Schlussantrag des Generalanwalts vom Europäischer Gerichtshof - C-635/17

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

NILS WAHL

vom 29. November 2018(1)

Rechtssache C635/17

E.

gegen

Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie

(Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Haarlem [Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Haarlem, Niederlande])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Einwanderungspolitik – Recht auf Familienzusammenführung – Richtlinie 2003/86/EG – Familienzusammenführung von Personen, die internationalen Schutz genießen – Art. 11 Abs. 2 – Beweislast und Beweisanforderung zum Zwecke des Nachweises familiärer Bindungen – Fehlen amtlicher Unterlagen – Nationale Verfahrensvorschrift, die eine Ablehnung des Antrags auf Familienzusammenführung erlaubt, wenn der Zusammenführende das Fehlen dieser Unterlagen nicht plausibel erklärt – Zulässigkeit“






I.      Einleitung

1.        Kann eine nationale Behörde den Antrag einer internationalen Schutz genießenden Person auf Familienzusammenführung ablehnen, wenn diese Person nicht plausibel erklärt hat, weshalb sie keine Personenstandsurkunden vorlegen kann, die das Bestehen familiärer Bindungen belegen?

2.        Dies ist im Wesentlichen der Gegenstand der Vorlagefragen, die die Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Haarlem (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Haarlem, Niederlande) dem Gerichtshof im Rahmen eines Verfahrens zur Familienzusammenführung stellt, das sich auf ein minderjähriges Kind eritreischer Staatsangehörigkeit bezieht, dessen Abstammung von der Zusammenführenden(2) nicht mittels der erforderlichen Personenstandsurkunden belegt werden kann.

3.        Die vorliegende Rechtssache gibt dem Gerichtshof Gelegenheit, sich zu den besonderen Bestimmungen, die für internationalen Schutz genießende Personen bei der Ausübung ihres Rechts auf Familienzusammenführung gelten, und insbesondere zur Beweislast und Beweisanforderung zum Zwecke des Nachweises für das Bestehen familiärer Bindungen im Sinne von Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 zu äußern.

4.        Der Gerichtshof wird u. a. den Umfang der Pflicht zur Zusammenarbeit festzulegen haben, die dem Zusammenführenden und der zuständigen nationalen Behörde bei der Feststellung dieser Bindungen obliegt. Er wird insbesondere eine ausgewogene Abwägung aller betroffenen Interessen vorzunehmen und dabei zum einen die besonderen Schwierigkeiten, mit denen Personen, die internationalen Schutz genießen, aufgrund ihres Status und ihrer Situation konfrontiert sein können, wenn es darum geht, in ihrem Herkunftsland amtliche Unterlagen vorzulegen oder zu erlangen, und zum anderen die Risiken im Zusammenhang mit einer Instrumentalisierung des Verfahrens zur Familienzusammenführung im Hinblick auf eine missbräuchliche Legalisierung der Einreise oder des Aufenthalts eines Drittstaatsangehörigen in einen bzw. einem Mitgliedstaat zu berücksichtigen haben.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

5.        Die Richtlinie 2003/86 legt die Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige fest, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten.

6.        Die Erwägungsgründe 2 und 8 dieser Richtlinie lauten:

„(2)      Maßnahmen zur Familienzusammenführung sollten in Übereinstimmung mit der Verpflichtung zum Schutz der Familie und zur Achtung des Familienlebens getroffen werden, die in zahlreichen Instrumenten des Völkerrechts verankert ist. Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und berücksichtigt die Grundsätze, die insbesondere in Artikel 8 der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten] und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden.

(8)      Der Lage von Flüchtlingen sollte wegen der Gründe, die sie zur Flucht gezwungen haben und sie daran hindern, ein normales Familienleben zu führen, besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Deshalb sollten günstigere Bedingungen für die Ausübung ihres Rechts auf Familienzusammenführung vorgesehen werden.“

7.        In Kapitel III der genannten Richtlinie, das sich auf die Stellung und Prüfung von Anträgen auf Familienzusammenführung bezieht, heißt es in Art. 5 Abs. 2 und 5:

„(2)      Dem Antrag sind Unterlagen beizufügen, anhand derer die familiären Bindungen nachgewiesen werden und aus denen ersichtlich ist, dass die in den Artikeln 4 und 6 und gegebenenfalls in den Artikeln 7 und 8 vorgesehenen Bedingungen erfüllt sind, sowie beglaubigte Abschriften der Reisedokumente des oder der Familienangehörigen.

Zum Nachweis des Bestehens familiärer Bindungen können die Mitgliedstaaten gegebenenfalls eine Befragung des Zusammenführenden und seiner Familienangehörigen vornehmen und andere als zweckmäßig erachtete Nachforschungen anstellen.

(5)      Bei der Prüfung des Antrags tragen die Mitgliedstaaten dafür Sorge, dass das Wohl minderjähriger Kinder gebührend berücksichtigt wird.“

8.        In Kapitel V der Richtlinie 2003/86, das sich auf die Familienzusammenführung von Flüchtlingen bezieht, sieht Art. 10 Abs. 2 vor:

„Die Mitgliedstaaten können weiteren, in Artikel 4 nicht genannten Familienangehörigen die Familienzusammenführung gestatten, sofern der zusammenführende Flüchtling für ihren Unterhalt aufkommt.“

9.        Art. 11 dieser Richtlinie, um dessen Auslegung hier ersucht wird, bestimmt:

„(1)      Hinsichtlich der Stellung und Prüfung des Antrags kommt Artikel 5 vorbehaltlich des Absatzes 2 des vorliegenden Artikels zur Anwendung.

(2)      Kann ein Flüchtling seine familiären Bindungen nicht mit amtlichen Unterlagen belegen, so prüft der Mitgliedstaat andere Nachweise für das Bestehen dieser Bindungen; diese Nachweise werden nach dem nationalen Recht bewertet. Die Ablehnung eines Antrags darf nicht ausschließlich mit dem Fehlen von Belegen begründet werden.“

10.      In Kapitel VII der genannten Richtlinie, das sich auf Sanktionen und Rechtsmittel bezieht, hat Art. 17 folgenden Wortlaut:

„Im Fall der Ablehnung eines Antrags, dem Entzug oder der Nichtverlängerung des Aufenthaltstitels sowie der Rückführung des Zusammenführenden oder seiner Familienangehörigen berücksichtigen die Mitgliedstaaten in gebührender Weise die Art und die Stärke der familiären Bindungen der betreffenden Person und die Dauer ihres Aufenthalts in dem Mitgliedstaat sowie das Vorliegen familiärer, kultureller oder sozialer Bindungen zu ihrem Herkunftsland.“

B.      Niederländisches Recht

11.      Die Richtlinie 2003/86 ist mit der Wet tot algehele herziening van de Vreemdelingenwet (Gesetz zur umfassenden Überarbeitung des Ausländergesetzes)(3) vom 23. November 2000 in niederländisches Recht umgesetzt worden.

12.      Gemäß Art. 29 Abs. 2 dieses Gesetzes hat ein Minderjähriger Anspruch auf Familienzusammenführung mit einem Elternteil, der internationalen Schutz genießt, wenn der Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb von drei Monaten nach der Gewährung des Schutzes gestellt worden ist. Die Bestimmung ist anwendbar, wenn der betreffende Minderjährige ein Mündel ist, zu dem der Zusammenführende tatsächliche familiäre Bindungen unterhält.

13.      Die sich auf den Nachweis familiärer Bindungen beziehende Gesetzgebungspraxis ist im Vreemdelingencirculaire 2000 (Ausländerrunderlass 2000) sowie in der Werkinstructie 2014/9 (Arbeitsanweisung 2014/9) des Immigratie- en Naturalisatiedienst (Amt für Einwanderung und Einbürgerung, Niederlande)(4) verankert.

