Urteil vom Europäischer Gerichtshof - C-387/17

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

23. Januar 2019(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Staatliche Beihilfen – Bestehende Beihilfen und neue Beihilfen – Einstufung – Verordnung (EG) Nr. 659/1999 – Art. 1 Buchst. b Ziff. iv und v – Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes – Anwendbarkeit – Beihilfen, die vor der Liberalisierung eines ursprünglich dem Wettbewerb entzogenen Marktes eingeführt wurden – Schadensersatzklage eines Wettbewerbers der von den Beihilfen begünstigten Gesellschaft gegen den Mitgliedstaat“

In der Rechtssache C‑387/17

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) mit Entscheidung vom 10. April 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Juni 2017, in dem Verfahren

Presidenza del Consiglio dei Ministri

gegen

Fallimento Traghetti del Mediterraneo SpA

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Ersten Kammer sowie der Richter A. Arabadjiev (Berichterstatter), E. Regan, C. G. Fernlund und S. Rodin,

Generalanwalt: N. Wahl,

Kanzler: R. Schiano, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. Juni 2018,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Fallimento Traghetti del Mediterraneo SpA, vertreten durch M. Contaldi, P. Canepa, V. Roppo und S. Sardano, avvocati,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. De Bellis, avvocato dello Stato,

–        der französischen Regierung, vertreten durch J. Bousin, P. Dodeller, D. Colas und R. Coesme als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch P. Stancanelli und D. Recchia als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 13. September 2018

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Buchst. b Ziff. iv und v der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom 22. März 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [108 AEUV] (ABl. 1999, L 83, S. 1), Art. 93 Abs. 3 des EWG-Vertrags (nach Änderung Art. 88 Abs. 3 EG, jetzt Art. 108 Abs. 3 AEUV) sowie der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes.

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Presidenza del Consiglio dei Ministri (Präsidentschaft des Ministerrats, Italien) und der Fallimento Traghetti del Mediterraneo SpA (im Folgenden: FTDM) über eine Klage auf Ersatz des Schadens, der dieser Gesellschaft nach ihrem Vorbringen durch die in den Jahren 1976 bis 1980 erfolgte Gewährung von Zuschüssen an die Tirrenia di Navigazione SpA (im Folgenden: Tirrenia), ein mit FTDM im Wettbewerb stehendes Unternehmen, entstanden ist.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 1 („Definitionen“) der Verordnung Nr. 659/1999 bestimmte:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

b)      ‚bestehende Beihilfen‘

iv)      Beihilfen, die gemäß Artikel 15 als bereits bestehende Beihilfen gelten;

v)      Beihilfen, die als bestehende Beihilfen gelten, weil nachgewiesen werden kann, dass sie zu dem Zeitpunkt, zu dem sie eingeführt wurden, keine Beihilfe waren und später aufgrund der Entwicklung des Gemeinsamen Marktes zu Beihilfen wurden, ohne dass sie eine Änderung durch den betreffenden Mitgliedstaat erfahren haben. Werden bestimmte Maßnahmen im Anschluss an die Liberalisierung einer Tätigkeit durch gemeinschaftliche Rechtsvorschriften zu Beihilfen, so gelten derartige Maßnahmen nach dem für die Liberalisierung festgelegten Termin nicht als bestehende Beihilfen;

…“

4        Art. 15 („Frist“) dieser Verordnung sah vor:

„(1)      Die Befugnisse der Kommission zur Rückforderung von Beihilfen gelten für eine Frist von zehn Jahren.

(2)      Die Frist beginnt mit dem Tag, an dem die rechtswidrige Beihilfe dem Empfänger entweder als Einzelbeihilfe oder im Rahmen einer Beihilferegelung gewährt wird. Jede Maßnahme, die die Kommission oder ein Mitgliedstaat auf Antrag der Kommission bezüglich der rechtswidrigen Beihilfe ergreift, stellt eine Unterbrechung der Frist dar. Nach jeder Unterbrechung läuft die Frist von neuem an. Die Frist wird ausgesetzt, solange die Entscheidung der Kommission Gegenstand von Verhandlungen vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften ist.

