Urteil vom Europäischer Gerichtshof - T-770/16

URTEIL DES GERICHTS (Sechste erweiterte Kammer)

31. Mai 2018 ( *1 )

„Institutionelles Recht – Europäisches Parlament – Geschäftsordnung des Parlaments – Äußerungen, die die Würde des Parlaments und den ordnungsgemäßen Ablauf der parlamentarischen Arbeit beeinträchtigen – Ordnungsrechtliche Sanktionen des Verlusts des Anspruchs auf Tagegeld und der vorübergehenden Suspendierung von der Teilnahme an allen Tätigkeiten des Parlaments – Freiheit der Meinungsäußerung – Begründungspflicht – Rechtsfehler“

In der Rechtssache T‑770/16

Janusz Korwin-Mikke, wohnhaft in Józefów (Polen), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte M. Cherchi und A. Daoût,

Kläger,

gegen

Europäisches Parlament, vertreten durch S. Alonso de León und S. Seyr als Bevollmächtigte,

Beklagter,

wegen zum einen eines auf Art. 263 AEUV gestützten Antrags auf Aufhebung der Entscheidung des Präsidenten des Parlaments vom 5. Juli 2016 und der Entscheidung des Präsidiums des Parlaments vom 1. August 2016, mit denen gegen den Kläger die Sanktion des Verlusts des Anspruchs auf Tagegeld für die Dauer von zehn Tagen und der vorübergehenden Suspendierung von der Teilnahme an allen Tätigkeiten des Parlaments für die Dauer von fünf aufeinanderfolgenden Tagen verhängt wurde und zum anderen eines auf Art. 268 AEUV gestützten Antrags auf Ersatz des dem Kläger nach seinem Vortrag durch diese Entscheidungen entstandenen Schadens

erlässt

DAS GERICHT (Sechste erweiterte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten G. Berardis, der Richter S. Papasavvas (Berichterstatter), D. Spielmann und Z. Csehi sowie der Richterin O. Spineanu-Matei,

Kanzler: G. Predonzani, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 29. November 2017

folgendes

Urteil

Sachverhalt

1

Der Kläger, Herr Janusz Korwin-Mikke, ist Mitglied des Europäischen Parlaments.

2

In der Plenarsitzung des Parlaments vom 7. Juni 2016 (im Folgenden: Plenarsitzung vom 7. Juni 2016), die den „Stand der Dinge bei den außenpolitischen Aspekten der europäischen Migrationsagenda: ein neuer ‚Migrationspakt‘“ zum Thema hatte, erklärte der Kläger auf Polnisch:

„Das Problem kommt nicht daher, dass die Immigranten uns überschwemmen, sondern daher, dass es die falschen Immigranten sind. Sie wollen keineswegs bei den Bayerischen Motorwerken oder bei Aldi arbeiten. Man hat ihnen hohe Unterstützungsleistungen versprochen, und sie wollen hohe Unterstützungsleistungen erhalten. Schon einmal [habe ich auf sie hingewiesen], was mich 3000 Euro gekostet hat, aber ein kongolesischer Diplomat hat gesagt, dass Europa von der afrikanischen Kloake überschwemmt wird. Wir können also stolz darauf sein, dass wir einen Teil Afrikas von dieser Kloake befreit haben, aber es ist unsere Pflicht, diese Leute zur Vernunft zu bringen. Nun, nichts bringt besser zur Vernunft als der Hunger. Wir müssen aufhören, ihnen Unterstützungsleistungen zu zahlen, und sie ganz einfach zum Arbeiten zwingen. Und weil das Beispiel der beste Lehrmeister ist, müssen wir ein Beispiel geben und aufhören, Unterstützungsleistungen an uns selbst zu zahlen, denn wir demoralisieren auch unsere eigenen Leute.“

3

Nach diesen Äußerungen forderte die Vizepräsidentin des Parlaments, die die Aussprache leitete, den Kläger auf, „sich respektvoll an die Versammlung zu wenden“. Unmittelbar danach hielt ein weibliches Mitglied eine blaue Karte hoch und forderte den Kläger auf, Beweise für seine Behauptungen vorzulegen.

4

In Beantwortung dieser Aufforderung erklärte der Kläger:

„… Amerika wurde auch ausgebeutet und hat sich ausgezeichnet entwickelt. Dagegen beziehe ich mich nur auf die Meinung eines Diplomaten aus dem Kongo – einem Land, das sich auskennt mit der Emigration aus Afrika. Eine Sache weiß ich: Wenn man die Menschen fürs Nichtstun bezahlt, demoralisiert man sie. Alle Leistungen müssen gestrichen werden. Die Menschen müssen von der Arbeit leben, nicht von Unterstützungsleistungen.“

5

Später ergriff der Kläger erneut das Wort, um die englische Übersetzung eines von ihm in seinen Ausführungen gebrauchten Wortes zu erläutern.

6

Am 8. Juni 2016 wurde der Kläger vom Präsidenten des Parlaments zu einer Anhörung geladen, die am 14. Juni 2016 stattfand.

7

Mit E‑Mail vom 9. Juni 2016 übermittelte der Kläger der Vizepräsidentin des Parlaments, die die fragliche Aussprache geleitet hatte, einen auf dem Internet-Videoportal YouTube verbreiteten Film, in dem die Äußerungen des kongolesischen Diplomaten zu hören sind, auf die er sich in seinen Ausführungen vom 7. Juni 2016 bezogen hatte.

8

Mit Entscheidung vom 5. Juli 2016 (im Folgenden: Entscheidung des Präsidenten) verhängte der Präsident des Parlaments gegen den Kläger die Sanktionen des Verlusts des Anspruchs auf Tagegeld für die Dauer von zehn Tagen und der vorübergehenden Suspendierung von der Teilnahme an allen Tätigkeiten des Parlaments für die Dauer von fünf aufeinanderfolgenden Tagen, unbeschadet der Ausübung des Stimmrechts im Plenum.

9

Am 18. Juli 2016 reichte der Kläger beim Präsidium des Parlaments eine interne Beschwerde gegen die Entscheidung des Präsidenten ein und beantragte die Aufhebung der gegen ihn verhängten Sanktionen sowie eine öffentliche Entschuldigung des Präsidenten des Parlaments im Parlament dafür, dass dieser ihm gegenüber beleidigende Ausdrücke gebraucht habe.