14.      Nach diesen Rechtsvorschriften muss der Zusammenführende nachweisen, dass die Person, mit der die Zusammenführung beantragt wird, vor ihrer Einreise in die Niederlande tatsächlich zu seiner Familie gehört hat und diese familiäre Bindung nicht abgerissen ist. Dafür muss er mittels amtlicher Unterlagen die Identität dieser Person belegen (Reisepass, Personalausweis, Staatsangehörigkeitsbescheinigung, Wehrdienstbuch, usw.) und nachweisen, dass zwischen ihm und der genannten Person wirklich und tatsächlich eine familiäre Bindung besteht (beispielsweise mit einer Heiratsurkunde, einer Geburtsbescheinigung, einem Familienstammbuch, einer Sterbeurkunde, usw.), und zwar unabhängig davon, ob es sich um ein leibliches Kind, ein Adoptivkind oder ein Mündel handelt(5). Der Zusammenführende kann bei Antragstellung auch ein beliebiges anderes Dokument vorlegen, das geeignet ist, das Bestehen dieser familiären Bindung nachzuweisen.

15.      Beantragt der Zusammenführende die Familienzusammenführung mit einem Mündel, wird das tatsächliche Bestehen der Bindung u. a. unter Berücksichtigung der Gründe für die Aufnahme des Mündels in die Familie geprüft. Gelingt es dem Zusammenführenden nicht, amtliche Unterlagen vorzulegen, verlangt der nationale Gesetzgeber von ihm, dass er plausibel nachweist, dass das Fehlen dieser Unterlagen ihm nicht zurechenbar ist(6).

16.      Erkennt die zuständige nationale Behörde unter Berücksichtigung der Erklärungen des Zusammenführenden an, dass dieser nicht in der Lage ist, das tatsächliche Bestehen der familiären Bindung mit amtlichen Unterlagen zu belegen, prüft sie anhand der übrigen von ihm vorgelegten Beweismittel wie Fotos, Abschlusszeugnissen, Impfpässen oder auch Bescheinigungen einer religiösen Autorität, ob eingehendere Nachforschungen wie eine Befragung mit identifizierenden Fragen oder DNA-Tests, die bei den konsularischen Vertretungen der Niederlande durchgeführt werden, erforderlich sind.

17.      Ist die zuständige nationale Behörde hingegen der Ansicht, dass es dem Zusammenführenden nicht gelungen ist, plausibel zu erklären, weshalb er nicht über amtliche Unterlagen verfügt, die das Bestehen familiärer Bindungen belegen, und hält sie auch die übrigen von ihm vorgelegten Beweismittel für unzureichend, ist sie nicht verpflichtet, diese ergänzenden Untersuchungsmaßnahmen durchzuführen, und kann den Antrag auf Familienzusammenführung ablehnen.

III. Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

18.      Die Zusammenführende ist eritreischer Staatsangehörigkeit und wohnt mit ihrer Tochter in den Niederlanden. Am 11. März 2015 gewährten die niederländischen Behörden ihr den subsidiären Schutzstatus und in diesem Rahmen eine Aufenthaltserlaubnis.

A.      Prüfung des Antrags auf Familienzusammenführung durch den Staatssekretär

19.      Am 16. April 2015 stellte die Zusammenführende für den Kläger, ein am 1. Juli 2003 in Eritrea geborenes minderjähriges Kind eritreischer Staatsangehörigkeit, einen Antrag auf Familienzusammenführung(7). Sie trägt vor, dieser Minderjährige sei der Sohn ihrer ältesten Schwester und stehe seit dem Tod seiner Eltern (als er fünf Jahre gewesen sei) unter ihrer Vormundschaft. Die Zusammenführende sei 2013 aus Eritrea geflüchtet, um sich mit ihrer Tochter und diesem Kind in den Sudan zu begeben. Gleichwohl sei sie aus finanziellen Gründen gezwungen gewesen, es auf ihrer Flucht in die Niederlande im Sudan zurückzulassen. Der Minderjährige, der heute 15 Jahre alt ist, sei bei einer Bekannten im Sudan untergebracht.

20.      Unstreitig ist, dass die Zusammenführende in der vorliegenden Rechtssache keine amtlichen Unterlagen vorgelegt hat, mit denen sich die Identität des betreffenden Minderjährigen, der Tod seiner Eltern und die Vormundschaft, die sie über ihn ausübt, belegen lässt. Das Gutachten, das über die Echtheit der zu diesem Zweck ausgestellten Bescheinigung der Eritreischen Befreiungsfront erstellt worden ist, hat gezeigt, dass dieses Dokument von einer unzuständigen Behörde ausgestellt worden war, wobei die niederländische Regierung in der mündlichen Verhandlung klargestellt hat, dass es sich um ein gefälschtes Dokument handle.

21.      Unstreitig ist auch, dass der Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie (Staatssekretär für Sicherheit und Justiz, Niederlande)(8) während des gesamten Verfahrens Gründe dafür angegeben hat, weshalb die familiäre Bindung nicht nachgewiesen sei, und daher die Zusammenführende aufgefordert hat, ausführlich und detailliert zu erläutern, weshalb sie nicht im Besitz der erforderlichen amtlichen Urkunden sei.

22.      Der Staatssekretär trug vor, es gebe keine plausible Erklärung für das Fehlen von Unterlagen, aus der die Identität des Minderjährigen hervorgehe, da Eritrea dem Informationsbericht des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) zur Lage in Eritrea(9) zufolge Personal-, Schul-, Studenten- und Bewohnerausweise ausstelle. Auf die von der Zusammenführenden hierzu vorgebrachten Argumente hin hielt der Staatssekretär ihr das Fehlen dieser Unterlagen nicht mehr entgegen.

23.      Gleichwohl richtete er eine Reihe ergänzender Fragen an die Zusammenführende, um die Gründe und die Art ihrer Bindungen zu dem betreffenden Minderjährigen zu ermitteln, auf die diese über eine ihre Interessen vertretende Organisation antwortete.

24.      Der Staatssekretär hielt jedoch an seiner Auffassung fest, dass es keine plausible Erklärung für das Fehlen amtlicher Unterlagen gebe, die den Tod der biologischen Eltern des betreffenden Minderjährigen und die Vormundschaft belegten, die die Zusammenführende über ihn ausübe. Auch aus dem Informationsbericht des EASO gehe hervor, dass Eritrea Sterbe- und Vormundschaftsurkunden ausstelle. Nach den geltenden nationalen Rechtsvorschriften hielt der Staatssekretär es somit nicht für erforderlich, ergänzende Untersuchungsmaßnahmen, etwa die Durchführung einer Befragung mit identifizierenden Fragen, zu ergreifen, und lehnte den Antrag auf Familienzusammenführung mit Bescheid vom 12. Mai 2016 ab. Außerdem wies er den hiergegen eingelegten Widerspruch der Zusammenführenden mit Bescheid vom 27. Oktober 2016 als unbegründet zurück.

