Urteil vom Europäischer Gerichtshof - C-648/17

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)

15. November 2018 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung – Richtlinie 72/166/EWG – Art. 3 Abs. 1 – Begriff ‚Benutzung eines Fahrzeugs‘ – Unfall, an dem zwei auf einem Parkplatz geparkte Fahrzeuge beteiligt waren – Materieller Schaden, der an einem Fahrzeug durch einen Mitfahrer des Nachbarfahrzeugs beim Öffnen der Tür dieses Fahrzeugs verursacht wurde“

In der Rechtssache C‑648/17

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Augstākā tiesa (Oberster Gerichtshof, Lettland) mit Entscheidung vom 13. November 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 20. November 2017, in dem Verfahren

BTA Baltic Insurance CompanyAS, vormals „Balcia Insurance“ SE,

gegen

„Baltijas Apdrošināšanas Nams“ AS

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten der Zweiten Kammer A. Arabadjiev (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Sechsten Kammer sowie der Richter C. G. Fernlund und S. Rodin,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der „BTA Baltic Insurance Company“ AS, vertreten durch E. Matveja und W. Stockmeyer,

der „Baltijas Apdrošināšanas Nams“ AS, vertreten durch A. Pečerica,

der lettischen Regierung, vertreten durch I. Kucina und V. Soņeca als Bevollmächtigte,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Garofoli, avvocato dello Stato,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch K.‑P. Wojcik und A. Sauka als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 72/166/EWG des Rates vom 24. April 1972 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und der Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht (ABl. 1972, L 103, S. 1, im Folgenden: Erste Richtlinie).

2

Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen der „BTA Baltic Insurance Company“ AS, vormals „Balcia Insurance“ SE, (im Folgenden: BTA) und der „Baltijas Apdrošināšanas Nams“ AS (im Folgenden: BAN) über die Erstattung einer von BTA an einen ihrer Kunden gezahlten Versicherungsleistung.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Mit der Richtlinie 2009/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht (ABl. 2009, L 263, S. 11) wurden u. a. die Erste Richtlinie und die Zweite Richtlinie 84/5/EWG des Rates vom 30. Dezember 1983 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung (ABl. 1984, L 8, S. 17, im Folgenden: Zweite Richtlinie) aufgehoben. Angesichts des für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens maßgeblichen Zeitpunkts unterliegt dieses gleichwohl den aufgehobenen Richtlinien.

4

Art. 1 der Ersten Richtlinie bestimmte:

„Im Sinne dieser Richtlinie ist zu verstehen unter:

2.

Geschädigter: jede Person, die ein Recht auf Ersatz eines von einem Fahrzeug verursachten Schadens hat;

…“

5

Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie lautete:

„Jeder Mitgliedstaat trifft vorbehaltlich der Anwendung des Artikels 4 alle zweckdienlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch eine Versicherung gedeckt ist. Die Schadensdeckung sowie die Modalitäten dieser Versicherung werden im Rahmen dieser Maßnahmen bestimmt.“

6

Art. 2 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie sah vor:

„Jeder Mitgliedstaat trifft zweckdienliche Maßnahmen, damit jede Rechtsvorschrift oder Vertragsklausel in einer nach Artikel 3 Absatz 1 der [Ersten Richtlinie] ausgestellten Versicherungspolice, mit der die Nutzung oder Führung von Fahrzeugen durch

hierzu weder ausdrücklich noch stillschweigend ermächtigte Personen oder

Personen, die keinen Führerschein für das betreffende Fahrzeug besitzen, oder

Personen, die den gesetzlichen Verpflichtungen in Bezug auf Zustand und Sicherheit des betreffenden Fahrzeugs nicht nachgekommen sind

von der Versicherung ausgeschlossen werden, bei der Anwendung von Artikel 3 Absatz 1 der [Ersten Richtlinie] bezüglich der Ansprüche von bei Unfällen geschädigten Dritten als wirkungslos gilt.