10

Mit Entscheidung vom 1. August 2016 (im Folgenden: Entscheidung des Präsidiums), die dem Kläger am 2. September 2016 zugestellt wurde, bestätigte das Präsidium des Parlaments die mit der Entscheidung des Präsidenten gegen den Kläger verhängten Sanktionen.

Verfahren

11

Mit Klageschrift, die am 2. November 2016 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben.

12

Auf Vorschlag der Sechsten Kammer hat das Gericht gemäß Art. 28 seiner Verfahrensordnung die Rechtssache an einen erweiterten Spruchkörper verwiesen.

13

Das Gericht (Sechste Erweiterte Kammer) hat auf Bericht des Berichterstatters beschlossen, das mündliche Verfahren zu eröffnen, und im Rahmen prozessleitender Maßnahmen nach Art. 89 der Verfahrensordnung das Parlament zur Vorlage bestimmter Schriftstücke und die Parteien zur Beantwortung bestimmter Fragen aufgefordert. Die Parteien sind dem fristgerecht nachgekommen.

14

Die Parteien haben in der Sitzung vom 29. November 2017 mündlich verhandelt und mündliche Fragen des Gerichts beantwortet.

Anträge der Parteien

15

Der Kläger beantragt,

die Entscheidung des Präsidenten aufzuheben;

die Entscheidung des Präsidiums aufzuheben;

den Ersatz des durch die Entscheidungen des Präsidenten und des Präsidiums verursachten, auf 13060 Euro bemessenen Schadens anzuordnen;

dem Parlament die Kosten aufzuerlegen.

16

Das Parlament beantragt,

den Antrag auf Aufhebung der Entscheidung des Präsidenten als unzulässig zurückzuweisen;

den Antrag auf Aufhebung der Entscheidung des Präsidiums als unbegründet zurückzuweisen;

den Schadensersatzantrag als teilweise unzulässig und teilweise unbegründet zurückzuweisen;

dem Kläger die Kosten aufzuerlegen.

17

In der Sitzung hat der Kläger erklärt, er nehme seinen ersten Klageantrag zurück, da die Entscheidung des Präsidenten durch die Entscheidung des Präsidiums ersetzt worden sei, die den endgültigen Standpunkt des Parlaments darstelle; dies ist im Protokoll der Sitzung vermerkt worden.

Rechtliche Würdigung

Zum Antrag auf Aufhebung

18

Der Kläger stützt seinen Aufhebungsantrag auf vier Klagegründe. Mit dem ersten rügt er eine Verletzung von Art. 166 der Geschäftsordnung des Parlaments (im Folgenden: Geschäftsordnung), der Rede- und Meinungsäußerungsfreiheit sowie der Begründungspflicht. Mit dem zweiten Klagegrund rügt er eine Verletzung von Art. 6 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK), des allgemeinen Grundsatzes der Unparteilichkeit und der Begründungspflicht. Mit dem dritten Klagegrund rügt er eine Verletzung von Art. 6 EMRK, der Verteidigungsrechte und von Art. 166 Abs. 1 der Geschäftsordnung. Mit dem vierten Klagegrund rügt er eine Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und des Grundsatzes ne bis in idem sowie der Begründungspflicht.

Erster Klagegrund: Verletzung von Art. 166 der Geschäftsordnung, der Rede- und Meinungsäußerungsfreiheit sowie der Begründungspflicht

19

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass der Kläger mit diesem Klagegrund, der aus drei Teilen besteht, neben der Verletzung seiner Freiheit der Meinungsäußerung im Wesentlichen die Verletzung von Art. 166 der Geschäftsordnung geltend macht, weil zum einen das Parlament nicht nachgewiesen habe, dass die Tatbestandsmerkmale dieser Bestimmung erfüllt seien, und weil zum anderen diese Entscheidung nicht hinreichend begründet sei. Dies ist im Übrigen in der Sitzung bestätigt worden, was im Protokoll vermerkt worden ist.

20

Zunächst ist der dritte Teil und sodann sind der erste und der zweite Teil zusammen zu prüfen.

– Dritter Teil: Verletzung der Begründungspflicht

21

Der Kläger macht geltend, die Entscheidung des Präsidiums genüge nicht der Begründungspflicht, da in ihr erstens nicht erwähnt werde, dass es einen Widerhall in der Presse oder Reaktionen auf politischer Ebene gegeben habe, da in ihr zweitens nicht festgestellt werde, dass seine Äußerungen eine Aufstachelung zum Rassenhass dargestellt hätten, und da in ihr drittens nicht berücksichtig werde, dass diese Äußerungen ursprünglich von einem kongolesischen Diplomaten stammten. Zudem lasse die Begründung dieser Entscheidung weder erkennen, ob er die Plenarsitzung vom 7. Juni 2016 in außergewöhnlich schwerwiegender Weise gestört habe, noch, welche der in Art. 11 der Geschäftsordnung festgelegten Grundsätze missachtet worden sein sollten.

22

Das Parlament tritt dem entgegen.

23

Es ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei der Begründungspflicht um ein wesentliches Formerfordernis handelt, das von der Frage der Stichhaltigkeit der Begründung zu unterscheiden ist, die zur materiellen Rechtmäßigkeit des streitigen Rechtsakts gehört (vgl. Urteil vom 22. Mai 2012, Internationaler Hilfsfonds/Kommission, T‑300/10, EU:T:2012:247, Rn. 180 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die Begründung einer Entscheidung soll nämlich förmlich die Gründe zum Ausdruck bringen, auf denen diese beruht. Diese Begründung kann ausreichend sein, obwohl sie fehlerhafte Gründe enthält (vgl. Beschluss vom 12. Juli 2012, Dover/Parlament, C‑278/11 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2012:457, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

24

In der Begründung brauchen nicht alle tatsächlich oder rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden, da die Frage, ob die Begründung eines Rechtsakts den Anforderungen des Art. 296 AEUV genügt, nicht nur anhand seines Wortlauts zu beurteilen ist, sondern auch anhand seines Kontexts sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet (vgl. Urteil vom 22. Mai 2012, Internationaler Hilfsfonds/Kommission, T‑300/10, EU:T:2012:247, Rn. 181 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25

Im vorliegenden Fall besteht die Entscheidung des Präsidiums aus drei Abschnitten. Im ersten (Rn. 1 bis 27 der Entscheidung) werden der Sachverhalt, der zum Erlass der in Rede stehenden Sanktionen geführt hat, die früheren Äußerungen des Klägers, derentwegen bereits Sanktionen gegen ihn verhängt worden waren, und das von diesem gegen die Entscheidung des Präsidenten eingeleitete interne Beschwerdeverfahren dargestellt. Im zweiten Abschnitt (Rn. 28 bis 37 der Entscheidung) wird ausgeführt, dass das Verhalten des Klägers eine Missachtung von Art. 11 der Geschäftsordnung darstelle. Der dritte Abschnitt (Rn. 38 bis 45 der Entscheidung) schließlich enthält eine rechtliche Würdigung von Art. 166 der Geschäftsordnung.