25.      Die Zusammenführende erhob daher Klage vor dem vorlegenden Gericht.

B.      Klage vor dem vorlegenden Gericht

26.      Vor dem vorlegenden Gericht trug der Staatssekretär vor, das befolgte Verfahren stehe im Einklang mit Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 – insbesondere, wenn man den Wortlaut berücksichtige, den der Unionsgesetzgeber im ersten Satzteil dieser Bestimmung verwendet habe. Der Ausdruck „[k]ann ein Flüchtling seine familiären Bindungen nicht mit amtlichen Unterlagen belegen“ impliziere, dass der Zusammenführende eine plausible Erklärung für das Fehlen dieser Unterlagen gebe. Daher habe der Staatssekretär darauf hingewiesen, dass, „[f]alls amtliche Unterlagen verlangt werden können und der Flüchtling nicht über solche verfügt, ohne eine plausible Erklärung dafür zu geben, [die zuständige nationale Behörde] nicht verpflichtet ist, andere Nachweise zu prüfen oder eine Befragung mit identifizierenden Fragen vorzunehmen“.

27.      Dagegen vertritt der Kläger die Auffassung, dieses Verfahren stehe nicht im Einklang mit Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86. Zunächst könne ein Mitgliedstaat – insbesondere, wenn man Satz 2 dieser Bestimmung berücksichtige – einen Antrag auf Familienzusammenführung nicht allein deshalb ablehnen, weil der Zusammenführende seine familiären Bindungen nicht mit amtlichen Unterlagen belegt habe. In einem solchen Fall müsse der Mitgliedstaat nämlich andere Nachweise für das Bestehen dieser Bindungen prüfen, was impliziere, dass er eine Befragung mit identifizierenden Fragen vornehme. Sodann tritt der Kläger der Auslegung des Staatssekretärs entgegen, wonach die Verwendung des Begriffs „kann“ impliziere, dass der Zusammenführende eine plausible Erklärung dafür gebe, dass er nicht über diese Unterlagen verfüge, verfügt habe oder habe verfügen können. Schließlich hebt der Kläger hervor, dass, sollte der Gerichtshof eine solche Auslegung wählen, die für das Fehlen der Urkunden über den Tod der biologischen Eltern des betreffenden Minderjährigen gegebenen Erklärungen im vorliegenden Fall plausibel seien.

28.      Das vorlegende Gericht hat Zweifel an der Auslegung von Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86, insbesondere des ersten Satzteils dieses Artikels „[k]ann ein Flüchtling seine familiären Bindungen nicht mit amtlichen Unterlagen belegen“. Es stellt insoweit fest, dass der Unionsgesetzgeber weder einen Plausibilitätstest noch einen Ermessensspielraum zugunsten der Mitgliedstaaten ausdrücklich vorgesehen habe. Es fragt sich gleichwohl, ob der Begriff „kann“ nicht voraussetzt, dass der Flüchtling eine plausible Erklärung dafür gibt, dass er keine diese Bindungen belegenden amtlichen Unterlagen übermittelt hat und auch nicht noch beschaffen kann. Das vorlegende Gericht bezieht sich insoweit auf die Grundsätze für die Prüfung eines Antrags auf Gewährung internationalen Schutzes, wonach im Rahmen dieser Prüfung berücksichtigt werden kann, dass sich der Antragsteller offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu begründen, und eine hinreichende Erklärung für das Fehlen von Anhaltspunkten dafür gegeben hat, dass die Gefahr einer Verfolgung oder ernsthafter Schäden in seinem Herkunftsland besteht.

C.      Vorlagefragen

29.      Unter Berücksichtigung der oben dargelegten Erwägungen hat die Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Haarlem (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Haarlem) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist der Gerichtshof unter Berücksichtigung von Art. 3 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 und des Urteils Nolan (C‑583/10, EU:C:2012:638) dafür zuständig, Vorlagefragen des niederländischen Gerichts nach der Auslegung von Bestimmungen der Richtlinie 2003/86 in einem Rechtsstreit zu beantworten, der das Aufenthaltsrecht eines Familienangehörigen eines subsidiär Schutzberechtigten betrifft, wenn diese Richtlinie im niederländischen Recht für auf subsidiär Schutzberechtigte unmittelbar und unbedingt anwendbar erklärt worden ist?

2.      Ist Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen, dass er der Ablehnung des Antrags eines Flüchtlings auf Familienzusammenführung entgegensteht, die ausschließlich damit begründet wird, dass der Flüchtling seinem Antrag keine die familiären Bindungen belegenden amtlichen Unterlagen beigefügt habe,

oder

ist Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen, dass er der ausschließlich auf dem Fehlen amtlicher Unterlagen, die die familiären Bindungen belegen, beruhenden Ablehnung des Antrags eines Flüchtlings auf Familienzusammenführung nur dann entgegensteht, wenn der Flüchtling eine plausible Erklärung dafür gegeben hat, dass er diese Unterlagen nicht vorgelegt hat, und für sein Vorbringen, dass er sie nicht noch vorlegen könne?

30.      Der Kläger – gemeinsam mit der Zusammenführenden – sowie die niederländische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche und mündliche Erklärungen abgegeben.

31.      Hervorzuheben ist, dass der Gerichtshof seit der Einreichung des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens im Urteil vom 7. November 2018, K und B (C‑380/17, EU:C:2018:877), über eine mit der ersten Frage identischen Frage zu befinden hatte und sich für zuständig erklärt hat.

IV.    Würdigung

32.      Vor der Prüfung der zweiten Frage, die das vorlegende Gericht an den Gerichtshof richtet, ist klarzustellen, dass die niederländische Regierung deren Wortlaut beanstandet.

33.      Im Rahmen ihrer Erklärungen trägt die niederländische Regierung vor, die Prämisse, auf der das Vorabentscheidungsersuchen beruhe, sei falsch. Sie vertritt insbesondere die Auffassung, die Formulierung dieses Ersuchens spiegle nicht das in der Ausgangsrechtssache tatsächlich befolgte Verfahren wider. Entgegen dem Wortlaut der [zweiten] Vorlagefrage habe der Staatssekretär den Antrag der Zusammenführenden nicht allein aus dem Grund abgelehnt, dass sie weder amtliche Unterlagen vorgelegt noch plausible Erklärungen für das Fehlen dieser Unterlagen gegeben habe. Vor der Ablehnung – während des Prüfungsverfahrens – habe der Staatssekretär nämlich verschiedene Untersuchungsmaßnahmen ergriffen, in deren Rahmen er andere Beweismittel wie die Bescheinigung der Eritreischen Befreiungsfront berücksichtigt und ergänzende Fragen an die Zusammenführende gerichtet habe, mit denen die Gründe und die Art ihrer Bindungen zu dem betreffenden Minderjährigen hätten festgestellt werden sollen.

34.      Vor dem vorlegenden Gericht – ebenso wie vor dem Gerichtshof – wirft die Zusammenführende dem Staatssekretär in Wirklichkeit vor, ihren Antrag auf Familienzusammenführung in Anwendung der geltenden nationalen Rechtsvorschriften abgelehnt zu haben, ohne zuvor ihrem Ersuchen entsprochen zu haben, eine Befragung mit identifizierenden Fragen vorzunehmen. Hierbei handelt es sich um eine ergänzende Untersuchungsmaßnahme im Sinne von Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86.

35.      Vor diesem Hintergrund glaube ich daher, dass mit der zweiten Frage, die das vorlegende Gericht an den Gerichtshof richtet, im Wesentlichen festgestellt werden soll, ob eine zuständige nationale Behörde den Antrag einer internationalen Schutz genießenden Person auf Familienzusammenführung, wenn familiäre Bindungen belegende Unterlagen fehlen, im Rahmen der Antragsprüfung im Sinne von Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 ablehnen kann, ohne ergänzende Untersuchungsmaßnahmen durchzuführen, wenn diese Person nicht plausibel erklärt, weshalb sie solche Unterlagen nicht vorlegen kann.

A.      Vorbemerkungen

36.      Vor der Auslegung von Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 möchte ich einige einleitende Bemerkungen zu den besonderen Schwierigkeiten machen, die mit der vorliegenden Rechtssache aufgeworfen werden.

