Urteil vom Europäischer Gerichtshof - C-246/17
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)
27. Juni 2018 ( *1 )
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 10 Abs. 1 – Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers – Ausstellung – Frist – Erlass und Bekanntgabe der Entscheidung – Folgen der Nichteinhaltung der Sechsmonatsfrist – Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten – Effektivitätsgrundsatz“
In der Rechtssache C‑246/17
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) mit Entscheidung vom 27. April 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Mai 2017, in dem Verfahren
Ibrahima Diallo
gegen
État belge
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter C. G. Fernlund, J.‑C. Bonichot, A. Arabadjiev und S. Rodin,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: V. Giacobbo-Peyronnel, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. Januar 2018,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– |
von Herrn Diallo, vertreten durch D. Andrien, avocat, |
– |
der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet, M. Jacobs, L. Van den Broeck und P. Cottin als Bevollmächtigte im Beistand von F. Motulsky, avocat, |
– |
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten, |
– |
der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Wils und E. Montaguti als Bevollmächtigte, |
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. März 2018
folgendes
Urteil
1 |
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, und Berichtigung ABl. 2004, L 229, S. 35). |
2 |
Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen dem guineischen Staatsangehörigen Ibrahima Diallo und dem belgischen Staat wegen der Ablehnung seines Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Bürgers der Europäischen Union. |
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 |
Art. 4 Abs. 2 Buchst. a in Kapitel II („Familienangehörige“) der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. 2003, L 251, S. 12) sieht u. a. vor: „Vorbehaltlich der in Kapitel IV genannten Bedingungen können die Mitgliedstaaten in ihren nationalen Rechtsvorschriften folgenden Familienangehörigen die Einreise und den Aufenthalt gemäß dieser Richtlinie gestatten:
|
4 |
Im fünften Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38 heißt es: „Das Recht aller Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, sollte, wenn es unter objektiven Bedingungen in Freiheit und Würde ausgeübt werden soll, auch den Familienangehörigen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit gewährt werden. ...“ |
5 |
Art. 1 der Richtlinie 2004/38 bestimmt: „Diese Richtlinie regelt:
|
6 |
Art. 2 der Richtlinie 2004/38 sieht vor: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck …
|
7 |
Art. 3 („Berechtigte“) Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 lautet: „Diese Richtlinie gilt für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne von Artikel 2 Nummer 2, die ihn begleiten oder ihm nachziehen.“ |
8 |
Art. 5 („Recht auf Einreise“) Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 sieht vor: „Von Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, ist gemäß der Verordnung (EG) Nr. 539/2001 [des Rates vom 15. März 2001 zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumpflicht befreit sind (ABl. 2001, L 81, S. 1)] oder gegebenenfalls den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften lediglich ein Einreisevisum zu fordern. Für die Zwecke dieser Richtlinie entbindet der Besitz einer gültigen Aufenthaltskarte gemäß Artikel 10 diese Familienangehörigen von der Visumspflicht. Die Mitgliedstaaten treffen alle erforderlichen Maßnahmen, um diesen Personen die Beschaffung der erforderlichen Visa zu erleichtern. Die Visa werden so bald wie möglich nach einem beschleunigten Verfahren unentgeltlich erteilt.“ |
9 |
In Art. 10 der Richtlinie 2004/38 heißt es: „(1) Zum Nachweis des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, wird spätestens sechs Monate nach Einreichung des betreffenden Antrags eine ‚Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers‘ ausgestellt. Eine Bescheinigung über die Einreichung des Antrags auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte wird unverzüglich ausgestellt. (2) Für die Ausstellung der Aufenthaltskarte verlangen die Mitgliedstaaten die Vorlage folgender Dokumente:
…“ |
Belgisches Recht
10 |
Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts wird gemäß Art. 42 § 1 der Loi du 15 décembre 1980 sur l’accès au territoire, le séjour, l’établissement et l’éloignement des étrangers (Gesetz vom 15. Dezember 1980 über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und das Entfernen von Ausländern) (Moniteur belge vom 31. Dezember 1980, S. 14584, im Folgenden: Gesetz vom 15. Dezember 1980) das Recht auf Aufenthalt im belgischen Hoheitsgebiet spätestens sechs Monate nach dem Datum des Antrags zuerkannt. |
11 |
Nach Art. 52 § 4 Abs. 2 des Arrêté royal du 8 octobre 1981 sur l’accès au territoire, le séjour, l’établissement et l’éloignement des étrangers (Königlicher Erlass vom 8. Oktober 1981 über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und das Entfernen von Ausländern) (Moniteur belge vom 27. Oktober 1981, S. 13740, im Folgenden: Königlicher Erlass vom 8. Oktober 1981) wird, wenn binnen der Sechsmonatsfrist nach dem Antrag auf Zuerkennung dieses Rechts kein Beschluss gefasst wird, dem Ausländer von Amts wegen eine Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers ausgestellt. |
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
12 |
Am 25. November 2014 beantragte Herr Diallo, ein guineischer Staatsangehöriger, als Verwandter in aufsteigender Linie eines in Belgien wohnhaften Kindes, das die niederländische Staatsangehörigkeit besitzt, die Erteilung einer Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers. |
13 |
Der belgische Staat lehnte den Antrag am 22. Mai 2015 ab und wies Herrn Diallo an, das Hoheitsgebiet zu verlassen. Diese Entscheidung wurde Herrn Diallo am 3. Juni 2015 bekannt gegeben. |
14 |
Auf Klage von Herrn Diallo erklärte der Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien) die Entscheidung vom 22. Mai 2015 mit Urteil vom 29. September 2015 wegen eines Begründungsmangels für nichtig. |
15 |
Am 9. November 2015 erließen die zuständigen belgischen Behörden erneut eine Aufenthaltsverweigerung, verbunden mit der Anweisung, das Hoheitsgebiet zu verlassen. Sie wurde Herrn Diallo am 26. November 2015 bekannt gegeben. In dieser Entscheidung hieß es im Wesentlichen, Herr Diallo habe nicht fristgemäß dargetan, dass ihm als „Familienangehöriger eines Unionsbürgers“ ein Aufenthaltsrecht von mehr als drei Monaten zustehen könne. Der belgische Staat war insbesondere der Auffassung, Herr Diallo habe zum einen keine hinreichenden Mittel nachgewiesen und zum anderen nicht überzeugend dargetan, dass sein Kind, das die niederländische Staatsangehörigkeit besitze, unterhaltsberechtigt sei oder er das Sorgerecht tatsächlich ausübe. |
16 |
Am 11. Dezember 2015 erhob Herr Diallo gegen die Entscheidung vom 9. November 2015 Nichtigkeitsklage beim Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen). Dieser wies die Klage mit Urteil vom 23. Februar 2016 ab. |
17 |
Am 25. März 2016 legte Herr Diallo gegen dieses Urteil Kassationsbeschwerde beim Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) ein. Er stützt seine Beschwerde u. a. darauf, dass nach Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 die Entscheidung über den Antrag auf Zuerkennung des Aufenthaltsrechts dem Antragsteller binnen einer Frist von sechs Monaten nach Antragseinreichung bekannt zu geben und das nationale Recht dementsprechend auszulegen sei. Außerdem werde Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 seine praktische Wirksamkeit genommen, wenn der zuständigen nationalen Behörde nach der Nichtigerklärung einer ersten Entscheidung eine weitere Frist von sechs Monaten gewährt werde. |
18 |