26

Im Einzelnen wies das Präsidium des Parlaments in den Rn. 28 bis 31 seiner Entscheidung nach dem Hinweis auf den Wortlaut von Art. 11 Abs. 2 und 3 der Geschäftsordnung zum einen und auf die Tragweite des Rechts auf freie Rede und freie Meinungsäußerung zum anderen darauf hin, dass dieses Recht eingeschränkt werden könne, „wenn es andere Personen verletzt oder beleidigt“. In Rn. 32 dieser Entscheidung führte das Präsidium des Parlaments aus, der für sämtliche Mitglieder des Parlaments gewährleistete Grundsatz der Redefreiheit gelte nicht für „beleidigende, verletzende oder respektlose Sprache“ oder „Verhalten, das die Würde des … Parlaments beeinträchtigt und eine Missachtung der grundlegenden Werte und Grundsätze der Union darstellt“.

27

Hinsichtlich des dem Kläger vorgeworfenen Verhaltens betrafen die vom Parlament in der Entscheidung des Präsidiums geäußerten Rügen „die bewusst verletzende und provozierende Sprache, nicht nur gegenüber Personen afrikanischer Herkunft, sondern auch gegenüber dem gesamten Parlament“ (Rn. 33), „die Methode des Zitierens anderer Personen, die bewusst in der Absicht eingesetzt wird, die eigene Meinung zu äußern“ (Rn. 34), den „gegenüber den Adressaten eindeutig beleidigenden Gedanken, die Menschen durch Hunger zum Arbeiten zu zwingen“, der „die Würde des … Parlaments beeinträchtigt und eine Missachtung der grundlegenden Werte und Grundsätze der Union darstellt“ (Rn. 36), und schließlich das „Verhalten“ des Klägers, das „eine Missachtung von Art. 11 Abs. 2 der Geschäftsordnung darstellt, da es den gegenseitigen Respekt vermissen lässt und die in den grundlegenden Rechtsakten der Union festgelegten Werte und Grundsätze und insbesondere die Würde des Parlaments beeinträchtigt“ (Rn. 37).

28

Daraus folgt, dass die Entscheidung des Präsidiums unbeschadet der Prüfung ihrer Begründetheit, die im Rahmen des ersten und des zweiten Teils des vorliegenden Klagegrundes erfolgen wird, eine den Anforderungen von Art. 296 AEUV entsprechende Begründung enthält.

29

Demzufolge ist der dritte Teil des ersten Klagegrundes zurückzuweisen.

– Erster und zweiter Teil: Verletzung der Freiheit der Meinungsäußerung bzw. von Art. 166 der Geschäftsordnung

30

Der Kläger macht im Wesentlichen geltend, das Parlament habe nicht nachgewiesen, dass die Tatbestandsmerkmale von Art. 166 der Geschäftsordnung erfüllt seien, und habe somit gegen ihn eine ordnungsrechtliche Sanktion unter Verletzung der besonders ausgeprägten Freiheit der Meinungsäußerung verhängt, die er als Parlamentarier nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) genieße.

31

Erstens sei die Entscheidung des Präsidiums rechtsfehlerhaft, weil sie nicht hinreichend berücksichtige, dass seine Äußerungen, die er im Rahmen seines Mandats im Parlament gemacht habe, Teil seines politischen Diskurses seien.

32

Zweitens werde in der Entscheidung des Präsidiums nicht dargetan, dass seine Äußerungen tatsächlich einen außergewöhnlich schwerwiegenden Verstoß gegen die Ordnung der Plenarsitzung vom 7. Juni 2016 oder eine Störung der Arbeit des Parlaments unter Missachtung von Art. 11 der Geschäftsordnung dargestellt hätten, so dass die in Art. 166 der Geschäftsordnung genannten materiellen Voraussetzungen erfüllt gewesen wären.

33

Drittens gehe aus der Begründung der Entscheidung des Präsidiums hervor, dass die Sanktionen gegen ihn auch wegen nicht in den Anwendungsbereich von Art. 166 der Geschäftsordnung fallender Äußerungen verhängt worden seien, die er am Rande der Plenarsitzung vom 7. Juni 2016 oder im Rahmen der Ausübung seiner Verteidigungsrechte gemacht habe.

34

Das Parlament macht zunächst geltend, die Gültigkeit der Entscheidung des Präsidiums sei allein anhand der von der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) gewährleisteten Grundrechte, insbesondere ihres Art. 11, in dem die Freiheit der Meinungsäußerung verankert sei, und seiner Auslegung durch die Unionsgerichte zu prüfen. Die vom Kläger angeführte Rechtsprechung des EGMR sei daher auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar, sondern könne allenfalls als Inspirationsquelle dienen. Selbst wenn sie übertragbar sein sollte, ergebe sich aus ihr nicht, dass seine Redefreiheit unbegrenzt sei.

35

Sodann verfügten der Präsident und gegebenenfalls das Präsidium des Parlaments bei der Ausübung ihrer Befugnisse aus den Art. 166 und 167 der Geschäftsordnung über einen gewissen Beurteilungsspielraum. Die Kontrolle durch das Gericht müsse daher auf die Prüfung beschränkt sein, ob die Ausübung dieser Befugnis nicht mit einem offenkundigen Beurteilungsfehler oder einem Befugnismissbrauch behaftet sei und ob die Verfahrensgarantien beachtet worden seien.

36

Schließlich sei die Entscheidung des Präsidiums entgegen dem Vorbringen des Klägers nicht unter Verletzung seiner Meinungsäußerungsfreiheit erlassen worden und stehe im Einklang mit Art. 11 Abs. 2 und 3 sowie Art. 166 der Geschäftsordnung. Außerdem gehe das Vorbringen des Klägers in tatsächlicher Hinsicht fehl, denn in dieser Entscheidung sei der Umstand, dass dessen Äußerungen im Rahmen seines Mandats gefallen seien, sehr wohl berücksichtigt worden.