37.      Der Unionsgesetzgeber definiert den Begriff „Familie“ im Rahmen der Richtlinie 2003/86 nämlich nicht.

38.      Aus dem neunten Erwägungsgrund und Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie geht hervor, dass die Familienzusammenführung auf jeden Fall für die Mitglieder der Kernfamilie, d. h. den Ehegatten und die minderjährigen Kinder, einschließlich der Kinder, die gemäß einem Beschluss der zuständigen Behörde des betreffenden Mitgliedstaats oder einem aufgrund internationaler Verpflichtungen automatisch vollstreckbaren Beschluss adoptiert wurden, gelten muss(10).

39.      Was insbesondere die Familienzusammenführung von Personen angeht, die internationalen Schutz genießen, ergibt sich aus Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86, dass die Mitgliedstaaten „weiteren, in Artikel 4 nicht genannten Familienangehörigen“ die Familienzusammenführung gestatten können, „sofern der zusammenführende Flüchtling für ihren Unterhalt aufkommt“. In diesem Zusammenhang gestatten die niederländischen Rechtsvorschriften die Familienzusammenführung von Mündeln, zu denen der Zusammenführende tatsächliche familiäre Bindungen unterhält.

40.      Da die Existenz einer Familie zwangsläufig das Bestehen einer familiären Bindung einschließt, die eine besondere rechtliche Verbindung ist, setzt die Inanspruchnahme des Rechts auf Familienzusammenführung den Nachweis des Bestehens dieser familiären Bindung und – bei einem Mündel – das tatsächliche Bestehen dieser Bindung voraus. Die Bindung wird grundsätzlich durch amtliche Unterlagen nachgewiesen, die von den zuständigen Behörden des Herkunftslands ausgestellt worden sind.

41.      In diesem Punkt wirft die Ausgangsrechtssache Schwierigkeiten auf, da die Zusammenführende kein amtliches Dokument vorlegt, mit dem sich das (tatsächliche) Bestehen dieser familiären Bindung zu dem betreffenden Minderjährigen belegen lässt, das für die Zwecke der Richtlinie 2003/86 aber dennoch erforderlich ist. Die „Vormundschaft“, die die Zusammenführende über dieses Kind auszuüben beansprucht, scheint in Wirklichkeit vielmehr einer gewohnheitsmäßigen und freiwilligen Verpflichtung nahezukommen, für den Unterhalt, die Erziehung und den Schutz eines Kindes zu sorgen, das Mitglied der erweiterten Familie ist. In einem solchen Fall ist es, um den Interessen dieses Kindes bestmöglich zu dienen, erforderlich, sich zu vergewissern, dass die biologischen Eltern des Kindes tatsächlich verstorben sind und es eine tatsächliche familiäre Bindung zur Zusammenführenden unterhält, um zu vermeiden, dass es Gefahr läuft, Missbrauch oder Ausbeutung ausgesetzt zu werden.

42.      Nach Hervorhebung der Besonderheiten dieser Rechtssache sind nunmehr die Regeln und Grundsätze für den Nachweis familiärer Bindungen im Sinne von Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 zu prüfen.

B.      Regeln und Grundsätze für den Nachweis familiärer Bindungen im Sinne von Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86

43.      Im Rahmen des mit der Richtlinie 2003/86 eingeführten Verfahrens zur Familienzusammenführung unterscheidet der Unionsgesetzgeber zwischen zwei Arten von Regelungen für den Nachweis familiärer Bindungen.

44.      Die erste ist eine allgemeine Regelung für Drittstaatsangehörige, deren materielle Voraussetzungen in Art. 5 Abs. 2 dieser Richtlinie aufgeführt sind.

45.      Die genannte Vorschrift verlangt vom Zusammenführenden, dass er seinem Antrag Unterlagen beifügt, anhand deren die familiären Bindungen nachgewiesen werden. Die zuständige nationale Behörde kann gleichwohl die Ansicht vertreten, dass die Unterlagen für den Nachweis des Bestehens dieser Bindungen nicht ausreichen, und daher beschließen, eine Befragung des Zusammenführenden und seiner Familienangehörigen vorzunehmen und andere Nachforschungen anzustellen, die sie als zweckmäßig erachtet(11). Im Einklang mit den Bestimmungen von Art. 16 der Richtlinie 2003/86(12) versucht der Unionsgesetzgeber hier, betrügerische oder missbräuchliche Anträge auf Familienzusammenführung, die beispielsweise auf Scheinehen oder betrügerische oder fiktive Vaterschaftsanerkenntnisse gestützt werden, zu bekämpfen, indem er über die Vorlage amtlicher Unterlagen hinaus ergänzende Nachforschungen vornimmt, mit denen sich nachweisen lässt, ob die familiäre Bindung (tatsächlich) besteht oder nicht.

46.      Die zweite ist eine besondere Regelung für internationalen Schutz genießende Personen, deren materielle Voraussetzungen ihrerseits in Art. 11 der Richtlinie 2003/86 enthalten sind.

47.      Diese Regelung soll die Effektivität des Rechts auf ein normales Familienleben gewährleisten, indem diejenigen Angehörigen einer Familie vereint werden, die aufgrund der Umstände in ihrem Herkunftsland vor Verfolgungen und ernsthaften Schäden geflüchtet und bei einer Zwangsumsiedlung oder auf einer Flucht voneinander getrennt worden sind.

48.      Unter Berücksichtigung der besonderen Schwierigkeiten, mit denen sich die besagten Familienangehörigen auseinandersetzen müssen, wenn es darum geht, in ihrem Herkunftsland amtliche Unterlagen vorzulegen oder zu erlangen, sieht die Regelung nach dem achten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/86 und im Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Bedingungen für den Nachweis familiärer Bindungen vor, die für die Ausübung dieses Rechts zwangsläufig „günstiger“ sein müssen(13).

49.      Stellt eine Person, die internationalen Schutz genießt, einen Antrag auf Familienzusammenführung, finden die allgemeinen Bestimmungen von Art. 5 der Richtlinie 2003/86 daher vorbehaltlich der Bestimmungen Anwendung, die in Art. 11 Abs. 2 dieser Richtlinie speziell vorgesehen sind.

50.      Der letztgenannte Artikel sieht besondere Regeln vor, wenn „ein Flüchtling seine familiären Bindungen nicht mit amtlichen Unterlagen belegen [kann]“.

51.      Erstens geht aus Art. 11 Abs. 2 Satz 1 der Richtlinie 2003/86 hervor, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, „andere Nachweise“ für das Bestehen dieser Bindungen zu prüfen(14). Diese Nachweise sind nach dem nationalen Recht zu bewerten(15). Das Ermessen, über das die Mitgliedstaaten verfügen, darf gleichwohl nicht in einer Weise ausgeübt werden, dass das Ziel der Richtlinie 2003/86, das darin besteht, die Beweisregelung an die besonderen Schwierigkeiten anzupassen, mit denen Personen, die internationalen Schutz genießen, konfrontiert sein können, beeinträchtigt zu werden droht. Die genannten Nachweise müssen also realistisch und an die konkrete Situation angepasst sein, in der sich die betreffenden Personen befinden(16).