(3)      Jede Beihilfe, für die diese Frist ausgelaufen ist, gilt als bestehende Beihilfe.“

 Italienisches Recht

5        Die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zuschüsse wurden Tirrenia, einem mit FTDM im Wettbewerb stehenden Unternehmen, gemäß der Legge n. 684 – Ristrutturazione dei servizi maritimi di preminente interesse nazionale (Gesetz Nr. 684 über die Umstrukturierung von Schifffahrtsunternehmen von herausragender nationaler Bedeutung) vom 20. Dezember 1974 (GURI Nr. 336 vom 24. Dezember 1974, im Folgenden: Gesetz Nr. 684) gewährt.

6        Art. 7 des Gesetzes Nr. 684 sieht Folgendes vor:

„Der Minister für die Handelsmarine kann im Einvernehmen mit dem Minister der Finanzen und dem Minister für die staatlichen Beteiligungen durch entsprechende jährliche Vereinbarung Zuschüsse für die Erbringung der im vorstehenden Artikel genannten Dienstleistungen gewähren.

Durch die Zuschüsse gemäß Abs. 1 ist innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren ein wirtschaftlich ausgeglichener Betrieb der Dienste zu gewährleisten; vorläufig sind die Zuschüsse auf der Grundlage der Nettoerträge, der Abschreibungen auf das Anlagevermögen, der Kosten des laufenden Betriebs, der Verwaltungskosten sowie der Finanzierungskosten zu veranschlagen.

…“

7        Art. 8 des Gesetzes Nr. 684 bestimmt:

„Die Fährverbindungen zu den größeren und kleineren Inseln gemäß Art. 1 Buchst. c sowie die möglichen technisch oder wirtschaftlich erforderlichen Verlängerungen müssen die Erfüllung der mit der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der betroffenen Regionen und insbesondere des Mezzogiorno verbundenen Anforderungen gewährleisten.

Der Minister für die Handelsmarine kann daher im Einvernehmen mit dem Minister der Finanzen und dem Minister für die staatlichen Beteiligungen durch entsprechende Vereinbarung Zuschüsse mit einer Laufzeit von 20 Jahren gewähren.“

8        Art. 9 des Gesetzes Nr. 684 lautet:

„In der Vereinbarung gemäß vorstehendem Artikel sind anzugeben:

1.      die Liste der zu gewährleistenden Verbindungen,

2.      die Häufigkeit jeder Verbindung,

3.      die jeder Verbindung zuzuteilenden Schiffstypen,

4.      der Zuschuss, der auf der Grundlage der Nettoerträge, der Abschreibungen auf das Anlagevermögen, der Kosten des laufenden Betriebs, der Verwaltungskosten und der Finanzierungskosten festzusetzen ist.

Spätestens zum 30. Juni jeden Jahres wird der Zuschuss für das laufende Jahr angepasst, wenn sich im vorangegangenen Jahr mindestens eine der in der Vereinbarung angegebenen wirtschaftlichen Komponenten um mehr als ein Zwanzigstel des Wertes geändert hat, der bei Festsetzung des vorangegangenen Zuschusses für diesen Posten zugrunde gelegt worden ist.“

9        Art. 18 des Gesetzes Nr. 684 lautet:

„Die durch Anwendung dieses Gesetzes entstehenden Kosten werden in Höhe von 93 Mrd. Lire durch die bereits in Kapitel 3061 des Ausgabenvoranschlags des Ministeriums der Handelsmarine für das Haushaltsjahr 1975 ausgewiesenen Mittel sowie durch die in den entsprechenden Kapiteln für die folgenden Haushaltsjahre ausgewiesenen Mittel gedeckt.“

10      Art. 19 des Gesetzes Nr. 684 lautet:

„Bis zur Genehmigung der in diesem Gesetz vorgesehenen Vereinbarungen verfügt der Minister für die Handelsmarine im Einvernehmen mit dem Minister der Finanzen monatlich nachschüssige Abschlagszahlungen, die zusammen 90 % des in Art. 18 genannten Gesamtbetrags nicht übersteigen.“

11      Nach Art. 7 des Dekrets des Präsidenten der Republik Nr. 501 vom 1. Juni 1979 (GURI Nr. 285 vom 18. Oktober 1979), das zur Durchführung des Gesetzes Nr. 684 erlassen wurde, werden die Abschlagszahlungen im Sinne von Art. 19 dieses Gesetzes bis zur Registrierung neuer Vereinbarungen durch die Corte dei conti (Rechnungshof, Italien) an Unternehmen von herausragender nationaler Bedeutung gezahlt.