37

Zunächst ist festzustellen, dass das Parlament nicht in Abrede stellen kann, dass die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR in der vorliegenden Rechtssache für die Prüfung des Verstoßes gegen Art. 166 der Geschäftsordnung relevant sind.

38

Es trifft zwar zu, dass die EMRK, solange die Union ihr nicht beigetreten ist, kein Rechtsinstrument darstellt, das formell in die Unionsrechtsordnung übernommen worden ist (Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 44, und vom 3. September 2015, Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Kommission, C‑398/13 P, EU:C:2015:535, Rn. 45), und dass somit die Prüfung der Gültigkeit eines Rechtsakts des abgeleiteten Unionsrechts allein anhand der durch die Charta garantierten Grundrechte vorzunehmen ist (Urteil vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 46), doch ist darauf hinzuweisen, dass zum einen nach Art. 6 Abs. 3 EUV die von der EMRK anerkannten Grundrechte als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts sind und dass sich zum anderen aus Art. 52 Abs. 3 der Charta ergibt, dass die in dieser enthaltenen Rechte, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der EMRK verliehen wird. Nach den Erläuterungen zu dieser Bestimmung, die gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 der Charta bei deren Auslegung zu berücksichtigen sind, werden die Bedeutung und Tragweite der garantierten Rechte nicht nur durch den Wortlaut der EMRK, sondern u. a. auch durch die Rechtsprechung des EGMR bestimmt (vgl. Urteil vom 30. Juni 2016, Toma und Biroul Executorului Judecătoresc Horațiu-Vasile Cruduleci, C‑205/15, EU:C:2016:499, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung). Aus diesen Erläuterungen ergibt sich weiter, dass durch Art. 52 Abs. 3 der Charta die notwendige Kohärenz zwischen den in der Charta enthaltenen Rechten und den entsprechenden durch die EMRK garantierten Rechten geschaffen werden soll, ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts und des Gerichtshofs der Europäischen Union berührt wird (Urteil vom 28. Juli 2016, JZ, C‑294/16 PPU, EU:C:2016:610, Rn. 50). Überdies ist darauf hinzuweisen, dass diese Gleichwertigkeit der durch die Charta und der durch EMRK garantierten Rechte hinsichtlich der Freiheit der Meinungsäußerung förmlich festgestellt worden ist (Urteil vom 4. Mai 2016, Philip Morris Brands u. a., C‑547/14, EU:C:2016:325, Rn. 147).

39

Die Freiheit der Meinungsäußerung nimmt einen wesentlichen Platz in den demokratischen Gesellschaften ein und stellt somit ein durch Art. 11 der Charta, Art. 10 der EMRK und Art. 19 des am 16. Dezember 1966 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommenen Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte garantiertes Grundrecht dar (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2011, Patriciello, C‑163/10, EU:C:2011:543, Rn. 31).

40

Insoweit ergibt sich aus der Rechtsprechung des EGMR, dass vorbehaltlich von Art. 10 Abs. 2 EMRK die Freiheit der Meinungsäußerung nicht nur für Informationen oder Ideen gilt, die Zustimmung erfahren oder die als harmlos oder unerheblich betrachtet werden, sondern auch für sämtliche Informationen und Ideen, die den Staat oder einen Bereich der Bevölkerung beleidigen, aus der Fassung bringen oder stören. So verlangen es der Pluralismus, die Toleranz und die Offenheit, ohne die es keine demokratische Gesellschaft gibt (EGMR, 7. Dezember 1976, Handyside/Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:1976:1207JUD000549372, § 49).

41

Das Recht auf freie Meinungsäußerung gilt jedoch nicht schrankenlos, und seine Ausübung kann unter bestimmten Voraussetzungen eingeschränkt werden.

42

In Anbetracht der grundlegenden Bedeutung der Freiheit der Meinungsäußerung sind Einschränkungen derselben streng zu beurteilen, und Eingriffe in diese Freiheit sind, wie sich aus Art. 10 Abs. 2 EMRK und aus Art. 52 Abs. 1 der Charta ergibt, nur zulässig, wenn sie drei Voraussetzungen erfüllen. Erstens muss die betreffende Einschränkung „gesetzlich vorgesehen sein“. Anders ausgedrückt muss das Unionsorgan, das Maßnahmen erlässt, die die Freiheit der Meinungsäußerung einer Person beschränken können, dafür eine rechtliche Grundlage haben. Zweitens muss die betreffende Einschränkung ein dem Gemeinwohl dienendes Ziel, das als solches von der Union anerkannt wird, verfolgen. Drittens darf die betreffende Einschränkung nicht unverhältnismäßig sein, was zum einen bedeutet, dass sie in Bezug auf das verfolgte Ziel erforderlich und angemessen sein muss, und zum anderen, dass die Substanz dieser Freiheit nicht beeinträchtigt werden darf (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juni 2017, Kiselev/Rat, T‑262/15, EU:T:2017:392, Rn. 69 und 84 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43

Ein Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung oder eine Einschränkung derselben kann zudem nur dann als „gesetzlich vorgesehen“ erachtet werden, wenn die Norm so genau gefasst ist, dass ihre Wirkungen vorhersehbar sind und sie es ihrem Adressaten erlaubt, sein Verhalten entsprechend auszurichten (vgl. in diesem Sinne, EGMR, 17. Februar 2004, Maestri/Italien, CE:ECHR:2004:0217JUD003974898, § 30).

44

Ferner ist darauf hinzuweisen, dass in einer Demokratie das Parlament oder die vergleichbaren Organe für die politische Auseinandersetzung unentbehrliche Schauplätze sind. Ein Eingriff in die im Rahmen dieser Organe ausgeübte Freiheit der Meinungsäußerung kann mithin nur durch zwingende Gründe gerechtfertigt werden (EGMR, 17. Dezember 2002, A./Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:2002:1217JUD003537397, § 79).

45

Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR kommt zudem der Freiheit der Meinungsäußerung von Parlamentsabgeordneten besondere Bedeutung zu. Sie ist wertvoll für jedermann, ganz besonders aber für einen gewählten Volksvertreter; er vertritt seine Wähler, macht auf ihre Sorgen aufmerksam und verteidigt ihre Interessen. Folglich hat der Richter bei Eingriffen in die Freiheit der Meinungsäußerung eines Oppositionsabgeordneten wie des Klägers eine äußerst strenge Kontrolle vorzunehmen (EGMR, 23. April 1992, Castells/Spanien, CE:ECHR:1992:0423JUD001179885, § 42).