…“

7

Art. 3 der Richtlinie lautete:

„Familienmitglieder des Versicherungsnehmers, des Fahrers oder jeder anderen Person, die bei einem Unfall haftbar gemacht werden kann und durch die in Artikel 1 Absatz 1 bezeichnete Versicherung geschützt ist, dürfen nicht aufgrund dieser familiären Beziehungen von der Personenschadenversicherung ausgeschlossen werden.“

Lettisches Recht

8

Art. 1 des Sauszemes transportlīdzekļu īpašnieku civiltiesiskās atbildības obligātās apdrošināšanas likums (Gesetz über die verpflichtende Haftpflichtversicherung für Kraftfahrzeugeigentümer, mit dem die Erste Richtlinie und die Zweite Richtlinie umgesetzt wurden, im Folgenden: Gesetz über die Pflichtversicherung) bestimmt:

„In diesem Gesetz verwendete Begriffe:

2)

Versicherungsfall: ein Straßenverkehrsunfall, bei dem die Versicherungsleistung zu zahlen ist;

…“

9

Art. 3 dieses Gesetzes bestimmt:

„(1)   Gegenstand der Pflichtversicherung ist die zivilrechtliche Haftung des Eigentümers oder des rechtmäßigen Nutzers des Kraftfahrzeugs (im Folgenden: Eigentümerhaftpflicht) für den Schaden, der einem Dritten bei einem Straßenverkehrsunfall entsteht.

(2)   Jeder Eigentümer eines Kraftfahrzeugs ist verpflichtet, die Eigentümerhaftung für jedes im Straßenverkehr verwendete Fahrzeug durch Abschluss eines entsprechenden Versicherungsvertrags zu decken. …“

10

Art. 18 des Gesetzes sieht vor:

„Bei Eintritt eines Versicherungsfalls hat der Versicherer, der die Haftpflicht des Eigentümers des den Schaden verursachenden Fahrzeugs versichert hat, … die einem Dritten bei einem Straßenverkehrsunfall entstandenen … Schäden innerhalb der Haftungsgrenzen des Versicherers zu ersetzen.“

11

In Art. 25 Abs. 1 des Gesetzes heißt es:

„Der Sachschaden eines Dritten in einem Straßenverkehrsunfall ist ein Schaden durch

1)

die Beschädigung oder Zerstörung eines Kraftfahrzeugs;

…“

12

Art. 31 Abs. 10 des Gesetzes bestimmt:

„Wurde der entstandene Schaden von einem anderen Versicherungsunternehmen aufgrund eines freiwilligen Versicherungsvertrags ersetzt, so erstattet der Versicherer, der die Haftung des Eigentümers des Kraftfahrzeugs versichert hat, das den Schaden in einem Straßenverkehrsunfall verursacht hat, … den nach dem in diesem Gesetz vorgesehenen Verfahren berechneten und gezahlten Schadensersatz.“

13

Art. 1 des Ceļu satiksmes likums (Straßenverkehrsgesetz) sieht vor:

„In diesem Gesetz werden folgende Begriffe verwendet:

5)

Straßenverkehr: Beziehungen, die sich aus der Fortbewegung auf den Straßen mit oder ohne Fahrzeuge ergeben;

7)

Straßenverkehrsunfall: im Straßenverkehr eingetretenes ungewolltes Ereignis, an dem mindestens ein Kraftfahrzeug beteiligt ist und als dessen Folge eine Person getötet oder verletzt wird oder ein Schaden an Sachen einer natürlichen oder juristischen Person oder ein Umweltschaden entsteht, sowie ein Unfall mit Beteiligung eines Kraftfahrzeugs an jedem anderen Ort, an dem ein Kraftfahrzeug bewegt werden kann.“

14

Art. 44 dieses Gesetzes bestimmt:

„(1)   Für Schäden, die durch Verstöße gegen dieses Gesetz oder andere Gesetze zur Straßenverkehrssicherheit verursacht werden, ist Ersatz zu leisten.

