Urteil vom Europäischer Gerichtshof - C-713/17

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

21. November 2018 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2011/95/EU – Normen für den Inhalt des internationalen Schutzes – Flüchtlingseigenschaft – Art. 29 – Sozialhilfeleistungen – Unterschiedliche Behandlung – Flüchtlinge mit befristeter Aufenthaltsberechtigung“

In der Rechtssache C‑713/17

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landesverwaltungsgericht Oberösterreich (Österreich) mit Entscheidung vom 18. Dezember 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Dezember 2017, in dem Verfahren

Ahmad Shah Ayubi

gegen

Bezirkshauptmannschaft Linz-Land

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten der Vierten Kammer M. Vilaras in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Dritten Kammer sowie der Richter J. Malenovský, L. Bay Larsen (Berichterstatter), M. Safjan und D. Šváby,

Generalanwältin: E. Sharpston,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Herrn Ayubi, vertreten durch Rechtsanwalt H. Blum,

der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Hesse als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande und M. Wasmeier als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 29 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Ahmad Shah Ayubi, einem Drittstaatsangehörigen, und der Bezirkshauptmannschaft Linz-Land (Österreich) wegen deren Entscheidung, Herrn Ayubi und seiner Familie Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhalts und des Wohnbedarfs in Form einer Basisleistung sowie eines vorläufigen Steigerungsbetrags zu gewähren.

Rechtlicher Rahmen

Genfer Konvention

3

Das am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnete Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 137, Nr. 2545 [1954]) trat am 22. April 1954 in Kraft. Es wurde ergänzt durch das am 31. Januar 1967 in New York geschlossene und am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (im Folgenden: Genfer Konvention).

4

Art. 23 („Öffentliche Fürsorge“) der Genfer Konvention lautet:

„Die vertragschließenden Staaten werden den Flüchtlingen, die sich rechtmäßig in ihrem Staatsgebiet aufhalten, auf dem Gebiet der öffentlichen Fürsorge und sonstigen Hilfeleistungen die gleiche Behandlung wie ihren eigenen Staatsangehörigen gewähren.“

Unionsrecht

5

Nach Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 bezeichnet der Ausdruck „internationaler Schutz“„die Flüchtlingseigenschaft und den subsidiären Schutzstatus“.

6

Art. 24 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie bestimmt:

„So bald wie möglich nach Zuerkennung des internationalen Schutzes und unbeschadet des Artikels 21 Absatz 3 stellen die Mitgliedstaaten Personen, denen der Flüchtlingsstatus zuerkannt worden ist, einen Aufenthaltstitel aus, der mindestens drei Jahre gültig und verlängerbar sein muss, es sei denn, dass zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung dem entgegenstehen.“

7

Art. 29 („Sozialhilfeleistungen“) der Richtlinie lautet:

„(1)   Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, in dem Mitgliedstaat, der diesen Schutz gewährt hat, die notwendige Sozialhilfe wie Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats erhalten.

(2)   Abweichend von der allgemeinen Regel nach Absatz 1 können die Mitgliedstaaten die Sozialhilfe für Personen, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist, auf Kernleistungen beschränken, die sie im gleichen Umfang und unter denselben Voraussetzungen wie für eigene Staatsangehörige gewähren.“

Österreichisches Recht

8

In § 3 Abs. 4 des Asylgesetzes 2005 heißt es:

„Einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, kommt eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter zu. Die Aufenthaltsberechtigung gilt drei Jahre und verlängert sich um eine unbefristete Gültigkeitsdauer, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Verfahrens zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten nicht vorliegen oder das Aberkennungsverfahren eingestellt wird. …“

9

§ 4 des Gesetzes über die bedarfsorientierte Mindestsicherung in Oberösterreich sieht vor:

„(1)   Bedarfsorientierte Mindestsicherung kann, sofern dieses Landesgesetz nicht anderes bestimmt, nur Personen geleistet werden, die

1.

ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Land Oberösterreich haben … und

2.

b)

Asylberechtigte oder subsidiär Schutzberechtigte …

sind.

(3)   Abweichend von Abs. 1 erhalten … Personen nach Abs. 1 Z 2 lit. b, denen kein dauerndes Aufenthaltsrecht im Inland … zukommt, insbesondere Asylberechtigte mit befristeter Aufenthaltsberechtigung … und subsidiär Schutzberechtigte, zur Deckung des Lebensunterhalts und Wohnbedarfs eine Basisleistung sowie einen vorläufigen Steigerungsbetrag nach Maßgabe des § 13.“

10

Die jeweiligen Beträge der Leistungen für Personen, die unter § 4 Abs. 3 dieses Gesetzes fallen, und für Personen, die nicht unter diese Vorschrift fallen, sind in gesonderten Vorschriften geregelt.