46

Demnach muss der Freiheit der Meinungsäußerung von Parlamentsabgeordneten wegen der grundlegenden Bedeutung des Parlaments in einer demokratischen Gesellschaft ein verstärkter Schutz zuerkannt werden.

47

Allerdings hat der EGMR bei gleichzeitiger Betonung der Notwendigkeit eines hohen Maßes an Schutz für Äußerungen im Parlament in jüngerer Zeit anerkannt, dass wegen des engen Zusammenhangs zwischen dem wahrhaft demokratischen Charakter eines politischen Systems und der Arbeitsweise des Parlaments die Ausübung der Freiheit der Meinungsäußerung manchmal hinter den legitimen Interessen des Schutzes der ordnungsgemäßen parlamentarischen Arbeit und des Schutzes der anderen Abgeordneten zurücktreten muss (EGMR, 17. Mai 2016, Karácsony u. a./Ungarn, CE:ECHR:2016:0517JUD004246113, § 138 bis 141).

48

Der EGMR hat zum einen die Möglichkeit für ein Parlament, das Verhalten eines seiner Mitglieder zu ahnden, an die Notwendigkeit geknüpft, für eine ordnungsgemäße parlamentarische Arbeit zu sorgen, und er hat zum anderen den Parlamenten eine weitreichende Autonomie zuerkannt, um Art, Zeitpunkt und Ort zu regeln, die die Abgeordneten für ihre Ausführungen wählen (so dass die Kontrolle durch den EGMR insoweit eingeschränkt ist), ihnen aber sehr wenig Freiraum bei der Regulierung des Inhalts der Äußerungen der Abgeordneten zugestanden (so dass die Kontrolle durch den EGMR insoweit strenger ist). In seiner Rechtsprechung erwähnt er in dieser Hinsicht nur „ein gewisses Maß an [notwendiger] Regulierung …, um Ausdrucksformen wie direkte oder indirekte Aufrufe zur Gewalt zu verhindern“ (EGMR, 17. Mai 2016, Karácsony u. a./Ungarn, CE:ECHR:2016:0517JUD004246113, § 140).

49

Daraus folgt, dass zum einen die Geschäftsordnung eines Parlaments die Möglichkeit, eine Sanktion für Äußerungen von Abgeordneten zu verhängen, nur für den Fall vorsehen könnte, dass diese die ordnungsgemäße Arbeit des Parlaments beeinträchtigen oder eine ernste Gefahr für die Gesellschaft darstellen sollten, wie etwa Aufrufe zur Gewalt oder zum Rassenhass.

50

Zum anderen müsste die den Parlamenten zuerkannte Befugnis, zur Sicherstellung des ordnungsgemäßen Ablaufs ihrer Arbeit oder zum Schutz bestimmter Rechte, Grundsätze oder Grundfreiheiten ordnungsrechtliche Sanktionen zu verhängen, mit der Notwendigkeit in Einklang gebracht werden, die Wahrung der Meinungsäußerungsfreiheit der Abgeordneten sicherzustellen.

51

Mithin ist unter Berücksichtigung der besonderen Bedeutung der Freiheit der Meinungsäußerung von Parlamentsabgeordneten und der strikten Grenzen für Einschränkungen dieser Freiheit gemäß den Grundsätzen, die der EGMR in seiner Rechtsprechung in diesem Zusammenhang entwickelt hat, zu prüfen, ob das Parlament bei der Verhängung der in Rede stehenden ordnungsrechtlichen Sanktion die in Art. 166 Abs. 1 seiner Geschäftsordnung vorgesehenen Voraussetzungen beachtet hat.

52

Im vorliegenden Fall sieht die Geschäftsordnung in ihrer zur maßgeblichen Zeit geltenden Fassung, wie sie vom Präsidium des Parlaments angewandt worden ist, in Titel VII Kapitel 4 („Maßnahmen bei Nichteinhaltung der Verhaltensregeln“) Sofortmaßnahmen vor, die der Sitzungspräsident zur Wiederherstellung der Ordnung treffen kann (Art. 165 der Geschäftsordnung), sowie ordnungsrechtliche Sanktionen, die der Präsident des Parlaments gegen ein Mitglied verhängen kann (Art. 166 der Geschäftsordnung).

53

Nach Art. 166 Abs. 1 der Geschäftsordnung, der im vorliegenden Fall angewandt wurde, fasst der Präsident einen mit Gründen versehenen Beschluss über die „[b]ei außergewöhnlich schwerwiegenden Verstößen gegen die Ordnung oder Störungen der Arbeit des Parlaments unter Missachtung der in Artikel 11 festgelegten Grundsätze“ angemessene Sanktion.

54

Allerdings weist der Wortlaut von Art. 166 Abs. 1 der Geschäftsordnung in deren verschiedenen Sprachfassungen Unterschiede auf. So ist anders als in der französischen sowie u. a. der deutschen, der italienischen, der spanischen, der niederländischen und der griechischen Fassung dieser Bestimmung in deren englischer Fassung nicht von der Störung „der Arbeit“ oder „der Tätigkeit“ des Parlaments, sondern von einer „disruption of Parliament“ die Rede. Nach Ansicht des Parlaments bezieht sich dieser Ausdruck nicht nur auf die parlamentarische Arbeit im Sitzungssaal, sondern bezeichnet einen über die Sitzung hinausgehenden Kontext, der auch die Auswirkung auf sein Ansehen oder seine Würde als Unionsorgan umfasse.

55

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die Notwendigkeit einer einheitlichen Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts erfordert, dass sie, wenn ihre verschiedenen Sprachfassungen voneinander abweichen, anhand des Kontexts und des Zwecks der Regelung ausgelegt wird, zu der sie gehört (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. November 2016, Bayer CropScience und Stichting De Bijenstichting, C‑442/14, EU:C:2016:890, Rn. 84 und die dort angeführte Rechtsprechung).

56

Folglich kann der vom Parlament in der Sitzung vertretenen Ansicht, für die Auslegung des Willens des Gesetzgebers und der Gesamtheit der Sprachfassungen sei auf die englische Fassung von Art. 166 der Geschäftsordnung abzustellen, nicht gefolgt werden.