(2)   Der Eigentümer oder der Besitzer eines Kraftfahrzeugs haftet für die Schäden, die durch die Nutzung des Kraftfahrzeugs verursacht werden, es sei denn, er weist nach, dass der Schaden auf höhere Gewalt, Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit des Opfers oder andere Umstände zurückzuführen ist, die nach dem Gesetz von der Haftung befreien.

…“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

15

Am 24. Oktober 2008 beschädigte der Mitfahrer eines auf einem Supermarktparkplatz parkenden Fahrzeugs (im Folgenden: erstes Fahrzeug) beim Öffnen der rechten Hintertür dieses Fahrzeugs die linke hintere Seite des Nachbarfahrzeugs (im Folgenden: zweites Fahrzeug).

16

Der Eigentümer des zweiten Fahrzeugs und der Fahrer des ersten Fahrzeugs füllten am Unfallort eine einvernehmliche Unfallerklärung aus, in der der Fahrer des ersten Fahrzeugs seine Schuld anerkannte und bestätigte, dass der Mitfahrer des ersten Fahrzeugs mit dessen Tür das zweite Fahrzeug beschädigt hatte.

17

BTA hatte mit dem Eigentümer des zweiten Fahrzeugs einen freiwilligen Versicherungsvertrag abgeschlossen. Für das erste Fahrzeug bestand eine Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung bei BAN.

18

BTA zahlte ihrem Kunden, dem Eigentümer des zweiten Fahrzeugs, aufgrund des mit ihm abgeschlossenen Versicherungsvertrags 47,42 lettische Lats (LVL) (ungefähr 67,47 Euro), was den Reparaturkosten für den an diesem Fahrzeug verursachten Schaden abzüglich des Selbstbehalts entsprach. Anschließend verlangte sie von BAN die Erstattung dieser Auslagen.

19

BAN verweigerte die Erstattung der Auslagen mit der Begründung, dass ein Unfall zwischen zwei stehenden Fahrzeugen nicht als „Versicherungsfall“ im Sinne des Gesetzes über die Pflichtversicherung angesehen werden könne.

20

BTA nahm daraufhin BAN gerichtlich auf Erstattung ihrer an den Eigentümer des zweiten Fahrzeugs gezahlten Versicherungsleistung in Anspruch. Das erstinstanzliche Gericht und das Berufungsgericht gaben ihrer Klage statt.

21

Die mit der Kassationsbeschwerde von BAN befasste Augstākā tiesa (Oberster Gerichtshof, Lettland) hob das Urteil des Berufungsgerichts mit Urteil vom 28. März 2014 wegen eines Begründungsmangels auf.

22

Nach Zurückverweisung der Sache wies die Rīgas apgabaltiesas Civillietu tiesas kolēģija (Regionalgericht Riga, Abteilung für Zivilsachen, Lettland) die Klage von BTA mit Urteil vom 20. Mai 2014 mit der Begründung ab, dass ein Straßenverkehrsunfall nur vorliege, wenn mindestens eines der beteiligten Fahrzeuge sich fortbewege, und dass daher der bei BAN versicherte Fall nicht eingetreten sei. Zudem hafte für die an dem zweiten Fahrzeug entstandenen Schäden zivilrechtlich nicht der Fahrer des ersten Fahrzeugs, sondern dessen Mitfahrer.

23

BTA legte gegen dieses Urteil Kassationsbeschwerde bei der Augstākā tiesa (Oberster Gerichtshof) ein. Sie stützte ihre Beschwerde u. a. darauf, dass die Auslegung des Begriffs „Versicherungsfall“ durch die Rīgas apgabaltiesas Civillietu tiesas kolēģija (Regionalgericht Riga, Abteilung für Zivilsachen) dem mit der Unionsregelung im Bereich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung verfolgten Ziel des Schutzes der Opfer von Unfällen, die durch Kraftfahrzeuge verursacht würden, zuwiderlaufe, dass die „Benutzung eines Fahrzeugs“ auch stehende Fahrzeuge einschließe und dass, da der Eigentümer eines Fahrzeugs für Schäden verantwortlich sei, die Dritten durch Mitfahrer bei der Nutzung des Fahrzeugs entstünden, diese Schäden durch die Haftpflichtversicherung für das Fahrzeug gedeckt seien.