Der belgische Staat macht dagegen insbesondere geltend, dass in keinen Rechts- oder Verwaltungsvorschriften eine Frist für die Bekanntgabe der Entscheidung über einen Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte vorgeschrieben sei. Die zuständige nationale Behörde sei nur verpflichtet, eine solche Entscheidung innerhalb der Sechsmonatsfrist zu treffen. Da die Richtlinie 2004/38 im Übrigen nicht die sich aus dem Nichtigkeitsurteil vom 29. September 2015 ergebenden Wirkungen regele, nämlich die Frage, innerhalb welcher Frist die zuständige Behörde nach gerichtlicher Nichtigerklärung einer ersten Entscheidung erneut zu entscheiden habe, bestimme sich dies nach dem nationalen Recht. Jedenfalls werde nicht dargetan, dass die Eröffnung einer neuen Sechsmonatsfrist für die Entscheidung über einen Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte nach der gerichtlichen Nichtigerklärung einer ersten Entscheidung unvernünftig sei. |
19 |
In diesem Zusammenhang führt das vorlegende Gericht zunächst aus, das nationale Recht sehe nur vor, dass das Aufenthaltsrecht spätestens sechs Monate nach der Antragstellung zuerkannt werde, ohne näher zu erläutern, ob die Entscheidung über die Zuerkennung des Aufenthaltsrechts dem Betroffenen innerhalb dieser Frist bekannt zu geben sei. Um das nationale Recht im Einklang mit den Anforderungen von Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 anzuwenden, sei zu klären, ob diese Vorschrift dahin auszulegen sei, dass die Entscheidung über das Aufenthaltsrecht innerhalb der Sechsmonatsfrist getroffen und bekannt gegeben werden müsse. |
20 |
Sodann weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Richtlinie 2004/38 nicht die Folgen der Nichtigerklärung einer Entscheidung über einen Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte regele. Insbesondere ist es sich nicht sicher, über welche Frist die zuständige nationale Behörde verfügt, um nach gerichtlicher Nichtigerklärung ihrer ersten Entscheidung, mit der sie die Anerkennung des fraglichen Rechts verweigerte, über einen Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte zu entscheiden. Für die Bestimmung dieser neuen Frist komme es darauf an, ob es dem Effektivitätsgrundsatz widerspreche, dass die zuständige nationale Behörde nach der Nichtigerklärung ihrer Entscheidung erneut über die volle in Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 vorgesehene Frist von sechs Monaten verfüge. |
21 |
Darüber hinaus verfüge die zuständige nationale Behörde nach der nationalen Rechtsprechung angesichts des zwingenden Charakters der in Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen Frist und der Wirkungen eines Nichtigkeitsurteils von dessen Zustellung an über die volle Frist, über die sie für die Entscheidung über einen Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte verfügt habe, und nicht nur über den Teil der Frist, der am Tag des Erlasses der für nichtig erklärten Handlung noch nicht abgelaufen war. |
22 |
Das vorlegende Gericht möchte schließlich wissen, ob es nach der Richtlinie 2004/38 untersagt ist, dass dem Antragsteller bei Überschreitung der Sechsmonatsfrist des Art. 10 Abs. 1 dieser Richtlinie eine Aufenthaltskarte automatisch auch dann ausgestellt wird, wenn er die dafür erforderlichen Voraussetzungen nicht erfüllt. Sollte die in Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 vorgesehene Frist im vorliegenden Fall tatsächlich überschritten worden sein und sollte es nach der Richtlinie nicht untersagt sein, dass diese Fristüberschreitung die Verpflichtung zur Ausstellung der beantragten Aufenthaltskarte zur Folge habe, wäre die Entscheidung vom 9. November 2015, Herrn Diallo die Aufenthaltskarte nicht zu erteilen, als rechtswidrig anzusehen. |
23 |
Unter diesen Umständen hat der Conseil d’État (Staatsrat) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
|
Zu den Vorlagefragen
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs und zur Zulässigkeit der Vorlagefragen
24 |
Die belgische Regierung macht geltend, der Gerichtshof sei für die Beantwortung der Vorlagefragen nicht zuständig, da der im Ausgangsverfahren fragliche Sachverhalt nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts falle. |
25 |
