zu den Mittelbindungen 2008 bis 2013 jeweils ein Sechstel der jährlichen Mittelbindung bezogen auf die jährliche Gesamtbeteiligung für 2007 hinzurechnet.“ |
Verordnung (EU) Nr. 1303/2013
17 |
Die Verordnung (EU) Nr. 1303/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 mit gemeinsamen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds, den Kohäsionsfonds, den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds sowie mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds, den Kohäsionsfonds und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds und zur Aufhebung der Verordnung Nr. 1083/2006 (ABl. 2013, L 347, S. 320) bestimmt in Art. 26 Abs. 1: „[Der EFRE, der ESF, der Kohäsionsfonds, der Europäische Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raumes und der Europäische Meeres- und Fischereifonds, für die ein gemeinsamer Rahmen gilt,] werden durch Programme im Einklang mit der Partnerschaftsvereinbarung genutzt. Jedes Programm deckt den Zeitraum vom 1. Januar 2014 bis zum 31. Dezember 2020 ab.“ |
18 |
Art. 132 Abs. 1 dieser Verordnung sieht vor: „Vorbehaltlich verfügbarer Mittel aus der ersten oder den späteren Vorschusszahlungen und den Zwischenzahlungen sorgt die Verwaltungsbehörde dafür, dass ein Begünstigter den Gesamtbetrag der fälligen förderfähigen öffentlichen Ausgaben vollständig und spätestens 90 Tage nach dem Tag der Einreichung des Auszahlungsantrags durch den Begünstigten erhält. Es werden keine Abzüge vorgenommen oder Beträge einbehalten[,] und es werden keine besonderen Abgaben oder andere Abgaben gleicher Wirkung erhoben, die die den Begünstigten zustehenden Beträge verringern würden.“ |
19 |
Art. 152 Abs. 1 der Verordnung bestimmt: „Diese Verordnung berührt weder die Fortsetzung noch die Änderung, einschließlich der vollständigen oder teilweisen Einstellung, der Unterstützung, die von der Kommission auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 … genehmigt wurde. Jene Verordnung … finde[t] daher bis zur Beendigung der Unterstützung oder der betreffenden Vorhaben nach dem 31. Dezember 2013 weiterhin Anwendung. …“ |
20 |
Art. 153 der Verordnung sieht vor, dass die Verordnung Nr. 1083/2006 „[u]nbeschadet der Bestimmungen des Artikels 152“ mit Wirkung vom 1. Januar 2014 aufgehoben wird. |
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
21 |
Herr Dell’Acqua ist Gläubiger der Gesellschaft Eurocom. Um seine Rechte geltend zu machen, strengte er beim Tribunale di Novara (Gericht von Novara, Italien) ein Vollstreckungsverfahren in Form einer Drittpfändung bei der Region Lombardei an, die seinem Vorbringen zufolge Schuldnerin von Eurocom war. |
22 |
Die Region Lombardei erkannte ihre Schuldnereigenschaft gegenüber Eurocom an, machte aber geltend, diese Geldschuld betreffe Beträge, die zum Strukturfonds gehörten, der Teil des ESF sei, und die spezifisch an die Verwirklichung der öffentlichen Zwecke der Beschäftigungsentwicklung und ‑förderung gebunden seien. Über diese Beträge dürfe die Region Lombardei nur zugunsten des Letztbegünstigten, d. h. Eurocom, verfügen. Nach Ansicht der Region Lombardei sind diese Beträge daher nach Art. 80 der Verordnung Nr. 1083/2006 unpfändbar. |
23 |
Hinsichtlich der Art der betreffenden Beträge bestritt keine der Parteien des Ausgangsverfahrens vor dem vorlegenden Gericht, dass diese zu dem vorgenannten Strukturfonds gehörten. Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass es sich bei den streitigen Beträgen folglich um einen Teil „des Vermögens der Gemeinschaft oder jedenfalls um der Gemeinschaft zuzurechnendes Vermögen“ handele. Es fragt sich daher angesichts von Art. 132 der Verordnung Nr. 1303/2013, der im Wesentlichen Art. 80 der Verordnung Nr. 1083/2006 wiedergibt, ob Art. 1 Satz 3 des Protokolls vorliegend Anwendung findet. |
24 |
Vor diesem Hintergrund hat das Tribunale di Novara (Gericht von Novara) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Ist die vorherige Ermächtigung nach Art. 1 Satz 3 des Protokolls erforderlich, wenn sich im Vollstreckungsverfahren der Pfändung bei Dritten die gepfändeten Beträge nicht mehr bei der betreffenden Stelle der Union befinden, sondern bereits an die nationalen Zahlstellen überwiesen wurden? |