57

In Anbetracht seines Kontexts und seiner Zielsetzung betrifft Art. 166 der Geschäftsordnung nämlich den Fall einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Parlaments oder der ordnungsgemäßen parlamentarischen Arbeit und zielt somit darauf ab, das Verhalten eines an der Sitzung oder an der parlamentarischen Arbeit teilnehmenden Mitglieds zu ahnden, das geeignet ist, deren Ablauf ernsthaft zu beeinträchtigen. Diese Auslegung entspricht zudem, wie in den vorstehenden Rn. 48 bis 50 dargelegt worden ist, im Allgemeinen der Zielsetzung einer ordnungsrechtlichen Regelung eines Parlaments, deren Rechtmäßigkeit der EGMR anerkannt hat (vgl. in diesem Sinne EGMR, 17. Mai 2016, Karácsony u. a./Ungarn, CE:ECHR:2016:0517JUD004246113, § 138 bis 140).

58

Nach dem Wortlaut von Art. 166 der Geschäftsordnung können bei zwei Sachverhalten Sanktionen verhängt werden, nämlich bei „außergewöhnlich schwerwiegenden Verstößen gegen die Ordnung … unter Missachtung der in Artikel 11 festgelegten Grundsätze“ und bei „Störungen der Arbeit des Parlaments unter Missachtung der in Artikel 11 festgelegten Grundsätze“.

59

Hierzu ist festzustellen, dass weder aus der Entscheidung des Präsidiums noch aus den Schriftsätzen der Parteien hervorgeht, dass die Äußerungen des Klägers in der Plenarsitzung vom 7. Juni 2016 irgendeinen Verstoß gegen die Ordnung im Sinne der ersten Alternative von Art. 166 Abs. 1 der Geschäftsordnung verursacht haben. In dieser Entscheidung heißt es lediglich, dass die Vizepräsidentin des Parlaments, die die Aussprache leitete, den Kläger im Anschluss an seine Rede zur Ordnung gerufen habe und dass ein weibliches Mitglied sich des – völlig üblichen und nicht auf irgendeine Störung der Ordnung hinweisenden – Verfahrens der „blauen Karte“ bedient habe, um den Kläger aufzufordern, Beweise für seine Behauptungen vorzulegen.

60

Zudem hat das Parlament sowohl in seinen Antworten auf die schriftlichen Fragen des Gerichts als auch in der Sitzung bestätigt, dass es infolge der Ausführungen des Klägers nicht zu einem außergewöhnlich schwerwiegenden Verstoß gegen die Ordnung oder zu einer Störung der Arbeit während der Plenarsitzung vom 7. Juni 2016 und im Rahmen der dort geführten Aussprache gekommen ist. Nach Ansicht des Parlaments wird der Fall des Klägers gleichwohl von der zweiten Alternative des Art. 166 Abs. 1 der Geschäftsordnung erfasst, nämlich „Störung der Arbeit“, die eine unmittelbare Folge der Missachtung der in deren Art. 11 festgelegten Grundsätze gewesen sei, in dem Verhaltensregeln für die Mitglieder festgelegt seien. Die „Störung“, die die Verhängung der ordnungsrechtlichen Sanktionen gegen den Kläger gerechtfertigt habe, habe sich außerhalb der Sitzung durch eine Beeinträchtigung des Ansehens des Parlaments und seiner Würde als Unionsorgan manifestiert. Der in Art. 166 Abs. 1 der Geschäftsordnung enthaltene Begriff der Störungen der Arbeit sei nicht auf die Aussprachen oder die parlamentarischen Arbeiten beschränkt, sondern müsse in einem weiteren Sinne verstanden werden, der das Parlament in seiner Gesamtheit umfasse, seine Würde, sein Ansehen und damit seine Funktionsfähigkeit.

61

Diesem Vorbringen ist nicht zu folgen.

62

Erstens ist festzustellen, dass der vom Parlament in der Sitzung behauptete Befund, der Fall des Klägers werde von der zweiten Alternative des Art. 166 Abs. 1 der Geschäftsordnung – Störungen der Arbeit des Parlaments – erfasst, nicht aus der Entscheidung des Präsidiums hervorgeht, in der nicht gesagt wird, auf welchen der in dieser Bestimmung genannten Tatbestände eines ordnungsrechtlichen Verstoßes die Entscheidung gestützt ist. In Rn. 40 dieser Entscheidung wird zudem auf eine Missachtung der in Art. 11 der Geschäftsordnung festgelegten Grundsätze und damit auf das Vorliegen einer außergewöhnlich schwerwiegenden Störung der Ordnung oder der Arbeit des Parlaments geschlossen. Insoweit genügt aber der Hinweis darauf, dass die Voraussetzungen, unter denen eine Sanktion gegen ein Mitglied verhängt werden kann, in Art. 166 der Geschäftsordnung und nicht in deren Art. 11 festgelegt sind. Art. 11 der Geschäftsordnung enthält nämlich Verhaltensregeln, in denen auf die Grundsätze und Werte verwiesen wird, die die Mitglieder in ihrem Verhalten zu beachten haben, wobei es dort lediglich heißt, dass die Nichteinhaltung dieser Verhaltensregeln zur Anwendung von Maßnahmen gemäß den Art. 165, 166 und 167 führen kann. Folglich ergibt sich der in Rn. 40 der Entscheidung des Präsidiums gezogene Schluss, dass eine Missachtung der in Art. 11 der Geschäftsordnung festgelegten Grundsätze ipso facto zur Feststellung eines „außergewöhnlich schwerwiegenden Verstoßes gegen die Ordnung oder einer Störung der Arbeit des Parlaments“ führe, keineswegs aus dieser Bestimmung.

63

Was zweitens die Voraussetzung der Störung der Arbeit des Parlaments angeht, ist zu beachten, dass zwar Art. 166 Abs. 1 der Geschäftsordnung auf die in Art. 11 der Geschäftsordnung niedergelegten Grundsätze verweist, dass aber eine Wortlautauslegung der erstgenannten Bestimmung ergeben würde, dass die Missachtung dieser Grundsätze kein eigenständiger Sanktionsgrund, sondern eine zusätzliche Voraussetzung dafür ist, wegen einer Störung der Arbeit des Parlaments eine Sanktion verhängen zu können, was das Parlament im Übrigen in der Sitzung bestätigt hat. Folglich kann wegen einer Missachtung der in Art. 11 der Geschäftsordnung festgelegten Grundsätze, sollte sie nachgewiesen sein, als solcher allein keine Sanktion verhängt werden, sondern nur dann, wenn mit ihr eine Störung der Arbeit des Parlaments einhergeht, was das Parlament ebenfalls in der Sitzung bestätigt hat.