Erstens könne Herr Diallo nicht in den Genuss der Vorschriften der Richtlinie 2004/38 kommen, da er kein „Familienangehöriger“ im Sinne von Art. 2 Nr. 2 dieser Richtlinie sei. Zweitens unterfalle der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens auch nicht der Richtlinie 2003/86, da Herr Diallo eine Aufenthaltskarte nur unter Berufung auf seine Eigenschaft als Verwandter in aufsteigender Linie eines Unionsbürgers beantragt habe. Drittens könne dem Kläger des Ausgangsverfahrens kein Aufenthaltsrecht auf der Grundlage der Art. 20 und 21 AEUV zuerkannt werden. |
26 |
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht den Gerichtshof mit seinen Fragen um Auslegung von Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 in Verbindung mit anderen Vorschriften dieser Richtlinie, der Richtlinie 2003/86, dem AEU-Vertrag und der Charta der Grundrechte ersucht. |
27 |
Darüber hinaus erfordert die Frage, ob ein Drittstaatsangehöriger in den Geltungsbereich der Richtlinien 2003/86 und/oder 2004/38 fällt, die Auslegung des Unionsrechts, insbesondere der in Art. 4 der Richtlinie 2003/86 sowie in den Art. 2 und 3 der Richtlinie 2004/38 aufgestellten Voraussetzungen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. September 2016, CS, C‑304/14, EU:C:2016:674, Rn. 22, und vom 14. November 2017, Lounes, C‑165/16, EU:C:2017:862, Rn. 44). |
28 |
Nach Art. 267 AEUV entscheidet der Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung über die Auslegung u. a. der Verträge, der Charta der Grundrechte sowie der von den Vorlagefragen betroffenen Richtlinien. |
29 |
Soweit die belgische Regierung mit ihrem Vorbringen in Wirklichkeit die Zulässigkeit der Vorlagefragen in Frage stellen möchte, ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof die Entscheidung über eine Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nach ständiger Rechtsprechung nur dann verweigern kann, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder das Problem hypothetischer Natur ist, oder auch, wenn der Gerichtshof nicht über die erforderlichen tatsächlichen und rechtlichen Informationen verfügt, um die ihm vorgelegten Fragen zweckdienlich zu beantworten (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 23). |
30 |
Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht die Gründe dargelegt hat, aus denen die Auslegung der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen für die Erledigung des Ausgangsrechtsstreits erforderlich ist. Aus diesen Ausführungen ergibt sich nämlich, dass die Antwort des Gerichtshofs auf diese Fragen einen unmittelbaren Einfluss auf die Beurteilung der individuellen Situation von Herrn Diallo hat, insbesondere auf die Frage, ob die nationalen Behörden ihm eine Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers hätten ausstellen müssen. |
31 |
Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass der Gerichtshof für die Beantwortung der Vorabentscheidungsfragen des vorlegenden Gerichts zuständig ist und diese Fragen als zulässig anzusehen sind. |
Zur Begründetheit
Zu der ersten und der zweiten Frage
32 |
Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass die Entscheidung über den Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers innerhalb der in dieser Vorschrift vorgesehenen Sechsmonatsfrist erlassen und bekannt gegeben werden muss. |
33 |
Insoweit bestimmt Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38, dass zum Nachweis des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, spätestens sechs Monate nach Einreichung des betreffenden Antrags eine „Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers“ ausgestellt wird. |
34 |
Damit ergibt sich bereits aus dem Wortlaut dieser Vorschrift, dass die Mitgliedstaaten den Familienmitgliedern eines Unionsbürgers im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2004/38 eine Aufenthaltskarte innerhalb der Frist von sechs Monaten nach Antragstellung ausstellen müssen. |
35 |
Wie der Generalanwalt in Nr. 44 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, spricht nämlich die Verwendung der Formulierung „spätestens sechs Monate nach Einreichung des betreffenden Antrags“ eindeutig dafür, dass die Mitgliedstaaten dem Betroffenen die Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers binnen dieser Frist ausstellen müssen. |
36 |