Zur Vorlagefrage
25 |
Vorab ist festzustellen, dass die Vorlageentscheidung nicht angibt, auf welchen Finanzierungszeitraum sich die von Eurocom gegen die Region Lombardei gehaltene Forderung bezieht. Daher hat der Gerichtshof der Italienischen Republik und der Kommission in dieser Hinsicht eine Frage gestellt, um zu bestimmen, ob der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Zeitraum in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1083/2006 oder in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1303/2013 fällt. Wie sich nämlich aus Art. 32 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1083/2006 ergibt, gilt diese für die operationellen Programme im Zeitraum von 2007 bis 2013, während die Verordnung Nr. 1303/2013 gemäß ihrem Art. 26 Abs. 1 den Zeitraum von 2014 bis 2020 betrifft. |
26 |
In ihren Antworten haben sowohl die Italienische Republik als auch die Kommission angegeben, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Forderung dem operationellen Regionalprogramm für die Region Lombardei in Bezug auf den Zeitraum von 2007 bis 2013 zuzuordnen sei. |
27 |
Vorliegend ist darauf hinzuweisen, dass dieses Programm Gegenstand des Beschlusses C (2007) 5465 der Kommission vom 6. November 2007 ist, der auf Vorschlag der Italienischen Republik zu diesem Programm erlassen wurde und an sie gerichtet war. Gemäß Art. 1 des Beschlusses ist das operationelle Regionalprogramm für die Region Lombardei dem Programmzeitraum vom 1. Januar 2007 bis zum 31. Dezember 2013 zuzuordnen. |
28 |
Folglich ist in der vorliegenden Rechtssache die Verordnung Nr. 1083/2006 einschlägig. |
29 |
Außerdem hat die Kommission in ihrer Antwort unter Verweis auf bei der Region Lombardei eingeholte Informationen zum einen angemerkt, dass die Italienische Republik für die gepfändeten Geldforderungen von Eurocom bei der Union keine Kofinanzierung beantragt habe. Da zum anderen die Frist für die Beantragung des Restbetrags für den Programmzeitraum 2007–2013 der 31. März 2017 gewesen sei und in Bezug auf diese Geldforderungen keine Kofinanzierung bei der Union beantragt worden sei, seien diese Geldforderungen insgesamt aus nationalen Mitteln zu tragen. |
30 |
In dieser Hinsicht ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht ausdrücklich von der Prämisse ausgeht, dass die im Ausgangsverfahren von der Pfändung betroffenen Beträge aus dem ESF stammen. |
31 |
Außerdem sieht Art. 267 AEUV nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ein Verfahren des unmittelbaren Zusammenwirkens des Gerichtshofs und der Gerichte der Mitgliedstaaten vor. Im Rahmen dieses Verfahrens, das auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, fällt jede Beurteilung des Sachverhalts in die Zuständigkeit des nationalen Gerichts, das im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen hat, während der Gerichtshof nur befugt ist, sich auf der Grundlage des ihm vom nationalen Gericht unterbreiteten Sachverhalts zur Auslegung oder zur Gültigkeit einer Unionsvorschrift zu äußern (vgl. u. a. Urteil vom 25. Oktober 2017, Polbud – Wykonawstwo, C‑106/16, EU:C:2017:804, Rn. 27). |
32 |
Es ist folglich Sache des nationalen Gerichts, gegebenenfalls die Richtigkeit des für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits relevanten Sachverhalts zu prüfen. |
33 |
In Anbetracht dieser einleitenden Bemerkungen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner Frage wissen möchte, ob Art. 1 Satz 3 des Protokolls dahin auszulegen ist, dass die vorherige Ermächtigung durch den Gerichtshof erforderlich ist, wenn ein Dritter ein Verfahren zur Pfändung einer Forderung gegen die Stelle eines Mitgliedstaats anstrengt, die eine entsprechende Geldschuld gegenüber dem Schuldner des Dritten hat, und dieser Schuldner Empfänger von Mitteln ist, die zur Durchführung von aus dem ESF kofinanzierten Projekten gewährt wurden. |
34 |