52.      Zweitens geht aus dem Wortlaut von Art. 11 Abs. 2 Satz 2 dieser Richtlinie ausdrücklich hervor, dass „[d]ie Ablehnung eines Antrags … nicht ausschließlich mit dem Fehlen von Belegen begründet werden [darf]“. Meines Erachtens unterliegt es keinem Zweifel, dass sich der Unionsgesetzgeber hier auf amtliche Unterlagen bezieht. Die Vorschrift steht insofern in der Logik der vorangegangenen Nummer dieser Schlussanträge, als sie ein deutliches und bedingungsloses Verbot aufstellt, die Ablehnung des Antrags auf Familienzusammenführung per se mit dem Fehlen von Unterlagen, anhand deren das Bestehen familiärer Bindungen nachgewiesen wird, zu begründen. Sie steht auch im Einklang mit den Empfehlungen des Europarates(17) und des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR)(18).

53.      Die mit der vorliegenden Rechtssache aufgeworfene Frage besteht hier darin, ob ein Mitgliedstaat den Rückgriff auf ergänzende Untersuchungsmaßnahmen im Sinne von Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 im Rahmen eines Antrags auf Familienzusammenführung, der nicht mit amtlichen Unterlagen belegt wird, aus denen das Bestehen familiärer Bindungen hervorgeht, von der Voraussetzung abhängig machen darf, dass der Zusammenführende plausibel erklärt, weshalb er diese Unterlagen nicht vorlegen kann.

C.      Verpflichtung des Zusammenführenden, eine plausible Erklärung für das Fehlen familiäre Bindungen belegender amtlicher Unterlagen zu geben

54.      Der Gerichtshof hat anerkannt, dass es für die Mitglieder einer Familie kein subjektives Recht auf Aufnahme im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten gibt und diese nach der Richtlinie 2003/86 bei der Prüfung von Anträgen auf Familienzusammenführung über einen Handlungsspielraum verfügen und Bedingungen für die Ausübung dieses Rechts stellen können(19).

55.      Der Gerichtshof hat gleichwohl auch anerkannt, dass diese Befugnis eng auszulegen ist, da die Genehmigung der Familienzusammenführung die Regel bleibt und von den Mitgliedstaaten nicht in einer Weise genutzt werden darf, die das Ziel der Richtlinie 2003/86 beeinträchtigen würde(20).

56.      Im vorliegenden Fall geht das in den betreffenden Rechtsvorschriften festgelegte Erfordernis zwar nicht ausdrücklich aus dem Wortlaut der Richtlinie 2003/86 hervor, fügt sich aber voll und ganz in den Rahmen der Zusammenarbeit ein, die sich zwischen dem Zusammenführenden und der zuständigen nationalen Behörde bei der Prüfung eines ohne amtliche Unterlagen gestellten Antrags auf Familienzusammenführung entwickeln muss und mit der sich, wenn sie unter Beachtung der Verfahrenserfordernisse dieser Richtlinie verwirklicht wird, deren Ziele erreichen lassen, ohne gegen die besondere Regelung zu verstoßen, die für internationalen Schutz genießende Personen gilt.

1.      Die in Rede stehende Verpflichtung fällt unter die Pflicht zur Zusammenarbeit, die dem Zusammenführenden im Rahmen der Prüfung eines ohne amtliche Unterlagen gestellten Antrags auf Familienzusammenführung obliegt

57.      Wie aus dem Wortlaut von Art. 5 Abs. 2 und Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 hervorgeht, obliegt die Beweislast in erster Linie dem Antragsteller. Tatsächlich leitet er das Verfahren ein, um ein Recht in Anspruch zu nehmen, und er ist es auch, der allein über die amtlichen Unterlagen verfügt, um seine Erklärungen zu stützen und das Bestehen der beanspruchten familiären Bindungen nachzuweisen, von denen die Entscheidung über seinen Antrag letztlich abhängt.

58.      Auch den Mitgliedstaaten erlegt der Unionsgesetzgeber eine Verpflichtung zur Zusammenarbeit auf. So ergibt sich aus den genannten Vorschriften, dass, falls Personen, die internationalen Schutz genießen, ihre familiären Bindungen nicht mit amtlichen Unterlagen belegen können, der Mitgliedstaat gemäß Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 gehalten ist, andere Nachweise für das Bestehen dieser Bindungen zu prüfen, und außerdem nach Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie ergänzende Untersuchungen wie Befragungen des Zusammenführenden und seiner Familienangehörigen vornehmen und andere von ihm als zweckmäßig erachtete Nachforschungen anstellen kann.

59.      Im Rahmen dieser Zusammenarbeit und zum Zweck ihrer ordnungsgemäßen Durchführung kann die zuständige nationale Behörde nach meinem Dafürhalten verlangen, dass der Zusammenführende erklärt, weshalb er kein das Bestehen familiärer Bindungen belegendes Personenstandsdokument vorlegen kann, und der Plausibilität dieser Erklärung eine besondere Bedeutung beimessen.

60.      Auch wenn die in Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 vorgesehene Beweislastregelung tatsächlich zum Ziel hat, die für den Nachweis familiärer Bindungen geltende Beweislastregelung zugunsten von Personen, die internationalen Schutz genießen, durch flexiblere Regeln anzupassen, muss sie nämlich auch für diese Personen Verpflichtungen enthalten, damit im Einklang mit den Bestimmungen von Art. 16 der Richtlinie vermieden wird, dass vom Verfahren zur Familienzusammenführung in betrügerischer oder missbräuchlicher Weise Gebrauch gemacht wird, um die Vorschriften über die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen in einen bzw. einem Mitgliedstaat zu umgehen oder indem Kinder vorsätzlich der Gefahr von Missbrauch, Ausbeutung oder Menschenhandel ausgesetzt werden(21).

61.      Beschließt eine Person, die internationalen Schutz genießt, ein Verfahren zur Familienzusammenführung einzuleiten, obwohl es kein amtliches Dokument gibt, mit dem das Bestehen familiärer Bindungen belegt wird, ist sie aufgrund der ihr im Rahmen der Antragsprüfung obliegenden Beweislast daher verpflichtet, zu erläutern, weshalb sie solche Unterlagen nicht vorlegen kann.

62.      Von der zuständigen nationalen Behörde kann nämlich nicht verlangt werden, dass sie die Prüfung dieses Antrags durchführt und ergänzende Untersuchungsmaßnahmen vornimmt, obwohl der Zusammenführende weder eine das Bestehen familiärer Bindungen belegende Personenstandsurkunde vorgelegt noch – trotz der von der Behörde unternommenen Schritte und der ihm von dieser zur Verfügung gestellten Mittel – eine hinreichende Erklärung gegeben hat.

63.      Auch wenn der Zusammenführende nicht verpflichtet ist, das tatsächliche Bestehen der familiären Bindung anhand amtlicher Unterlagen nachzuweisen, muss er sich daher gleichwohl bemühen, hinreichend ausführlich und detailliert zu erläutern, weshalb er nicht in der Lage ist, diese Unterlagen zu beschaffen. Dadurch soll ihm der Nachweis ermöglicht werden, dass sein Antrag trotz des Fehlens der genannten Unterlagen rechtmäßig bleibt und die Antragsprüfung die Mitwirkung der zuständigen nationalen Behörde erfordert, um ihm die Zusammenstellung aller Anhaltspunkte zu ermöglichen, die geeignet sind, das Bestehen dieser Bindungen zu belegen(22).

64.      Im Licht der Erklärungen des Zusammenführenden und gegebenenfalls der anderen übermittelten Beweismittel dürfte die zuständige nationale Behörde damit in der Lage sein, einen Fall, in dem dieser Antrag von vornherein abgelehnt werden muss, weil er offensichtlich unbegründet oder weil er betrügerisch oder missbräuchlich ist, von einem solchen zu unterscheiden, in dem der Zusammenführende zu unterstützen ist und ergänzende Untersuchungsmaßnahmen ergriffen werden müssen, weil ernsthafte Gründe für die Annahme vorliegen, dass er berechtigterweise nicht in der Lage ist, amtliche Unterlagen zu beschaffen.