24

Das vorlegende Gericht hat Zweifel, ob das Öffnen der Tür eines geparkten Fahrzeugs eine „Benutzung eines Fahrzeugs …, die dessen gewöhnlicher Funktion entspricht“, im Sinne des Urteils vom 4. September 2014, Vnuk (C‑162/13, EU:C:2014:2146), darstellt und daher unter den Begriff „Benutzung eines Fahrzeugs“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie fällt.

25

Das vorlegende Gericht weist insoweit darauf hin, dass die weite Definition des Begriffs, die der Gerichtshof in diesem Urteil vorgenommen habe, für eine Bejahung dieser Frage spreche. Das Ein- und Aussteigen der Mitfahrer sei nämlich eine Form der Nutzung des Fahrzeugs, und der Betrieb des Fahrzeugs könne nicht vollständig abgeschlossen werden, wenn die Mitfahrer im Fahrzeug blieben.

26

Sollte die Frage zu bejahen sein, fragt sich das vorlegende Gericht, ob der Begriff „Benutzung eines Fahrzeugs“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie auch die Fälle umfasst, in denen ein Mitfahrer das Fahrzeug benutzt.

27

Das vorlegende Gericht führt insoweit aus, dass nach Art. 1 Nr. 2 der Ersten Richtlinie der Begriff „Geschädigter“ im Sinne dieser Richtlinie jede Person erfasse, die ein Recht auf Ersatz eines von einem Fahrzeug verursachten Schadens habe. Darüber hinaus beziehe sich Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie auf die „Benutzung“ der Fahrzeuge und nicht auf die bloße Haftung der Fahrer.

28

Im Übrigen weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass der Gerichtshof im Urteil vom 4. September 2014, Vnuk (C‑162/13, EU:C:2014:2146), festgestellt habe, dass unter den in dieser Vorschrift enthaltenen Begriff „Benutzung eines Fahrzeugs“ jede Benutzung eines Fahrzeugs falle, die dessen gewöhnlicher Funktion entspreche. Das Öffnen der Türen eines Fahrzeugs, um aus- oder einzusteigen, sei eine solche Benutzung.

29

Unter diesen Umständen hat die Augstākā tiesa (Oberster Gerichtshof, Lettland) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Zu den Vorlagefragen

30

Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht in Erfahrung bringen, ob Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass ein Fall, in dem der Mitfahrer eines auf einem Parkplatz geparkten Fahrzeugs beim Öffnen der Tür dieses Fahrzeugs an das daneben geparkte Fahrzeug stößt und es beschädigt, unter den Begriff „Benutzung eines Fahrzeugs“ im Sinne dieser Vorschrift fällt.

31

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff „Benutzung eines Fahrzeugs“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie nicht dem Ermessen der einzelnen Mitgliedstaaten überlassen werden darf, sondern einen autonomen Begriff des Unionsrechts darstellt, der nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs unter Berücksichtigung insbesondere des Kontextes dieser Vorschrift und der Ziele ausgelegt werden muss, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteile vom 4. September 2014, Vnuk, C‑162/13, EU:C:2014:2146, Rn. 41 und 42, sowie vom 28. November 2017, Rodrigues de Andrade, C‑514/16, EU:C:2017:908, Rn. 31).

32

Die Unionsregelung im Bereich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung soll zum einen den freien Verkehr der Fahrzeuge mit gewöhnlichem Standort im Gebiet der Europäischen Union sowie der Fahrzeuginsassen gewährleisten und zum anderen den bei durch diese Fahrzeuge verursachten Unfällen Geschädigten unabhängig davon, wo in der Union sich der Unfall ereignet hat, eine vergleichbare Behandlung garantieren (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. Oktober 2012, Marques Almeida, C‑300/10, EU:C:2012:656, Rn. 26, vom 4. September 2014, Vnuk, C‑162/13, EU:C:2014:2146, Rn. 50, und vom 28. November 2017, Rodrigues de Andrade, C‑514/16, EU:C:2017:908, Rn. 32).