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

12      Wie aus den Urteilen vom 13. Juni 2006, Traghetti del Mediterraneo (C‑173/03, EU:C:2006:391), und vom 10. Juni 2010, Fallimento Traghetti del Mediterraneo (C‑140/09, EU:C:2010:335), hervorgeht, handelt es sich bei FTDM und Tirrenia um zwei Seeschifffahrtsunternehmen, die in den Siebzigerjahren regelmäßige Fährverbindungen zwischen dem italienischen Festland und den Inseln Sardinien und Sizilien unterhielten.

13      Im Verlauf des Jahres 1981 verklagte FTDM Tirrenia beim Tribunale di Napoli (Gericht Neapel, Italien) auf Ersatz des Schadens, der ihr zwischen 1976 und 1980 aufgrund der von Tirrenia angewandten Niedrigpreispolitik entstanden sein soll. Tirrenia habe ihre beherrschende Stellung auf dem fraglichen Markt missbraucht, indem sie dank der Zahlung unionsrechtswidriger staatlicher Zuschüsse weit unter dem Gestehungspreis liegende Preise angewandt habe.

14      Die Klage von FTDM wurde mit Urteil des Tribunale di Napoli (Gericht Neapel) vom 26. Mai 1993 abgewiesen, das mit Urteil der Corte d’appello di Napoli (Appellationsgerichtshof Neapel, Italien) vom 13. Dezember 1996 bestätigt wurde.

15      Das dagegen eingelegte Rechtsmittel des Insolvenzverwalters von FTDM, die sich inzwischen in Liquidation befand, wurde mit Urteil der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) vom 19. April 2000 zurückgewiesen, die es insbesondere ablehnte, dem Antrag des Rechtsmittelführers nachzukommen, dem Gerichtshof Fragen zur Vereinbarkeit des Gesetzes Nr. 684 mit dem Unionsrecht vorzulegen, da die Entscheidung der Tatsachenrichter die einschlägigen Vorschriften beachte und mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Einklang stehe.

16      Mit Schriftsatz vom 15. April 2002 verklagte der Insolvenzverwalter von FTDM den italienischen Staat beim Tribunale di Genova (Gericht Genua, Italien) und machte die Haftung dieses Staates unter verschiedenen Gesichtspunkten geltend: in seiner Gesetzgebungsfunktion, weil er nach Maßgabe des Gesetzes Nr. 684 mit dem EWG-Vertrag unvereinbare Beihilfen gewährt habe, in seiner Rechtsprechungsfunktion, weil er mit dem Urteil der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) vom 19. April 2000 der Verpflichtung, den Gerichtshof mit Vorlagefragen zur Vereinbarkeit des Gesetzes Nr. 684 mit dem Unionsrecht zu befassen, nicht nachgekommen sei, und schließlich in seiner Verwaltungsfunktion, weil er es unterlassen habe, die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) über die Eröffnung eines Vertragsverletzungsverfahrens vor der Europäischen Kommission in Bezug auf dieses Gesetz zu unterrichten, und damit die Verpflichtungen zur loyalen Zusammenarbeit mit den europäischen Organen verletzt habe.

17      FTDM beantragte, den italienischen Staat zu verurteilen, an sie zum Ersatz des ihr entstandenen Schadens 9 240 000 Euro zu zahlen.

18      Am 14. April 2003 befasste das Tribunale di Genova (Gericht Genua) den Gerichtshof mit einem Vorabentscheidungsersuchen. Daraufhin erging das Urteil vom 13. Juni 2006, Traghetti del Mediterraneo (C‑173/03, EU:C:2006:391).

19      Im Anschluss an dieses Urteil stellte das Tribunale di Genova (Gericht Genua) mit Urteil vom 27. Februar 2009 fest, „dass der Staat in Ausübung der Gerichtsbarkeit eine Rechtsverletzung begangen [hat]“, und verfügte mit gesondertem Beschluss die Fortsetzung des Verfahrens bezüglich des Antrags auf Ersatz des wegen dieser Rechtsverletzung entstandenen Schadens. In diesem Verfahrensstadium rief das Gericht, das Zweifel an der Auslegung des Unionsrechts über staatliche Beihilfen hatte, den Gerichtshof erneut an.