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

11

Herrn Ayubi wurde am 30. September 2016 vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich) der Flüchtlingsstatus zugesprochen. Das Bundesamt erteilte ihm eine auf drei Jahre befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter.

12

Am 9. März 2017 stellte Herr Ayubi einen Antrag auf Erteilung von Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhalts und des Wohnbedarfs für sich und seine Familie.

13

Mit einem am 10. April 2017 zugestellten Bescheid erkannte ihm die Bezirkshauptmannschaft Linz-Land eine Hilfe in Form monatlicher Geldleistungen, bestehend aus einer Basisleistung und einem vorläufigen Steigerungsbetrag, zu. Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts heißt es in diesem Bescheid, dass Herr Ayubi als Inhaber einer befristeten Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter nach den österreichischen Rechtsvorschriften nur Anspruch auf die Zahlung einer bedarfsorientierten Mindestsicherung habe.

14

Am 3. Juni 2017 erhob Herr Ayubi eine gegen diesen Bescheid gerichtete Beschwerde, wobei er u. a. geltend machte, die in diesen Rechtsvorschriften vorgesehene ungünstigere Behandlung von Flüchtlingen ohne dauerhaftes Aufenthaltsrecht sei mit dem Unionsrecht unvereinbar.

15

Das vorlegende Gericht führt aus, nach einer Reform der einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften im Jahr 2015 werde diese Gruppe von Flüchtlingen im Bereich der Sozialhilfe den subsidiär Schutzberechtigten gleichgestellt und erhalte deshalb erheblich geringere Leistungen als österreichische Staatsangehörige. Nur Flüchtlinge mit dauerhaftem Aufenthaltsrecht seien Inländern gleichgestellt.

16

Diese Regelung führe dazu, dass Flüchtlinge mit befristeter Aufenthaltsberechtigung in Bezug auf die in Art. 29 der Richtlinie 2011/95 in genauer und unbedingter Weise vorgesehenen Rechte anders behandelt würden als Flüchtlinge mit dauerhaftem Aufenthaltsrecht, obwohl sich beide Gruppen in einer vergleichbaren Lage befänden.

17

Unter diesen Umständen hat das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich (Österreich) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Zu den Vorlagefragen

Zur zweiten Frage

18

Mit seiner zweiten Frage, die zuerst zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 29 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, die vorsieht, dass Flüchtlinge, denen in einem Mitgliedstaat ein befristetes Aufenthaltsrecht zuerkannt wurde, geringere Sozialhilfeleistungen erhalten als die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats und als Flüchtlinge, denen dort ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht zuerkannt wurde.

19

In Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 wird eine allgemeine Regel aufgestellt, wonach Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist – zu denen nach Art. 2 Buchst. a der Richtlinie Flüchtlinge gehören –, in dem Mitgliedstaat, der diesen Schutz gewährt hat, Sozialhilfe wie Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats erhalten (Urteil vom 1. März 2016, Alo und Osso, C‑443/14 und C‑444/14, EU:C:2016:127, Rn. 48).

20

Nach Art. 29 Abs. 2 der Richtlinie können die Mitgliedstaaten zwar abweichend von dieser allgemeinen Regel die Sozialhilfe für Personen, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist, auf Kernleistungen beschränken, doch geht schon aus dem Wortlaut dieser Bestimmung hervor, dass dies nur für Personen mit subsidiärem Schutzstatus gilt und nicht für Flüchtlinge.

21

Insoweit bedeutet der Umstand, dass nach Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie den Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die „notwendige“ Sozialhilfe zu gewähren ist, nicht, dass der Unionsgesetzgeber den Mitgliedstaaten gestatten wollte, den Flüchtlingen Sozialleistungen in einer Höhe zu gewähren, die sie als für die Bedarfsdeckung ausreichend ansehen, die aber geringer ist als bei den Sozialleistungen für ihre eigenen Staatsangehörigen.

22

Zum einen ergibt sich nämlich schon aus dem Aufbau von Art. 29 der Richtlinie 2011/95, dass in dessen Abs. 1 das Wort „notwendige“ nur deshalb erwähnt wird, um den Gegensatz zwischen den Leistungen, die von dem dort aufgestellten Grundsatz erfasst werden, und den „Kernleistungen“ hervorzuheben, auf die die Sozialhilfe nach Art. 29 Abs. 2 beschränkt werden kann.

23

Diese Feststellung wird dadurch bestätigt, dass Art. 29 Abs. 2 der Richtlinie jeder praktischen Wirksamkeit beraubt würde, wenn Art. 29 Abs. 1 dahin auszulegen wäre, dass er es den Mitgliedstaaten allgemein gestattet, die Leistungen für Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, unter Beschränkung auf das zwingend Notwendige niedriger anzusetzen als die Leistungen für ihre eigenen Staatsangehörigen.