Der Begriff „Ausstellung“ in Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 bedeutet, wie der Generalanwalt in den Nrn. 45 und 46 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, dass die zuständigen nationalen Behörden binnen der in dieser Vorschrift vorgesehenen sechsmonatigen Frist den Antrag prüfen, eine Entscheidung erlassen und, falls der Antragsteller die Voraussetzungen für ein Aufenthaltsrecht auf der Grundlage der Richtlinie 2004/38 erfüllt, ihm die Aufenthaltskarte erteilen müssen. |
37 |
Diese Auslegung wird, wie der Generalanwalt in Nr. 49 seiner Schlussanträge festgestellt hat, darüber hinaus durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs bestätigt, der entschieden hat, dass sich der Unionsgesetzgeber, was die Ausstellung der Aufenthaltskarte gemäß der Richtlinie 2004/38 angeht, im Wesentlichen darauf beschränkt hat, in Art. 10 dieser Richtlinie die Dokumente aufzuzählen, die vorzulegen sind, um eine solche Karte zu erhalten, die dann innerhalb von sechs Monaten nach Einreichung des Antrags auszustellen ist (Urteil vom 5. September 2012, Rahman u. a., C‑83/11, EU:C:2012:519, Rn. 42). |
38 |
Daraus ergibt sich, dass die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, einem Familienangehörigen eines Unionsbürgers die Aufenthaltskarte innerhalb der in Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen zwingenden Sechsmonatsfrist auszustellen, zwangsläufig erfordert, dass vor Ablauf dieser Frist eine Entscheidung erlassen und dem Betroffenen bekannt gegeben wird. |
39 |
Das Gleiche gilt, wenn die zuständigen nationalen Behörden es ablehnen, dem Betroffenen die Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers auszustellen. |
40 |
Denn im Verwaltungsverfahren nach Art. 10 der Richtlinie 2004/38, mit dem binnen sechs Monaten die individuelle Situation von Drittstaatsangehörigen im Hinblick auf die Vorschriften des Unionsrechts und insbesondere die Frage geprüft werden soll, ob diese Staatsangehörigen unter den Begriff „Familienangehörige“ im Sinne dieser Richtlinie fallen, können die zuständigen nationalen Behörden zum Erlass einer positiven oder einer negativen Entscheidung gelangen. |
41 |
Vor diesem Hintergrund kann die Entscheidung über den Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers dem Antragsteller nicht innerhalb unterschiedlicher Fristen bekannt gegeben werden, je nachdem, ob es sich bei der von der zuständigen nationalen Behörde erlassenen Entscheidung um eine positive oder eine negative Entscheidung handelt. |
42 |
Stellt die zuständige nationale Behörde nach der Prüfung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltskarte fest, dass die dazu erforderlichen Voraussetzungen nicht erfüllt sind, ist sie daher verpflichtet, die Entscheidung, die Ausstellung der Aufenthaltskarte zu verweigern, innerhalb derselben Sechsmonatsfrist zu erlassen und dem Antragsteller bekannt zu geben. |
43 |
Nach alledem ist auf die erste und die zweite Frage zu antworten, dass Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass die Entscheidung über den Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers innerhalb der in dieser Vorschrift vorgesehenen Sechsmonatsfrist erlassen und bekannt gegeben werden muss. |
Zur fünften Frage
44 |
Mit seiner fünften Frage, die vor der dritten und der vierten Frage zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, wonach die zuständigen nationalen Behörden, wenn die in Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 vorgesehene Sechsmonatsfrist überschritten ist, dem Betroffenen von Amts wegen eine Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers auszustellen haben, ohne zuvor festzustellen, dass der Betroffene die Voraussetzungen für den Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat nach dem Unionsrecht tatsächlich erfüllt. |
45 |
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2004/38 keine Vorschrift über die Wirkungen einer Überschreitung der Frist des Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 enthält, so dass diese Frage unter dem Vorbehalt der Wahrung des Effektivitäts- und des Äquivalenzgrundsatzes grundsätzlich in die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten fällt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. März 2016, Bensada Benallal, C‑161/15, EU:C:2016:175, Rn. 24). |