20      Mit Urteil vom 10. Juni 2010, Fallimento Traghetti del Mediterraneo (C‑140/09, EU:C:2010:335), entschied der Gerichtshof, dass „[d]as Unionsrecht … dahin auszulegen [ist], dass Zuschüsse, die unter den das Ausgangsverfahren kennzeichnenden Umständen aufgrund nationaler Rechtsvorschriften gezahlt werden, die vor der Genehmigung einer Vereinbarung Abschlagszahlungen vorsehen, staatliche Beihilfen darstellen, wenn diese Zuschüsse geeignet sind, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, und den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen; dies zu prüfen ist Sache des nationalen Gerichts“.

21      Mit Urteil vom 30. Juli 2012 verurteilte das Tribunale di Genova (Gericht Genua) die Präsidentschaft des Ministerrats zur Zahlung von 2 330 355,78 Euro zuzüglich monetären Wertverlustausgleichs und der gesetzlichen Zinsen an FTDM als Ersatz für den aufgrund des rechtswidrigen Verhaltens des Staates in seiner Rechtsprechungsfunktion entstandenen Schaden.

22      Gegen diese Entscheidung legten die Präsidentschaft des Ministerrats Berufung und FTDM Anschlussberufung ein.

23      Mit Urteil vom 24. Juli 2014 hob die Corte di appello di Genova (Appellationsgerichtshof Genua, Italien) das Urteil auf und entschied in der Sache.

24      Dieses Gericht wies die auf die Haftung des italienischen Staates in seiner Rechtsprechungs- und Verwaltungsfunktion gestützten Schadensersatzanträge von FTDM zurück, gab gleichzeitig aber dem auf die Haftung des Staates in seiner Gesetzgebungsfunktion gestützten Schadensersatzantrag aufgrund der Verabschiedung des Gesetzes Nr. 684 durch das italienische Parlament statt. Es verurteilte den Staat folglich, an FTDM zum Ersatz des dieser Gesellschaft entstandenen Schadens 2 330 355,78 Euro zuzüglich des monetären Wertausgleichs und der gesetzlichen Zinsen zu zahlen.

25      Die Corte di appello di Genova (Appellationsgerichtshof Genua) ging insbesondere davon aus, dass die Tirrenia gewährten Zuschüsse geeignet gewesen seien, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, da „aufgrund der geografischen Nähe auf den von Tirrenia bedienten Routen Beförderer anderer Mitgliedstaaten (insbesondere [des Königreichs Spanien] und der [Französischen Republik]) hätten tätig werden können, die jedoch im Vergleich zu Tirrenia abschreckende Bedingungen vorgefunden hätten“.

26      Zudem sei von der Kommission in der Entscheidung 2001/851/EWG vom 21. Juni 2001 über eine staatliche Beihilfe Italiens zugunsten der Seeverkehrsgesellschaft Tirrenia di Navigazione (ABl. 2001, L 318, S. 9) festgestellt worden, dass Betreiber aus anderen Mitgliedstaaten auf den von Tirrenia bedienten Strecken präsent gewesen seien.

27      Außerdem fielen die in den fraglichen Jahren geleisteten Zuschüsse in Anbetracht ihres hohen Wertes, nämlich etwa 400 Mrd. italienische Lire (ITL), und des Umstands, dass Tirrenia auch internationale Verbindungen betreibe, unter die Verbotsregelung sogenannter Quersubventionen.

28      Unter diesen Umständen war die Corte d’appello di Genova (Appellationsgerichtshof Genua) der Auffassung, die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden staatlichen Beihilfen seien, da sie nicht vor Inkrafttreten des Vertrags zur Gründung des EWG-Vertrags gewährt worden seien, als neue Beihilfen anzusehen, die der Anmeldepflicht gemäß Art. 93 Abs. 3 des EWG-Vertrags unterlägen, so dass – mangels einer solchen Anmeldung – ein Verstoß gegen Unionsrecht vorliege.

29      Die Präsidentschaft des Ministerrats legte gegen dieses Urteil Kassationsbeschwerde beim vorlegenden Gericht ein und machte u. a. geltend, dass die Tirrenia gewährten Zuschüsse fälschlicherweise als neue Beihilfen und nicht als bestehende Beihilfen eingestuft worden seien.