65.      Es liegt auf der Hand, dass die Anforderungen an die Erklärungen des Zusammenführenden verhältnismäßig sein müssen, um ihn – verglichen mit dem, was für den Nachweis seines Unvermögens erforderlich ist – nicht übermäßig zu belasten.

66.      Das Niveau dieser Anforderungen muss demnach von der Art und dem Ausmaß der Schwierigkeiten abhängen, mit denen der Zusammenführende bei der Vorlage amtlicher Unterlagen konkret konfrontiert ist. Die zuständige nationale Behörde kann daher zwar ausführliche und detaillierte Erklärungen fordern, wenn feststeht, dass der Zusammenführende die Übermittlung dieser Unterlagen verlangen kann; sie muss das Niveau ihrer Anforderungen meiner Meinung nach aber senken, wenn erwiesen ist, dass die Erlangung der genannten Unterlagen beispielsweise deshalb unmöglich ist, weil es im Herkunftsland des Zusammenführenden keinen Personenstand gibt oder er schwerwiegende Mängel aufweist.

67.      An dieser Stelle ist festzuhalten, dass es sich bei einer Verpflichtung wie der in den betreffenden nationalen Rechtsvorschriften festgelegten um eine Verpflichtung handelt, wie sie im Rahmen der Prüfung eines Antrags auf Gewährung internationalen Schutzes vorgesehen ist.

2.      Die in Rede stehende Verpflichtung fällt unter die Verpflichtungen, die dem Antragsteller im Rahmen der Prüfung eines Antrags auf Gewährung internationalen Schutzes obliegen

68.      Das Verfahren zur Prüfung eines Antrags auf Gewährung internationalen Schutzes und das Verfahren, das sich auf einen Antrag auf Familienzusammenführung bezieht, haben zwar unterschiedliche Gegenstände. Das erste zielt darauf ab, demjenigen die Flüchtlingseigenschaft oder den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, der Verfolgungshandlungen oder der Gefahr ernsthafter Schäden in seinem Herkunftsland ausgesetzt ist. Mit dem zweiten sollen während einer Zwangsumsiedlung oder Flucht zerstreute Familienangehörige einer internationalen Schutz genießenden Person zusammengeführt werden.

69.      Diese Verfahren weisen jedoch gemeinsame Merkmale im Zusammenhang mit der Identität des Antragstellers und der sehr besonderen Situation auf, in der sich dieser befindet, was vermutlich erklärt, dass sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf seine Rechtsprechung zum Nachweis einer Verfolgungsgefahr bei Rückkehr in das Herkunftsland (Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes) bezieht, wenn er die Beweislast und die Beweisanforderung zum Zwecke des Nachweises familiärer Bindungen (Antrag auf Familienzusammenführung) festlegt(23).

70.      So beruht die Zusammenarbeit, die sich zwischen dem Antragsteller und der zuständigen nationalen Behörde entwickeln muss, in dem einen wie in dem anderen Verfahren auf einer identischen Annahme, nämlich dass die Person, die um internationalen Schutz nachsucht oder diesen Schutz genießt, unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sie gezwungen gewesen ist, aus ihrem Herkunftsland zu flüchten, nicht in der Lage ist, amtliche Unterlagen zu beschaffen, die u. a. ihre Identität, ihre Staatsangehörigkeit oder aber das Bestehen familiärer Bindungen belegen.

71.      Im Rahmen eines Antrags auf Gewährung internationalen Schutzes hat der Gerichtshof entschieden, dass der Antragsteller nach Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU(24) verpflichtet ist, mit der zuständigen nationalen Behörde zusammenzuarbeiten, insbesondere zur Feststellung seiner Identität, seiner Staatsangehörigkeit und der Gründe für seinen Antrag, was nach Auffassung des Gerichtshofs voraussetzt, dass die geforderten Nachweise und gegebenenfalls die verlangten Erklärungen und Auskünfte vorgelegt werden(25). Hierbei handelt es sich um Elemente, die für die Antragsprüfung wesentlich und notwendig sind.

72.      Diese Verpflichtung steht im Zusammenhang mit der in Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2011/95/EU(26) festgelegten Verpflichtung, die sich auf die von der zuständigen nationalen Behörde bei der Prüfung eines solchen Antrags vorzunehmende Prüfung der Tatsachen und Umstände bezieht. Der besagte Artikel bestimmt nämlich, dass, wenn für Aussagen des Antragstellers Unterlagen oder sonstige Beweise fehlen, diese Aussagen keines Nachweises bedürfen, wenn der Antragsteller sich u. a. offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu begründen, er alle Anhaltspunkte vorgelegt und eine „hinreichende“ Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben hat(27) und festgestellt worden ist, dass diese Aussagen kohärent und plausibel sind und zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen.

73.      Nach alledem kann Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 meines Erachtens daher dahin ausgelegt werden, dass eine zuständige nationale Behörde vom Zusammenführenden verlangen darf, dass er eine plausible Erklärung liefert, wenn es ihm nicht gelingt, amtliche Unterlagen vorzulegen, die das Bestehen familiärer Bindungen belegen.

74.      Der Ermessensspielraum, der dieser Behörde dafür zur Verfügung steht, ist jedoch zu begrenzen.

D.      Verpflichtungen, die der zuständigen nationalen Behörde im Rahmen der Prüfung der Plausibilität der vom Zusammenführenden gegebenen Erklärungen obliegen

75.      Die nationale Behörde ist – unter der Kontrolle des nationalen Richters – allein zuständig für die Prüfung der vom Zusammenführenden gegebenen Erklärungen. Sie muss dieser Verpflichtung jedoch unter Beachtung der Verfahrenserfordernisse der Richtlinie 2003/86, insbesondere der in ihrem Art. 17 genannten, nachkommen.

76.      Auch wenn der Zusammenführende verpflichtet ist, plausibel zu erklären, weshalb er nicht in der Lage ist, das Bestehen einer familiären Bindung mit amtlichen Unterlagen zu belegen, muss die zuständige nationale Behörde daher ihrerseits eine angemessene Prüfung der von ihm gegebenen Erklärungen vornehmen.

77.      Insbesondere muss die nationale Behörde gemäß Art. 17 der Richtlinie 2003/86(28) eine Einzelfallbewertung durchführen, die nicht nur relevante allgemeine und besondere Informationen über die Lage im Herkunftsland des Zusammenführenden, sondern auch seine Persönlichkeit, seine konkrete Situation und die besonderen Schwierigkeiten zu berücksichtigen hat, mit denen er konfrontiert ist(29).

78.      Mit dieser Methode lassen sich Grenzen für eine Beurteilung setzen, die trotz der Tatsachen, auf denen sie beruhen muss, subjektiv geprägt bleibt.

79.      Zum einen müssen die Erklärungen, die sich auf das Unvermögen des Zusammenführenden beziehen, eine die familiäre Bindung nachweisende amtliche Urkunde vorzulegen, objektiv anhand der allgemeinen und besonderen Informationen über die Lage in seinem Herkunftsland geprüft werden. Hierbei handelt es sich um relevante, objektive, zuverlässige, genaue und aktualisierte Informationen, die geeignet sind, in Berichte der nationalen und internationalen Verwaltungen, insbesondere der Organe des Europarates oder des Systems der Vereinten Nationen, aufgenommen zu werden, aber auch um Entscheidungen internationaler Gerichte wie Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte(30). Im Kontext eines Antrags auf Familienzusammenführung, dem keine amtliche Urkunde beigefügt ist, die das Bestehen einer familiären Bindung belegt, müssen diese Informationen, zu denen die nationalen Behörden vollen Zugang haben, eine Prüfung ermöglichen, ob die Personenstandsdienste des Herkunftslands funktionieren, insbesondere, ob Mängel vorliegen, sei es an bestimmten Orten dieses Landes oder bei bestimmten Personengruppen.