46 |
Auch wenn das Unionsrecht die Mitgliedstaaten in keiner Weise daran hindert, Regelungen über eine stattgebende Entscheidung oder eine stillschweigend erteilte Genehmigung zu treffen, dürfen solche Regelungen dabei die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigen. |
47 |
Wie sich aus Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 ergibt, wird eine Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers zum „Nachweis“ des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen eines Unionsbürgers im Sinne von Art. 2 Nr. 2 dieser Richtlinie ausgestellt. Zu diesem Zweck sind in Art. 10 Abs. 2 dieser Richtlinie die von den Drittstaatsangehörigen für den Erhalt dieser Aufenthaltskarte vorzulegenden Dokumente aufgeführt, mit denen die Eigenschaft eines „Familienangehörigen“ im Sinne der Richtlinie 2004/38 nachgewiesen werden soll. |
48 |
Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist die Ausstellung eines Aufenthaltstitels wie desjenigen nach Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 an einen Drittstaatsangehörigen jedoch nicht als rechtsbegründende Handlung zu betrachten, sondern als Handlung eines Mitgliedstaats, die dazu dient, die individuelle Situation eines Drittstaatsangehörigen im Hinblick auf die Bestimmungen des Unionsrechts festzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Juli 2011, Dias, C‑325/09, EU:C:2011:498, Rn. 48, sowie vom 12. März 2014, O. und B., C‑456/12, EU:C:2014:135, Rn. 60). |
49 |
Der deklaratorische Charakter einer Aufenthaltskarte bedeutet, dass mit ihr ein bereits bestehendes Aufenthaltsrecht des Betroffenen bescheinigt werden soll (Urteile vom 25. Juli 2008, Metock u. a., C‑127/08, EU:C:2008:449, Rn. 52, sowie vom 21. Juli 2011, Dias, C‑325/09, EU:C:2011:498, Rn. 54). |
50 |
Daraus ergibt sich, dass die Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers nach Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 einem Drittstaatsangehörigen, der die in der Richtlinie festgelegten Voraussetzungen für ihre Erteilung nicht erfüllt, nicht ausgestellt werden darf. |
51 |
Auch wenn nichts dagegen spricht, dass nach den nationalen Rechtsvorschriften ein auf die Antragstellung folgendes sechsmonatiges Schweigen der zuständigen Verwaltung als Ablehnung gilt, verbietet dagegen schon der Wortlaut der Richtlinie 2004/38, dass es als eine dem Antrag stattgebende Entscheidung gilt. |
52 |
Im Ausgangsverfahren geht aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten zum einen hervor, dass sich der Kläger nicht auf die Eigenschaft als „Verwandter in gerader aufsteigender Linie“ des betreffenden Unionsbürgers im Sinne von Art. 2 Nr. 2 Buchst. d der Richtlinie 2004/38 und Art. 4 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 berufen kann, so dass er nicht als „Familienangehöriger“ im Sinne dieser Vorschriften angesehen werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. November 2012, Iida, C‑40/11, EU:C:2012:691, Rn. 54). |
53 |
Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich aus der Richtlinie 2004/38 nicht für alle Drittstaatsangehörigen das Recht, in einen Mitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten, sondern nur für diejenigen, die im Sinne von Art. 2 Nr. 2 dieser Richtlinie „Familienangehörige“ eines Unionsbürgers sind, der sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat, indem er sich in einem anderen Mitgliedstaat als dem, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, niedergelassen hat (Urteil vom 8. November 2012, Iida, C‑40/11, EU:C:2012:691, Rn. 51). |
54 |
Zum anderen ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten sowie den klarstellenden Ausführungen der belgischen Regierung in der mündlichen Verhandlung, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung ein System der automatischen Ausstellung von Aufenthaltskarten für Familienangehörige eines Unionsbürgers vorsieht, nach dem die zuständige nationale Behörde den Antragstellern diese Karten von Amts wegen gewähren muss, wenn die Sechsmonatsfrist des Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 abgelaufen ist. |