24

Zum anderen wäre eine solche Befugnis der Mitgliedstaaten bei den Leistungen für Flüchtlinge unvereinbar mit dem in Art. 23 der Genfer Konvention, in dessen Licht Art. 29 der Richtlinie 2011/95 auszulegen ist, aufgestellten Grundsatz, dass Flüchtlinge auf dem Gebiet der öffentlichen Fürsorge und sonstigen Hilfeleistungen ebenso zu behandeln sind wie die eigenen Staatsangehörigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. März 2016, Alo und Osso, C‑443/14 und C‑444/14, EU:C:2016:127, Rn. 51).

25

Folglich muss ein Mitgliedstaat den Flüchtlingen, denen er diesen Status – sei es befristet oder unbefristet – zuerkannt hat, Sozialleistungen in gleicher Höhe gewähren wie seinen eigenen Staatsangehörigen (Urteil vom 1. März 2016, Alo und Osso, C‑443/14 und C‑444/14, EU:C:2016:127, Rn. 48 und 50).

26

Der Grundsatz der Inländerbehandlung von Flüchtlingen kann nicht durch Art. 24 der Richtlinie 2011/95 in Frage gestellt werden, der es den Mitgliedstaaten gestattet, den Flüchtlingen einen gegebenenfalls auf drei Jahre befristeten Aufenthaltstitel auszustellen.

27

Da die durch Kapitel VII der Richtlinie, zu dem ihr Art. 29 gehört, verliehenen Rechte die Folge der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus sind und nicht der Ausstellung eines Aufenthaltstitels, dürfen sie nur nach Maßgabe der in diesem Kapitel vorgesehenen Voraussetzungen eingeschränkt werden, so dass die Mitgliedstaaten nicht befugt sind, dort nicht vorgesehene Beschränkungen hinzuzufügen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juni 2015, H. T., C‑373/13, EU:C:2015:413, Rn. 97).

28

Außerdem gelten sowohl Art. 29 der Richtlinie 2011/95 als auch Art. 23 der Genfer Konvention für alle Flüchtlinge und machen die ihnen zustehenden Rechte nicht von der Dauer ihrer Anwesenheit in dem betreffenden Mitgliedstaat oder der Laufzeit des ihnen erteilten Aufenthaltstitels abhängig.

29

Aus dem Vorstehenden folgt, dass Flüchtlinge, denen ein auf drei Jahre befristeter Aufenthaltstitel erteilt wurde, Sozialleistungen in gleicher Höhe erhalten müssen wie die Staatsangehörigen des Mitgliedstaats, der ihnen den Flüchtlingsstatus zuerkannt hat.

30

Dieses Ergebnis kann nicht durch das Argument in Frage gestellt werden, dass eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende mit Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 vereinbar sei, weil sich Flüchtlinge, die sich seit mehreren Jahren in einem Mitgliedstaat aufhielten, in einer objektiv anderen Lage befänden als Flüchtlinge, die erst vor Kurzem in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats eingereist seien, und zwar wegen des höheren Bedürfnisses der letztgenannten Gruppe nach konkreter Unterstützung.

31

Erstens können, da diese Bestimmung eine Gleichbehandlung der Flüchtlinge und der Staatsangehörigen des Mitgliedstaats, der ihnen Schutz gewährt hat, vorschreibt, nur objektive Unterschiede bei der Lage dieser beiden Personengruppen gegebenenfalls für ihre Anwendung relevant sein, nicht aber Unterschiede bei der Lage von zwei verschiedenen Gruppen von Flüchtlingen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. März 2016, Alo und Osso, C‑443/14 und C‑444/14, EU:C:2016:127, Rn. 54 und 59).

32

Zweitens kann – selbst wenn man unterstellt, dass die Besonderheit der Lage der vor Kurzem in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaat eingereisten Flüchtlinge den Schluss zuließe, dass sie sich allgemein in einer objektiv prekäreren Lage befinden als die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats – eine Maßnahme, die darin besteht, diese Flüchtlinge dadurch zu benachteiligen, dass die Höhe der ihnen gewährten Leistungen beschränkt wird, nicht als Beitrag zur Berücksichtigung einer solchen unterschiedlichen Lage angesehen werden, denn eine solche Maßnahme wäre nicht geeignet, Abhilfe für die prekäre Lage zu schaffen.

33

Drittens genügt – sollte das genannte Argument so zu verstehen sein, dass es aufgrund der Schwierigkeiten der kürzlich nach Österreich eingereisten Flüchtlinge, Zugang zum freien Wohnungsmarkt zu erlangen, angebrachter sei, ihnen kurzfristig Plätze in Unterkünften zur Verfügung zu stellen, statt ihnen eine finanzielle Hilfe zu gewähren – die Feststellung, dass jedenfalls weder aus der Beschreibung der anwendbaren nationalen Regelung in der Vorlageentscheidung noch aus Angaben der österreichischen Regierung hervorgeht, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Verringerung der den genannten Flüchtlingen gewährten Sozialhilfeleistungen tatsächlich dadurch kompensiert würde, dass sie andere Formen von Sozialleistungen erhalten.