80.      Bei dieser Methode handelt es sich um diejenige, die der Unionsgesetzgeber im Rahmen der Prüfung eines Antrags auf Gewährung internationalen Schutzes gewählt hat.

81.      So muss der Mitgliedstaat den Antrag gemäß Art. 4 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 individuell prüfen und dabei alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen berücksichtigen, einschließlich der Rechts- und Verwaltungsvorschriften dieses Landes und der Weise, in der sie angewandt werden. Außerdem müssen nach Art. 4 Abs. 5 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 die Plausibilität und die Kohärenz der Aussagen des Antragstellers anhand der für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen geprüft werden(31).

82.      Um den zuständigen nationalen Behörden zu ermöglichen, diese Anforderungen täglich zu erfüllen und zu einer Harmonisierung der Verfahren zur Prüfung von Anträgen auf Gewährung internationalen Schutzes in den Mitgliedstaaten zu gelangen, ist dem EASO die Aufgabe übertragen worden, Informationsberichte zu erstellen, die für jeden Themenbereich eine Prüfung der Lage im Herkunftsland oder in der Herkunftsregion der internationalen Schutz beantragenden Person umfassen. Diese Berichte werden auf der Grundlage einer Sammlung von „relevanten, zuverlässigen, genauen und aktuellen“ Informationen über Herkunftsländer unter Verwendung aller einschlägigen Informationsquellen, einschließlich Informationen von staatlichen, nichtstaatlichen und internationalen Organisationen, erstellt(32).

83.      In der vorliegenden Rechtssache hat der Staatssekretär im Rahmen seiner Beurteilung daher auf den Abschnitt „Amtliche Dokumente über den Personenstand“ des Eritrea gewidmeten Informationsberichts des EASO Bezug genommen(33).

84.      Es ist gleichwohl Sache des vorlegenden Gerichts, sich zu vergewissern, dass die Studie eine hinreichende Informationsquelle für diese Beurteilung darstellen kann und sich ihr u. a. zuverlässige und genaue Informationen über das tatsächliche Funktionieren des Personenstands in ländlichen Gebieten und/oder am Herkunftsort der Zusammenführenden, die Ausstellung von Sterbe- und Vormundschaftsurkunden sowie darüber entnehmen lassen, in welchem Ausmaß die Zusammenführende von ihrem Herkunftsland oder seinen diplomatischen Vertretungen nach den geltenden nationalen Rechtsvorschriften konkret Personenstandsurkunden verlangen kann.

85.      Zum anderen müssen die Erklärungen, die sich auf das Unvermögen des Zusammenführenden beziehen, eine die familiäre Bindung nachweisende amtliche Urkunde vorzulegen, anhand seines individuellen Status und seiner persönlichen Situation geprüft werden, und dies im Einklang mit Art. 17 der Richtlinie 2003/86 und der Rechtsprechung des Gerichtshofs. Der Informationsbericht des EASO ersetzt nämlich nicht eine individuelle Antragsprüfung, mit der sich feststellen lässt, über welche Möglichkeiten der Zusammenführende insoweit verfügt.

86.      Das Alter und insbesondere die Minderjährigkeit des Zusammenführenden, das Geschlecht, das Bildungsniveau, die Herkunft und der soziale Status, aber auch die Gründe für die Gewährung internationalen Schutzes und die erlittenen Traumata, können daher Faktoren darstellen, die bei der Bewertung der Gründe, aus denen er nicht über amtliche Unterlagen verfügt, und der Beurteilung des Grads der Schwierigkeiten, mit denen er möglicherweise konfrontiert ist, zu berücksichtigen sind.

87.      Nach alledem komme ich zu dem Schluss, dass Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 einer nationalen Regelung wie der in Rede stehenden nicht entgegensteht, wenn die zuständige nationale Behörde eine angemessene Prüfung der Erklärungen des Zusammenführenden durchführt und dabei nicht nur die relevanten besonderen und allgemeinen Informationen über die Lage in dessen Herkunftsland, sondern auch die besondere Situation berücksichtigt, in der er sich befindet.

V.      Ergebnis

88.      Angesichts sämtlicher vorstehender Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die zweite Vorlagefrage der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Haarlem (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Haarlem, Niederlande), wie folgt zu antworten:

Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung, wonach eine internationalen Schutz genießende Person im Rahmen der Prüfung ihres Antrags auf Familienzusammenführung verpflichtet ist, plausibel zu erklären, weshalb sie nicht in der Lage ist, amtliche Unterlagen vorzulegen, die das Bestehen einer familiären Bindung belegen, nicht entgegensteht, sofern die zuständige nationale Behörde die Erklärungen nicht nur anhand der relevanten besonderen und allgemeinen Informationen über die Lage im Herkunftsland dieser Person, sondern auch anhand der besonderen Situation prüft, in der sie sich befindet.


1      Originalsprache: Französisch.


2      Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. 2003, L 251, S. 12) definiert einen „Zusammenführenden“ als „den sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhaltenden Drittstaatsangehörigen, der oder dessen Familienangehörige einen Antrag auf Familienzusammenführung mit ihm stellt bzw. stellen“.


3      Stb. 2000, Nr. 495.


4      Diese ist durch die Werkinstructie 2016/17 (Arbeitsanweisung 2016/17) ersetzt worden.


5      Im Ausländerrunderlass 2000 heißt es in Abschnitt C2/4, dass der betreffende Minderjährige auch ein Mündel sein kann, zu dem der Zusammenführende tatsächliche familiäre Bindungen unterhält.


6      Vgl. insoweit Erläuterungen des Amts für Einwanderung und Einbürgerung „The family reunification procedure for holders of an asylum residence permit“, unter folgender Internetadresse zu finden: https://ind.nl/Documents/GHA_Engels.pdf (p. 6, part 1, step 3).


7      Die Sachverhaltsdarstellung im Rahmen der vorliegenden Schlussanträge berücksichtigt auch die Angaben in den nationalen Akten, über die der Gerichtshof verfügt.


8      Im Folgenden: Staatssekretär.


9      Rapport relatif à l’information sur le pays d’origine, Érythrée, Étude de pays, mai 2015, zu finden unter folgender Internetadresse: https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/PLib/EASO-Eritrea-Country-Focus-FR.pdf und vom Staatssekretär ausdrücklich erwähnt in den Schreiben an die Zusammenführende, die den beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen als Anhang beigefügt worden sind. Zur Einrichtung des EASO vgl. Verordnung (EU) Nr. 439/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Mai 2010 zur Einrichtung eines Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (ABl. 2010, L 132, S. 11).


10      Nach dem Wortlaut des zehnten Erwägungsgrundes und von Art. 4 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2003/86 können die Mitgliedstaaten die Familienzusammenführung von Verwandten in gerader Linie, volljährigen unverheirateten Kindern, nicht ehelichen Lebenspartnern oder eingetragenen Lebenspartnerschaften, sowie im Falle einer Mehrehe und unter bestimmten Bedingungen, der minderjährigen Kinder des weiteren Ehegatten oder des Zusammenführenden zulassen.


11      Aus der Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament – Leitlinien zur Anwendung der Richtlinie 2003/86/EG des Rates betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (KOM[2014] 210 endg., im Folgenden: Leitlinien) geht hervor, dass die beigefügten Unterlagen und die Notwendigkeit der Befragungen und weiterer Untersuchungen für jeden Antrag von Fall zu Fall – im Rahmen einer Einzelfallprüfung des Antrags – bewertet werden müssen (Abschnitt 3.2., S. 11).