64

Drittens kann entgegen dem Vorbringen des Parlaments in der Sitzung die Störung der Arbeit des Parlaments im Sinne von Art. 166 Abs. 1 der Geschäftsordnung, die sich außerhalb des Sitzungssaals durch den Widerhall der Äußerungen des Klägers außerhalb des Parlaments konkretisiert haben soll, nicht als eine Beeinträchtigung des Ansehens oder der Würde des Parlaments als Unionsorgan angesehen werden. Die Entscheidung des Präsidiums enthält im Übrigen keinen dahin gehenden Hinweis und keine Würdigung in Bezug auf die Kriterien, die das Präsidium des Parlaments zur Feststellung einer Beeinträchtigung der Würde des Parlaments veranlasst haben. Außerdem würde in Ermangelung einer Definition objektiver Kriterien für die Beurteilung des Vorliegens einer solchen Beeinträchtigung sowie angesichts des zumindest vagen Charakters des Begriffs „Würde des Parlaments“ und des erheblichen Beurteilungsspielraums, über den das Parlament in dieser Hinsicht verfügt, eine solche Auslegung bewirken, die Freiheit der Meinungsäußerung der Mitglieder des Parlaments willkürlich einzuschränken.

65

Überdies ist darauf hinzuweisen, dass Art. 11 Abs. 2 Unterabs. 1 der Geschäftsordnung das „Verhalten“ der Mitglieder betrifft und vorsieht, dass dieses bestimmten Verpflichtungen genügen muss, d. h., es muss von gegenseitigem Respekt geprägt sein, auf den in den Grundlagentexten der Europäischen Union festgelegten Werten und Grundsätzen beruhen, die Würde des Parlaments achten und darf weder den ordnungsgemäßen Ablauf der parlamentarischen Arbeit beeinträchtigen noch Ruhestörungen in den Gebäuden des Parlaments verursachen. Auch Art. 166 Abs. 2 der Geschäftsordnung betrifft das Verhalten der Mitglieder und sieht vor, dass bei dessen Bewertung sein punktueller, wiederkehrender oder fortgesetzter Charakter und sein Schweregrad auf der Grundlage der dieser Geschäftsordnung als Anlage XV beigefügten Leitlinien zu berücksichtigen sind. Dagegen sind dort Äußerungen, Wortmeldungen oder Reden nicht erwähnt und können daher als solche nicht Gegenstand einer Sanktionsmaßnahme sein.

66

Dieses Verständnis wird durch Art. 11 Abs. 3 Unterabs. 1 der Geschäftsordnung bestätigt, wonach „[d]ie Anwendung dieses Artikels … weder die Lebhaftigkeit der Parlamentsdebatten noch die Redefreiheit der Mitglieder in irgendeiner Weise ein[schränkt]“. Zudem wird eine solche Auslegung von Art. 11 Abs. 2 durch die kürzlich erfolgte, am 16. Januar 2017 in Kraft getretene Änderung der Geschäftsordnung des Parlaments gestützt, mit der der Anwendungsbereich ordnungsrechtlicher Sanktionen erweitert werden soll. In dem neuen Art. 11 Abs. 3 Unterabs. 2 der Geschäftsordnung wurde nämlich das ausdrückliche Verbot verleumderischer, rassistischer und fremdenfeindlicher Äußerungen und Verhaltensweisen aufgenommen. Außerdem wurde Art. 11 Abs. 3 Unterabs. 1 der Geschäftsordnung, nunmehr deren Art. 11 Abs. 4 Unterabs. 1, ebenfalls geändert und sieht jetzt vor, dass „[d]ie Anwendung dieses Artikels … weder die Lebhaftigkeit der Parlamentsdebatten noch die Redefreiheit der Mitglieder in sonstiger Weise ein[schränkt]“. Folglich konnten im vorliegenden Fall Äußerungen im Rahmen des Mandats, selbst wenn unterstellt wird, sie könnten einem Verhalten gleichgestellt werden und hätten unter diesem Gesichtspunkt eine Missachtung der in Art. 11 Abs. 2 der Geschäftsordnung, wie er in der entscheidungserheblichen Zeit galt, festgelegten Grundsätze darstellen können, in Ermangelung eines außergewöhnlich schwerwiegenden Verstoßes gegen die Ordnung oder einer Störung der Arbeit des Parlaments nicht Gegenstand einer Sanktion sein.

67

Die Unterscheidung zwischen visuellen Äußerungen, die unter bestimmten Umständen geduldet werden können, einerseits und Verhaltensweisen, „durch die eine parlamentarische Tätigkeit gleich welcher Art aktiv gestört wird“, andererseits, die in Nr. 1 der in Anlage XV enthaltenen Leitlinien, auf die Art. 166 Abs. 2 der Geschäftsordnung verweist (siehe vorstehende Rn. 65), getroffen wird, erlaubt es im Übrigen nicht, Äußerungen in einer Plenarsitzung in die letztgenannte Kategorie einzubeziehen, wenn es an der Feststellung eines außergewöhnlich schwerwiegenden Verstoßes gegen die Ordnung oder einer schwerwiegenden Störung der Arbeit des Parlaments fehlt.

68

Nach alledem und unter Berücksichtigung der besonderen Bedeutung, die der Meinungsäußerungsfreiheit der Mitglieder des Parlaments zukommt, sowie der für Einschränkungen dieser Freiheit geltenden engen Grenzen, beides dargelegt in den vorstehenden Rn. 37 bis 50, sind die Art. 11 und 166 der Geschäftsordnung in ihrer auf die vorliegende Rechtssache anwendbaren Fassung dahin auszulegen, dass sie es nicht erlauben, gegen ein Mitglied wegen Ausführungen im Rahmen seines Mandats eine Sanktion zu verhängen. Selbst wenn unterstellt wird, solche Äußerungen könnten dem Verhalten des Mitglieds gleichgestellt werden, so hätten sie jedenfalls in Ermangelung eines außergewöhnlich schwerwiegenden Verstoßes gegen die Ordnung oder einer Störung der Arbeit des Parlaments unter Missachtung von Art. 11 der Geschäftsordnung nicht Gegenstand einer Sanktion sein können.