33

Außerdem ist der Entwicklung dieser Regelung zu entnehmen, dass das Ziel des Schutzes der Opfer von Unfällen, die durch diese Fahrzeuge verursacht werden, vom Unionsgesetzgeber ständig verfolgt und verstärkt wurde (Urteile vom 4. September 2014, Vnuk, C‑162/13, EU:C:2014:2146, Rn. 52 bis 55, sowie vom 28. November 2017, Rodrigues de Andrade, C‑514/16, EU:C:2017:908, Rn. 33).

34

Angesichts dieser Erwägungen hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass der darin enthaltene Begriff „Benutzung eines Fahrzeugs“ nicht auf Situationen der Benutzung im Straßenverkehr, nämlich im Verkehr auf öffentlichen Straßen, beschränkt ist und dass dieser Begriff jede Benutzung eines Fahrzeugs umfasst, die dessen gewöhnlicher Funktion entspricht (Urteile vom 4. September 2014, Vnuk, C‑162/13, EU:C:2014:2146, Rn. 59, und vom 28. November 2017, Rodrigues de Andrade, C‑514/16, EU:C:2017:908, Rn. 34).

35

Da Kraftfahrzeuge nach Art. 1 Nr. 1 der Ersten Richtlinie unabhängig von ihren Merkmalen gewöhnlich als Transportmittel dienen, fällt unter diesen Begriff jede Verwendung eines Fahrzeugs als Transportmittel (Urteil vom 28. November 2017, Rodrigues de Andrade, C‑514/16, EU:C:2017:908, Rn. 37 und 38).

36

Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass das Öffnen der Tür eines Fahrzeugs eine Verwendung dieses Fahrzeugs darstellt, die dessen Funktion als Transportmittel entspricht, da das Öffnen u. a. das Ein- und Aussteigen von Personen oder das Beladen mit und Entladen von Gütern ermöglicht, die mit diesem Fahrzeug befördert werden sollen oder befördert wurden.

37

An dieser Schlussfolgerung ändert nichts, dass die im Ausgangsverfahren betroffenen Fahrzeuge zum Unfallzeitpunkt standen und sich auf einem Parkplatz befanden.

38

Zum einen schließt nämlich der Umstand, dass das an dem Unfall beteiligte Fahrzeug bei Eintritt des Unfalls stand, für sich allein nicht aus, dass die Benutzung dieses Fahrzeugs zu diesem Zeitpunkt unter seine Funktion als Transportmittel subsumiert werden kann und folglich vom Begriff „Benutzung eines Fahrzeugs“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie umfasst ist (Urteil vom 28. November 2017, Rodrigues de Andrade, C‑514/16, EU:C:2017:908, Rn. 39). Das Öffnen der Türen erfolgt im Allgemeinen nur, wenn die Fahrzeuge stehen.

39

Darüber hinaus ist auch unerheblich, ob der Motor des betroffenen Fahrzeugs bei Eintritt des Unfalls lief oder nicht (Urteil vom 28. November 2017, Rodrigues de Andrade, C‑514/16, EU:C:2017:908, Rn. 39).

40

Was zum anderen den Umstand betrifft, dass sich die im Ausgangsverfahren betroffenen Fahrzeuge auf einem Parkplatz befanden, ist festzustellen, dass die Tragweite des Begriffs „Benutzung eines Fahrzeugs“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie nicht von den Merkmalen des Geländes abhängig ist, auf dem dieses Fahrzeug benutzt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. November 2017, Rodrigues de Andrade, C‑514/16, EU:C:2017:908, Rn. 35, und vom 20. Dezember 2017, Núñez Torreiro, C‑334/16, EU:C:2017:1007, Rn. 30).