12      Nach Art. 16 Abs. 1 Buchst. b und c dieser Richtlinie können die Mitgliedstaaten einen Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung ablehnen, wenn zwischen dem Zusammenführenden und dem oder den Familienangehörigen keine tatsächlichen ehelichen oder familiären Bindungen bestehen oder nicht mehr bestehen oder wenn der Zusammenführende oder der nichteheliche Lebenspartner nachweislich mit einer anderen Person verheiratet ist oder nachweislich mit einer anderen Person eine auf Dauer angelegte Beziehung führt. Nach Abs. 2 dieser Vorschrift können sie diesen Antrag auch ablehnen, wenn feststeht, dass falsche oder irreführende Angaben gemacht wurden, ge- oder verfälschte Dokumente verwendet wurden, auf andere Weise eine Täuschung verübt wurde oder andere ungesetzliche Mittel angewandt wurden, oder dass die Ehe oder Lebenspartnerschaft nur zu dem Zweck geschlossen bzw. die Adoption nur vorgenommen wurde, um der betreffenden Person die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den Aufenthalt in einem Mitgliedstaat zu ermöglichen.


13      Vgl. insoweit Grünbuch der Kommission zum Recht auf Familienzusammenführung von in der Europäischen Union lebenden Drittstaatsangehörigen (Richtlinie 2003/86) (KOM[2011] 735 endg.), insbesondere Abschnitt 4.2 „Fragen im Zusammenhang mit Asyl“ (S. 7), sowie Leitlinien, insbesondere Abschnitt 6.1.2. (S. 26 f.). Vgl. in diesem Sinne auch EGMR, 10. Juli 2014, Mugenzi/Frankreich (CE:ECHR:2014:0710JUD005270109, § 54).


14      Diese Verpflichtung steht auch im Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte; vgl. EGMR, 10. Juli 2014, Tanda-Muzinga/Frankreich (CE:ECHR:2014:0710JUD000226010, § 79).


15      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248, Rn. 42 und 45).


16      Gemäß Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 können die Mitgliedstaaten eine Befragung des Zusammenführenden und seiner Familienangehörigen vornehmen und andere als zweckmäßig erachtete Nachforschungen anstellen. In Abschnitt 6.1.2. ihrer Leitlinien hebt die Kommission hervor, dass die „anderen Nachweise“ für das Bestehen familiärer Bindungen aus schriftlichen und/oder mündlichen Erklärungen der Antragsteller, Befragungen von Familienangehörigen oder Untersuchungen über die Situation im Herkunftsland bestehen können. Die Erklärungen können durch Belege untermauert werden wie audiovisuelles Material und alle Arten von Unterlagen oder Beweisstücken, etwa Diplome oder Nachweise von Geldüberweisungen. Die Kommission hebt hervor, dass in den Fällen, in denen nach der Prüfung anderer Arten von Nachweisen weiterhin ernsthafte Zweifel bestehen oder in denen deutliche Hinweise auf eine betrügerische Absicht vorliegen, DNA-Tests als letztes Mittel eingesetzt werden können, wobei sich entfernte oder unterhaltsberechtigte Familienangehörige, insbesondere im Fall von Adoptionen, nicht mit diesen Tests nachweisen lassen (S. 27).


17      Vgl. insoweit Empfehlung Nr. R(99)23 des Ministerkomitees des Europarates an die Mitgliedstaaten vom 15. Dezember 1999 über die Familienzusammenführung für Flüchtlinge und andere Menschen, die des internationalen Schutzes bedürfen.


18      Vgl. insoweit Schlussfolgerung Nr. 24 des Exekutivausschusses des Programms des Hohen Kommissars, verabschiedet auf seiner 32. Tagung und zu finden unter folgender Internetadresse: http://www.unhcr.org/publications/legal/41b041534/compilation-conclusions-adopted-executive-committee-international-protection.html (S. 43).


19      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Juni 2006, Parlament/Rat (C‑540/03, EU:C:2006:429, Rn. 59), und vom 6. Dezember 2012, O u. a. (C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:776, Rn. 79).


20      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Dezember 2012, O u. a. (C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:776, Rn. 74 und die dort angeführte Rechtsprechung).


21      Wie die Kommission im Übrigen entsprechend ihren Leitlinien klargestellt hat, ist es unerlässlich, dass die Mitgliedstaaten im Interesse der Gesellschaft und der aufrechten Antragsteller energisch gegen Missbrauch und Betrug im Zusammenhang mit den durch die Richtlinie 2003/86 verliehenen Rechten vorgehen (vgl. insbesondere Abschnitt 7.3. „Rechtsmissbrauch und Betrug“, S. 31).


22      Der Gerichtshof hat im Übrigen entschieden, dass ein Mitgliedstaat möglicherweise eher Zugang zu bestimmten Arten von Unterlagen hat als der Antragsteller (vgl. insoweit Urteil vom 22. November 2012, M., C‑277/11, EU:C:2012:744, Rn. 66).


23      Vgl. insoweit EGMR, 10. Juli 2014, Tanda-Muzinga/Frankreich (CE:ECHR:2014:0710JUD000226010, § 69).


24      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60).


25      Vgl. Urteil vom 14. September 2017, K. (C‑18/16, EU:C:2017:680, Rn. 38).


26      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).


27      Vgl. Urteil vom 25. Januar 2018, F (C‑473/16, EU:C:2018:36, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).


28      Vgl. insoweit Abschnitte 6.1.2. und 7.4. der Leitlinien der Kommission.


29      Vgl. insoweit Urteil vom 4. März 2010, Chakroun (C‑578/08, EU:C:2010:117), in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass Art. 17 der Richtlinie 2003/86 daher nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die der zuständigen nationalen Behörde erlauben, einen Antrag auf Familienzusammenführung abzulehnen, ohne eine konkrete Prüfung der Situation des Antragstellers vorzunehmen. In diesem Urteil hat der Gerichtshof nationale Rechtsvorschriften als mit der genannten Richtlinie unvereinbar angesehen, die ein Mindesteinkommen vorsahen, unterhalb dessen jede Familienzusammenführung abgelehnt wurde, da der Antrag auf Familienzusammenführung ohne „eine konkrete Prüfung der Situation des einzelnen Antragstellers“ abgelehnt würde (Rn. 48).


30      Ich beziehe mich hier entsprechend auf die Kriterien, die der Gerichtshof im Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198), für Informationen entwickelt hat, auf die sich die nationalen Behörden bei der Prüfung stützen müssen, ob das Haftsystem in einem bestimmten Mitgliedstaat Mängel aufweist. Diese Kriterien scheinen erst recht anwendbar zu sein, wenn es darum geht, das Funktionieren staatlicher Dienststellen für Personenstandswesen zu beurteilen.


31      In Art. 4 Abs. 5 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 heißt es: „Wenden die Mitgliedstaaten den Grundsatz an, wonach der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz begründen muss, und fehlen für Aussagen des Antragstellers Unterlagen oder sonstige Beweise, so bedürfen diese Aussagen keines Nachweises, wenn festgestellt wurde, dass die Aussagen des Antragstellers kohärent und plausibel sind und zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen“ (Hervorhebung nur hier).


32      Vgl. Art. 4 Buchst. a und b der Verordnung Nr. 439/2010.


33      Vgl. Bezugnahmen auf diesen Bericht in Fn. 9 der vorliegenden Schlussanträge.

Verwandte Urteile

Keine verwandten Inhalte vorhanden.

Referenzen

This content does not contain any references.