69

Unter diesen Umständen und ungeachtet des besonders anstößigen Charakters der vom Kläger in seinen Ausführungen in der Plenarsitzung vom 7. Juni 2016 gebrauchten Worte konnte das Parlament im vorliegenden Fall gegen diesen keine ordnungsrechtliche Sanktion auf der Grundlage von Art. 166 Abs. 1 seiner Geschäftsordnung verhängen. Im Übrigen kann das Parlament mit seinem Vorbringen in der Sitzung, es habe die Sanktion in Wahrheit wegen der vom Kläger in seiner Rede gebrauchten Sprache und nicht wegen des Inhalts derselben verhängt, unter Berücksichtigung der Rn. 34 und 36 der Entscheidung des Präsidiums, in denen von der „Absicht [des Klägers], seine eigene Meinung zu äußern“, und von dem vom Kläger ausgedrückten „Gedanken“ die Rede ist, keinen Erfolg haben.

70

Überdies käme, selbst wenn angenommen würde, dass sich die Störung der Arbeit nicht im engen Sinne auf den Sitzungssaal beschränkt, weil in Art. 166 Abs. 1 der Geschäftsordnung nur in der ersten Alternative – außergewöhnlich schwerwiegender Verstoß – auf die „Ordnung [der Sitzung]“ Bezug genommen wird, ein derart weit gefasstes Verständnis, wie es vom Parlament befürwortet wird, aus den in der vorstehenden Rn. 64 dargelegten Gründen nicht in Betracht.

71

Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass dem ersten Klagegrund zu folgen ist, ohne dass über das Vorbringen des Klägers zu entscheiden ist, die Sanktion sei auch wegen Äußerungen am Rande der Plenarsitzung vom 7. Juni 2016 oder im Rahmen der Ausübung seiner Verteidigungsrechte verhängt worden.

72

Nach alledem ist dem zweiten Klageantrag stattzugeben und die Entscheidung des Präsidiums aufzuheben, ohne dass es der Prüfung der übrigen zur Stützung des Aufhebungsantrags geltend gemachten Klagegründe bedarf. Unter diesen Umständen ist nicht über den Erlass der vom Kläger beantragten prozessleitenden Maßnahme zu entscheiden.

Zum Antrag auf Schadensersatz

73

Zur Stützung seines Schadensersatzantrags macht der Kläger geltend, die Aufhebung der Entscheidung des Präsidiums erlaube nicht die Wiedergutmachung des ihm entstandenen Schadens. Er fordert daher zum einen Ersatz des ihm durch den Verlust des Tagegelds entstandenen finanziellen Schadens in Höhe von 3060 Euro. Zum anderen beantragt er, das Parlament zur Zahlung eines Betrags von 10000 Euro zum Ersatz des immateriellen Schadens zu verurteilen, der ihm durch seine Suspendierung von der Teilnahme an den Tätigkeiten des Parlaments und durch die Beeinträchtigung seines Ansehens und seines guten Rufes entstanden sei.

74

Das Parlament macht geltend, der Antrag auf Ersatz des finanziellen Schadens sei unzulässig. Zudem sieht es in der Aufhebung der Entscheidung des Präsidiums eine angemessene Wiedergutmachung des immateriellen Schadens des Klägers. Hilfsweise hält es einen Betrag von höchstens 1000 Euro für angemessen.

75

Was als Erstes den Antrag auf Ersatz des durch den Verlust des Tagegelds entstandenen finanziellen Schadens angeht, genügt der Hinweis, dass der Kläger nicht erläutert, warum selbst im Fall der Aufhebung der Entscheidung des Präsidiums der Umstand, dass er die in Rede stehende Sanktion bereits erlitten hat, es ihm nicht erlauben soll, die Wiedergutmachung seines gesamten Schadens zu erlangen, zumal er nur die Zahlung des Betrags fordert, der dem Tagegeld entspricht, das er erhalten hätte, wäre die Sanktion nicht gegen ihn verhängt worden, also 3060 Euro. In Anbetracht der Aufhebung der Entscheidung des Präsidiums und gemäß Art. 266 AEUV hat das Parlament indes die sich aus dem vorliegenden Urteil ergebenden Maßnahmen zu ergreifen, was die Nachzahlung der Beträge einschließt, die dem Tagegeld entsprechen, dessen Zahlung ausgesetzt worden war.

76

Folglich ist der Antrag auf Ersatz des finanziellen Schadens zurückzuweisen.

77

Was als Zweites den Antrag auf Ersatz des vom Kläger behaupteten immateriellen Schadens angeht, so kann die Aufhebung einer angefochtenen Maßnahme als solche ein angemessener und grundsätzlich hinreichender Ersatz für den gesamten immateriellen Schaden sein, der möglicherweise durch diese Maßnahme entstanden ist (Urteile vom 9. Juli 1987, Hochbaum und Rawes/Kommission, 44/85, 77/85, 294/85 und 295/85, EU:C:1987:348, Rn. 22, und vom 9. November 2004, Montalto/Rat, T‑116/03, EU:T:2004:325, Rn. 127), es sei denn, der Kläger tut dar, dass er einen immateriellen Schaden erlitten hat, der sich von dem die Aufhebung begründenden Rechtsverstoß trennen lässt und durch diese Aufhebung nicht vollständig wiedergutgemacht werden kann (vgl. Urteil vom 25. Juni 2015, EE/Kommission, F‑55/14, EU:F:2015:66, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

78

Im vorliegenden Fall erlaubt nichts in der Akte die Feststellung, dass die Entscheidung des Präsidenten und die Entscheidung des Präsidiums unter Umständen ergangen wären, die dem Kläger einen immateriellen Schaden unabhängig von der aufgehobenen Entscheidung zugefügt hätten. Daher ist der Antrag auf Ersatz eines immateriellen Schadens zurückzuweisen.

Kosten

79

Nach Art. 134 Abs. 3 der Verfahrensordnung trägt, wenn jede Partei teils obsiegt, teils unterliegt, jede Partei ihre eigenen Kosten. Da im vorliegenden Fall nur dem Aufhebungsantrag stattgegeben worden ist, ist zu entscheiden, dass jede Partei ihre eigenen Kosten trägt.

 

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Sechste erweiterte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

 

1.

Die Entscheidung des Präsidiums des Europäischen Parlaments vom 1. August 2016 wird aufgehoben.

 

2.

Der Antrag auf Schadensersatz wird zurückgewiesen.

 

3.

Herr Janusz Korwin-Mikke und das Parlament tragen jeweils ihre eigenen Kosten.

 

Berardis

Papasavvas

Spielmann

Csehi

Spineanu-Matei

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 31. Mai 2018.

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.

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