41

Zu dem Umstand, dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Unfall auf einer Handlung nicht des Fahrers, sondern eines Mitfahrers des ersten Fahrzeugs beruht, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass in Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie allgemein ausgeführt wird, dass „die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland [des jeweiligen Mitgliedstaats]“ durch eine Versicherung gedeckt sein muss.

42

Entgegen dem Standpunkt, den die polnische Regierung hinsichtlich der Beantwortung der zweiten Frage eingenommen hat, beschränken daher weder diese Bestimmung noch die anderen Bestimmungen der Richtlinien über die Pflichtversicherung die Deckung der Pflichtversicherung auf die zivilrechtliche Haftung einer bestimmten Gruppe von Personen wie dem Fahrer des Fahrzeugs.

43

Dagegen legen Art. 2 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie, in dem es „die Nutzung oder Führung von Fahrzeugen“ heißt, und Art. 3 dieser Richtlinie, in dem vom „Fahre[r] oder jeder anderen Person, die bei einem Unfall haftbar gemacht werden kann und durch die [verpflichtende] Versicherung geschützt ist,“ die Rede ist, den Schluss nahe, dass sich diese Versicherung auf die zivilrechtliche Haftung nicht nur für das Führen von Fahrzeugen, sondern auch für andere Verwendungen der Fahrzeuge und für Verwendungen durch andere Personen als den Fahrer bezieht.

44

Sodann ergibt sich aus der oben in den Rn. 34 und 35 angeführten Rechtsprechung, dass der Begriff „Benutzung eines Fahrzeugs“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie „jede“ Benutzung eines Fahrzeugs umfasst, die dessen gewöhnlicher Funktion, d. h. der Funktion als Beförderungsmittel, entspricht.

45

Insoweit ist zu betonen, dass sich diese Benutzung eines Fahrzeugs nicht auf das Führen des Fahrzeugs beschränkt, sondern auch Handlungen einschließt, die, wie die oben in Rn. 36 erwähnte Handlung, gewöhnlich auch von den Mitfahrern vorgenommen werden.

46

Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Unionsregelung im Bereich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung dem entgegensteht, dass die Verpflichtung eines Versicherers zum Ersatz des Schadens des Opfers eines Verkehrsunfalls, an dem ein versichertes Fahrzeug beteiligt war, ausgeschlossen wird, wenn dieser Unfall von einer Person verursacht wird, für die die Versicherungspolice nicht ausgestellt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Dezember 2011, Churchill Insurance Company Limited und Evans, C‑442/10, EU:C:2011:799, Rn. 33 bis 44 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

47

Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass der Umstand, dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Unfall auf einer Handlung nicht des Fahrers, sondern eines Mitfahrers des ersten Fahrzeugs beruht, für sich allein nicht ausschließt, dass die Benutzung dieses Fahrzeugs zu diesem Zeitpunkt unter seine Funktion als Transportmittel subsumiert werden kann und folglich vom Begriff „Benutzung eines Fahrzeugs“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie umfasst ist.

48

Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass ein Fall, in dem der Mitfahrer eines auf einem Parkplatz geparkten Fahrzeugs beim Öffnen der Tür dieses Fahrzeugs an das daneben geparkte Fahrzeug stößt und es beschädigt, unter den Begriff „Benutzung eines Fahrzeugs“ im Sinne dieser Vorschrift fällt.

Kosten

49

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 72/166/EWG des Rates vom 24. April 1972 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und der Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht ist dahin auszulegen, dass ein Fall, in dem der Mitfahrer eines auf einem Parkplatz geparkten Fahrzeugs beim Öffnen der Tür dieses Fahrzeugs an das daneben geparkte Fahrzeug stößt und es beschädigt, unter den Begriff „Benutzung eines Fahrzeugs“ im Sinne dieser Vorschrift fällt.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Lettisch.

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Referenzen

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