55 |
Da ein solches System es zulässt, dass einer Person, die nicht die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt, eine Aufenthaltskarte ausgestellt wird, läuft es den Zielen der Richtlinie 2004/38 zuwider. |
56 |
Nach alledem ist auf die fünfte Frage zu antworten, dass die Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, wonach die zuständigen nationalen Behörden, wenn die in Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 vorgesehene Sechsmonatsfrist überschritten ist, dem Betroffenen von Amts wegen eine Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers auszustellen haben, ohne zuvor festzustellen, dass der Betroffene die Voraussetzungen für den Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat nach dem Unionsrecht tatsächlich erfüllt. |
Zu der dritten und der vierten Frage
57 |
Mit der dritten und der vierten Vorlagefrage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es einer nationalen Rechtsprechung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, wonach die zuständige nationale Behörde nach der gerichtlichen Nichtigerklärung einer die Ausstellung einer Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers ablehnenden Entscheidung automatisch erneut über die volle Sechsmonatsfrist nach Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 verfügt. |
58 |
Insoweit ist festzustellen, dass die Richtlinie 2004/38 keine Vorschrift über die Wirkungen der gerichtlichen Nichtigerklärung von Entscheidungen enthält, mit denen die zuständigen nationalen Behörden die Ausstellung von Aufenthaltskarten von Familienangehörigen eines Unionsbürgers ablehnen, insbesondere keine Vorschrift zu der Frage, über welche Frist die Behörden verfügen, um nach der Nichtigerklärung eine neue Entscheidung zu erlassen. |
59 |
Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es daher mangels einschlägiger Unionsregeln nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats, entsprechende Regeln festzulegen, allerdings unter der Voraussetzung, dass sie nicht ungünstiger sind als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte regeln, die dem innerstaatlichen Recht unterliegen (Äquivalenzgrundsatz), und dass sie die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 17. März 2016, Bensada Benallal, C‑161/15, EU:C:2016:175, Rn. 24, und vom 13. Dezember 2017, El Hassani, C‑403/16, EU:C:2017:960, Rn. 26). |
60 |
Im Ausgangsverfahren stellt sich allein die Frage nach der Beachtung des Effektivitätsgrundsatzes. |
61 |
Das vorlegende Gericht verweist auf eine nationale Rechtsprechung, wonach, wenn eine Entscheidung, die eine Verwaltungsbehörde innerhalb einer zwingenden Frist getroffen hat, gerichtlich für nichtig erklärt wird, von der Zustellung des Nichtigkeitsurteils an automatisch die volle Frist zu laufen beginnt, über die die Behörde für ihre Entscheidung verfügt hat. Nach dieser Rechtsprechung verfügte infolgedessen die zuständige nationale Behörde nach der gerichtlichen Nichtigerklärung ihrer ursprünglichen Entscheidung über eine neue Sechsmonatsfrist nach Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38, um den Antrag von Herrn Diallo auf Erteilung einer Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers zu bescheiden. |
62 |
In diesem Kontext erscheint die automatische Eröffnung einer neuen Sechsmonatsfrist nach der gerichtlichen Nichtigerklärung der ursprünglichen Entscheidung der zuständigen nationalen Behörde geeignet, dem Familienangehörigen eines Unionsbürgers die Durchsetzung seines Anspruchs auf eine Entscheidung über seinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltskarte nach Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 übermäßig zu erschweren. |
63 |
Erstens zielt nämlich das Verwaltungsverfahren nach Art. 10 der Richtlinie 2004/38, wie oben in Rn. 40 festgestellt, darauf ab, die individuelle Situation von Drittstaatsangehörigen im Hinblick auf die Vorschriften des Unionsrechts innerhalb einer zwingenden Frist von sechs Monaten zu prüfen. Insbesondere haben die zuständigen nationalen Behörden innerhalb dieser Frist nur zu prüfen, ob der Drittstaatsangehörige anhand der in Art. 10 Abs. 2 dieser Richtlinie angegebenen Dokumente nachweisen kann, dass er unter den Begriff „Familienangehöriger“ eines Unionsbürgers im Sinne der Richtlinie 2004/38 fällt, damit er in den Genuss der Aufenthaltskarte gelangt. |