Nach ständiger Rechtsprechung bezweckt Art. 1 des Protokolls, indem er vorsieht, dass die Vermögensgegenstände und Guthaben der Union ohne Ermächtigung des Gerichtshofs nicht Gegenstand von Zwangsmaßnahmen der Verwaltungsbehörden oder Gerichte sein dürfen, zu verhindern, dass die Funktionsfähigkeit und die Unabhängigkeit der Union beeinträchtigt werden. Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung besteht diese Befreiung von Rechts wegen und macht, wenn keine Ermächtigung des Gerichtshofs vorliegt, die Vollziehung jeder Zwangsmaßnahme gegen die Union unzulässig, ohne dass sich das betroffene Organ ausdrücklich auf Art. 1 des Protokolls zu berufen braucht (Beschluss vom 29. September 2015, ANKO/Kommission, C‑2/15 SA, nicht veröffentlicht, EU:C:2015:670, Rn. 12 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
35 |
Die Italienische Republik macht vorliegend geltend, dass angesichts der Tatsache, dass die aus dem ESF stammenden Beträge an bestimmte Ausgaben gebunden sein müssten, und angesichts der Art der in diesem Bereich unter Anwendung des Unionsrechts an die Region Lombardei übertragenen Aufgaben die vorherige Ermächtigung durch den Gerichtshof erforderlich sei. Sie führt dazu aus, dass die aus den Fonds stammenden Mittel einen zwingenden Verwendungszusammenhang mit bestimmten Ausgaben aufweisen müssten, und zwar dahin gehend, dass die Mittel für die Umsetzung der Politiken der Union bestimmt sein müssten und nicht zweckentfremdet werden dürften. Dieser Zusammenhang werde nach der Übertragung der Mittel an die nationalen Stellen nicht aufgelöst. Diese Stellen seien also als lediglich auszahlende Behörden anzusehen. Der Verwendungszusammenhang zwischen den Mitteln und den Ausgaben ende nämlich erst im Anschluss an die vollständige Verwirklichung des von der Union verfolgten Ziels und somit erst, wenn die Beträge in das Eigentum des Begünstigten übergegangen seien. Im Übrigen wirkten die nationalen Behörden im Sinne des Organisationsmodells der mittelbaren Durchführung an der Ausübung einer in die Zuständigkeit der Unionsorgane fallenden Aufgabe mit. Daraus folge, dass die nationalen Behörden bei der Ausübung dieser Tätigkeit keine eigene Aufgabe ausübten, sondern dass sie aufgrund ihrer eigenen gesetzgeberischen und administrativen Kompetenzen eine europäische Aufgabe erfüllten. |
36 |
Dieses Vorbringen hat keine Aussicht auf Erfolg. |
37 |
In dieser Hinsicht sieht Art. 76 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1083/2006 vor, dass die Fondsbeteiligung von der Kommission an die vom Mitgliedstaat benannte Stelle gezahlt wird und die Zahlungen als Vorschusszahlung, Zwischenzahlungen oder Restzahlungen geleistet werden können. Aus Art. 37 Abs. 1 Buchst. g Ziff. iii dieser Verordnung geht hervor, dass die operationellen Programme für die Ziele „Konvergenz“ sowie „Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung“ Bestimmungen zur Durchführung umfassen müssen, in denen die für die Entgegennahme der von der Kommission geleisteten Zahlungen zuständige Stelle sowie die für die Zahlungen an die Begünstigten zuständige(n) Stelle(n) genannt werden. |
38 |
Gemäß Art. 70 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1083/2006 sind die Mitgliedstaaten zuständig für die Verwaltung und Kontrolle der operationellen Programme und treffen hierzu insbesondere vorbeugende Maßnahmen gegen Unregelmäßigkeiten, decken sie auf und korrigieren sie und ziehen rechtsgrundlos gezahlte Beträge wieder ein. Können rechtsgrundlos an einen Begünstigten gezahlte Beträge nicht wieder eingezogen werden, so sieht Art. 70 Abs. 2 vor, dass der Mitgliedstaat für die Erstattung der verlorenen Beträge an den Gesamthaushalt der Union haftet, wenn nachgewiesen wird, dass der Verlust durch einen ihm anzulastenden Fehler oder durch seine Fahrlässigkeit entstanden ist. |
39 |
Daher führen die von der Kommission aus den Fonds an die Mitgliedstaaten geleisteten Zahlungen zu einer Übertragung von Guthaben des Unionshaushalts an die Haushalte der Mitgliedstaaten. |
40 |
Soweit dieses Guthaben dem Unionshaushalt entnommen und den Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellt wird, kann es nach der Übertragung aber nicht als Guthaben der Union im Sinne von Art. 1 Satz 3 des Protokolls angesehen werden. Für eine solche Auslegung lässt sich die Rechtsprechung des Gerichtshofs anführen, nach der, wenn die Kommission einem Mitgliedstaat eine finanzielle Beteiligung aus einem Fonds gewährt hat, dieser Staat als Inhaber des Anspruchs auf die fragliche Beteiligung anzusehen ist (vgl. entsprechend Urteil vom 10. September 2009, Kommission/Ente per le Ville Vesuviane und Ente per le Ville Vesuviane/Kommission, C‑445/07 P und C‑455/07 P, EU:C:2009:529, Rn. 51). |