34

Überdies ist zu den von der österreichischen Regierung ebenfalls angesprochenen erheblichen Belastungen aufgrund der Zahlung von Sozialleistungen an Flüchtlinge darauf hinzuweisen, dass die Gewährung von Sozialleistungen für den Träger, der sie zu erbringen hat, unabhängig davon eine Last darstellt, ob es sich beim Empfänger um einen Flüchtling oder einen Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats handelt. Insoweit ist daher kein Unterschied zwischen der Lage dieser beiden Personengruppen ersichtlich (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. März 2016, Alo und Osso, C‑443/14 und C‑444/14, EU:C:2016:127, Rn. 55).

35

Infolgedessen ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 29 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, die vorsieht, dass Flüchtlinge, denen in einem Mitgliedstaat ein befristetes Aufenthaltsrecht zuerkannt wurde, geringere Sozialhilfeleistungen erhalten als die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats und als Flüchtlinge, denen dort ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht zuerkannt wurde.

Zur ersten Frage

36

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob sich ein Flüchtling vor den nationalen Gerichten auf die Unvereinbarkeit einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden mit Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 berufen kann, um die Beseitigung der in dieser Regelung enthaltenen Beschränkung seiner Rechte zu erreichen.

37

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann sich der Einzelne in all den Fällen, in denen die Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, vor den nationalen Gerichten gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen berufen, wenn der Staat die Richtlinie nicht fristgemäß oder unzulänglich in nationales Recht umgesetzt hat (Urteil vom 24. Januar 2012, Dominguez, C‑282/10, EU:C:2012:33, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38

Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 räumt den Mitgliedstaaten zwar insbesondere bei der Festlegung der Höhe der Sozialhilfe, die sie für notwendig erachten, ein gewisses Ermessen ein, doch erlegt er jedem Mitgliedstaat mit unmissverständlichen Worten eine genaue und unbedingte Verpflichtung zur Erreichung eines bestimmten Ergebnisses auf, die darin besteht, dafür Sorge zu tragen, dass jeder Flüchtling, dem er Schutz gewährt, im gleichen Umfang Sozialhilfe erhält wie seine eigenen Staatsangehörigen.

39

Im Übrigen hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass ähnliche Bestimmungen wie Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95, die die Gleichbehandlung mit Inländern vorschreiben oder bestimmte Ungleichbehandlungen verbieten, unmittelbare Wirkung haben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 4. Mai 1999, Sürül, C‑262/96, EU:C:1999:228, Rn. 63 und 74, vom 22. Dezember 2010, Gavieiro Gavieiro und Iglesias Torres, C‑444/09 und C‑456/09, EU:C:2010:819, Rn. 78, sowie vom 6. März 2014, Napoli, C‑595/12, EU:C:2014:128, Rn. 48 und 50).

40

In diesem Kontext ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die nationalen Gerichte und die Verwaltungsorgane, sofern eine mit den Anforderungen des Unionsrechts übereinstimmende Auslegung und Anwendung der nationalen Regelung nicht möglich ist, das Unionsrecht in vollem Umfang anzuwenden und die Rechte, die es dem Einzelnen einräumt, zu schützen haben, indem sie entgegenstehende Vorschriften des innerstaatlichen Rechts gegebenenfalls unangewendet lassen (Urteil vom 7. September 2017, H., C‑174/16, EU:C:2017:637, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41

In Anbetracht dessen ist auf die erste Frage zu antworten, dass sich ein Flüchtling vor den nationalen Gerichten auf die Unvereinbarkeit einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden mit Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 berufen kann, um die Beseitigung der in dieser Regelung enthaltenen Beschränkung seiner Rechte zu erreichen.

Kosten

42

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 29 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, die vorsieht, dass Flüchtlinge, denen in einem Mitgliedstaat ein befristetes Aufenthaltsrecht zuerkannt wurde, geringere Sozialhilfeleistungen erhalten als die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats und als Flüchtlinge, denen dort ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht zuerkannt wurde.

 

2.

Ein Flüchtling kann sich vor den nationalen Gerichten auf die Unvereinbarkeit einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden mit Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 berufen, um die Beseitigung der in dieser Regelung enthaltenen Beschränkung seiner Rechte zu erreichen.

 

Vilaras

Malenovský

Bay Larsen

Safjan

Šváby

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 21. November 2018.

Der Kanzler

A. Calot Escobar

Der Präsident

K. Lenaerts


( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.

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Referenzen

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