64 |
Zweitens ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Richtlinie 2004/38 die Ausübung des elementaren individuellen Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, das den Unionsbürgern unmittelbar aus Art. 21 Abs. 1 AEUV erwächst, erleichtern und dieses Recht stärken soll. Darüber hinaus wird im fünften Erwägungsgrund dieser Richtlinie hervorgehoben, dass dieses Recht, wenn es unter objektiven Bedingungen in Würde ausgeübt werden soll, auch den Familienangehörigen dieser Unionsbürger ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit gewährt werden sollte (Urteil vom 14. November 2017, Lounes, C‑165/16, EU:C:2017:862, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
65 |
Dieses Ziel verlangt, dass ein Drittstaatsangehöriger, der nachweist, dass er unter den Begriff „Familienangehöriger“ eines Unionsbürgers im Sinne der Richtlinie 2004/38 fällt, die Aufenthaltskarte, die diese Eigenschaft nachweist, in kürzester Zeit erhalten kann. |
66 |
Denn zum einen ermöglicht, wie die Europäische Kommission im Wesentlichen feststellt, der deklaratorische Charakter der Aufenthaltskarte dem Drittstaatsangehörigen, der sich hinsichtlich der Rechtmäßigkeit seines Aufenthalts weiterhin in einer Situation rechtlicher Unsicherheit befindet, den Nachweis, sofern die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für sein Aufenthaltsrecht erfüllt sind, dass sein abgeleitetes Aufenthaltsrecht besteht, was sowohl die Ausübung dieses Rechts als auch seine Integration im Aufnahmemitgliedstaat erleichtert. |
67 |
Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 nur der Besitz einer gültigen Aufenthaltskarte die Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, von der Visumspflicht für die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten entbindet. Wie sich aus dem achten Erwägungsgrund dieser Richtlinie ergibt, soll diese Befreiung die Ausübung der Freizügigkeit für Familienangehörige eines Unionsbürgers, die Drittstaatsangehörige sind, erleichtern (Urteil vom 18. Dezember 2014, McCarthy u. a., C‑202/13, EU:C:2014:2450, Rn. 40 und 41). |
68 |
Daher steht die automatische Eröffnung einer neuen Sechsmonatsfrist nach der gerichtlichen Nichtigerklärung einer Entscheidung, mit der die Ausstellung einer Aufenthaltskarte abgelehnt wird, offensichtlich in keinem angemessenen Verhältnis zum Zweck des Verwaltungsverfahrens nach Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 sowie zum Ziel dieser Richtlinie. |
69 |
Infolgedessen läuft es dem Effektivitätsgrundsatz und dem mit der Richtlinie 2004/38 untrennbar verbundenen Ziel einer zügigen Bearbeitung zuwider, wenn die nationalen Behörden nach der gerichtlichen Nichtigerklärung einer ersten Entscheidung, mit der die Ausstellung einer Aufenthaltskarte abgelehnt wird, automatisch erneut über eine Frist von sechs Monaten verfügen. Die Behörden sind zum Erlass einer neuen Entscheidung in angemessener Frist verpflichtet, die jedenfalls nicht die Frist des Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 überschreiten darf. |
70 |
Nach alledem ist auf die dritte und die vierte Frage zu antworten, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es einer nationalen Rechtsprechung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, wonach die zuständige nationale Behörde nach der gerichtlichen Nichtigerklärung einer die Ausstellung einer Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers ablehnenden Entscheidung automatisch erneut über die volle Sechsmonatsfrist nach Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 verfügt. |
Kosten
71 |
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. |
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt: |
|
|
|
Unterschriften |
( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.
Referenzen
This content does not contain any references.