41 |
Der Umstand, dass ein solches Guthaben an die Umsetzung der Politiken der Union gebunden ist, ist in dieser Hinsicht unerheblich. |
42 |
Wie die Kommission vorgetragen hat, ist die Kofinanzierung aus dem Unionshaushalt nämlich gemäß den in der Verordnung Nr. 1083/2006 vorgesehenen und in Rn. 37 des vorliegenden Urteils aufgeführten drei Modalitäten für die Zahlung an den Mitgliedstaat zur Durchführung des gesamten operationellen Programms für den Haushalt des Mitgliedstaats im Allgemeinen bestimmt, und nicht für die Begünstigten konkreter Projekte. Die im Unionshaushalt für die Kofinanzierung bereitgestellten Beträge sind Teil der Geldmittel des Mitgliedstaats, die zu den anderen Mitteln hinzukommen, die der Mitgliedstaat benötigt, um die Kofinanzierung sicherzustellen, und die er aus seinem nationalen Haushalt schöpfen muss. Wie sich im Übrigen aus der Verordnung Nr. 1083/2006 und insbesondere aus ihrem Art. 93 Abs. 1 und 3 ableiten lässt, kann der Mitgliedstaat nach freiem Ermessen davon absehen, die Zahlung einer finanziellen Beteiligung, insbesondere des ESF, zu beantragen. |
43 |
Aus der Verordnung Nr. 1083/2006 ergibt sich somit, dass der von ihr eingerichtete finanzielle Unterstützungsmechanismus es nicht erlaubt, einer Verwaltungsbehörde oder ihren Gläubigern Gewissheit über die Möglichkeit zu verschaffen, dass ein bestimmtes Projekt eine Kofinanzierung durch den ESF erhält. |
44 |
Die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1083/2006 betreffen das Verhältnis zwischen der Kommission und dem Mitgliedstaat, schaffen aber keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den aus einem Fonds wie dem ESF an den Mitgliedstaat gezahlten Beträgen auf der einen und den von dem Mitgliedstaat für die Verwaltung der finanzierten Unterstützungen und der Letztbegünstigten benannten Behörden auf der anderen Seite (vgl. entsprechend Urteil vom 10. September 2009, Kommission/Ente per le Ville Vesuviane und Ente per le Ville Vesuviane/Kommission, C‑445/07 P und C‑455/07 P, EU:C:2009:529, Rn. 48). |
45 |
Wie die Generalanwältin in Nr. 44 ihrer Schlussanträge hervorgehoben hat, ist der Zusammenhang zwischen der Kofinanzierung, die von der Union aus dem ESF bereitgestellt wird, und der Durchführung der einzelnen Projekte zu indirekt, um davon auszugehen, dass die Beträge, die die mitgliedstaatlichen Behörden den Begünstigten für die Durchführung dieser Projekte schulden, Unionsguthaben sind und daher eines Pfändungsschutzes im Sinne von Art. 1 Satz 3 des Protokolls bedürften, damit eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit und der Unabhängigkeit der Union verhindert wird. |
46 |
Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 1 Satz 3 des Protokolls dahin auszulegen ist, dass die vorherige Ermächtigung durch den Gerichtshof nicht erforderlich ist, wenn ein Dritter ein Verfahren zur Pfändung einer Forderung gegen die Stelle eines Mitgliedstaats anstrengt, die eine entsprechende Geldschuld gegenüber dem Schuldner des Dritten hat, und dieser Schuldner Empfänger von Mitteln ist, die zur Durchführung von aus dem ESF kofinanzierten Projekten gewährt wurden. |
Kosten
47 |
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. |
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt: |
Art. 1 Satz 3 des Protokolls (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass die vorherige Ermächtigung durch den Gerichtshof nicht erforderlich ist, wenn ein Dritter ein Verfahren zur Pfändung einer Forderung gegen die Stelle eines Mitgliedstaats anstrengt, die eine entsprechende Geldschuld gegenüber dem Schuldner des Dritten hat, und dieser Schuldner Empfänger von Mitteln ist, die zur Durchführung von aus dem ESF kofinanzierten Projekten gewährt wurden. |
Unterschriften |
( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.
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Referenzen
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