30      Das vorlegende Gericht weist zunächst darauf hin, dass bei der rechtlichen Einstufung einer im Kontext eines nicht liberalisierten Marktes gezahlten staatlichen Beihilfe wie der im Ausgangsverfahren fraglichen als bestehende oder neue Beihilfe die zeitliche Anwendbarkeit von Art. 1 Buchst. b Ziff. v der Verordnung Nr. 659/1999 sowie sein Anwendungsbereich zu prüfen seien.

31      Sodann hebt dieses Gericht die Bedeutung eines der Merkmale des betreffenden Marktes hervor, nämlich seine fehlende Liberalisierung. So vertritt es die Ansicht, das Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften habe in Rn. 143 seines Urteils vom 15. Juni 2000, Alzetta u. a./Kommission (T‑298/97, T‑312/97, T‑313/97, T‑315/97, T‑600/97 bis T‑607/97, T‑1/98, T‑3/98 bis T‑6/98 und T‑23/98, EU:T:2000:151), einen Grundsatz aufgestellt, wonach eine Beihilferegelung für einen Markt, der ursprünglich dem Wettbewerb entzogen gewesen sei, bei der Liberalisierung dieses Marktes als bereits bestehende Beihilferegelung anzusehen sei. Dieser Grundsatz sei überdies vom Gerichtshof in den Rn. 66 bis 69 des Urteils vom 29. April 2004, Italien/Kommission (C‑298/00 P, EU:C:2004:240), bestätigt worden. Daher sei bei der rechtlichen Einstufung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zuschüsse als bestehende oder neue Beihilfen auch der Anwendungsbereich des genannten Grundsatzes zu prüfen.

32      Das vorlegende Gericht bemerkt allerdings auch, dass sich aus einer Reihe die Unternehmen der Gruppo Tirrenia di Navigazione betreffender Rechtssachen, in denen das Urteil des Gerichtshofs vom 10. Mai 2005, Italien/Kommission (C‑400/99, EU:C:2005:275), sowie die Urteile des Gerichts vom 20. Juni 2007, Tirrenia di Navigazione u. a./Kommission (T‑246/99, nicht veröffentlicht, EU:T:2007:186), und vom 4. März 2009, Tirrenia di Navigazione u. a./Kommission (T‑265/04, T‑292/04 und T‑504/04, nicht veröffentlicht, EU:T:2009:48), ergangen seien, ergebe, dass die fehlende Liberalisierung des Marktes für Seekabotage für die Einstufung einiger der in diesen Rechtssachen in Rede stehenden Maßnahmen als bestehende Beihilfen für irrelevant erachtet worden sei.

33      Schließlich wirft das vorlegende Gericht die Frage nach der Anwendbarkeit von Art. 1 Buchst. b Ziff. iv in Verbindung mit Art. 15 der Verordnung Nr. 659/1999 auf Zuschüsse auf, die vor dem Inkrafttreten dieser Verordnung gewährt wurden. Aus dem Urteil vom 16. April 2015, Trapeza Eurobank Ergasias (C‑690/13, EU:C:2015:235), ergebe sich, dass diese Bestimmungen auf Sachverhalte anwendbar sein könnten, die vor dem Inkrafttreten der Verordnung lägen.

34      Unter diesen Umständen hat die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Findet zur Einstufung dieser Beihilfen (als „bestehende“ und daher nicht „neue“) Art. 1 Buchst. b Ziff. v der Verordnung Nr. 659/1999 Anwendung (worin es heißt: „Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck ,bestehende Beihilfen‘ … v] Beihilfen, die als bestehende Beihilfen gelten, weil nachgewiesen werden kann, dass sie zu dem Zeitpunkt, zu dem sie eingeführt wurden, keine Beihilfe waren und später aufgrund der Entwicklung des Gemeinsamen Marktes zu Beihilfen wurden, ohne dass sie eine Änderung durch den betreffenden Mitgliedstaat erfahren haben. Werden bestimmte Maßnahmen im Anschluss an die Liberalisierung einer Tätigkeit durch gemeinschaftliche Rechtsvorschriften zu Beihilfen, so gelten derartige Maßnahmen nach dem für die Liberalisierung festgelegten Termin nicht als bestehende Beihilfen“), und falls ja, wie? Oder findet der Grundsatz (formal anderer Tragweite als der genannte positivrechtliche Grundsatz) Anwendung – und falls ja, wie –, den das Gericht mit Urteil vom 15. Juni 2000, Alzetta u. a./Kommission (T‑298/97, T‑312/97, T‑313/97, T‑315/97, T‑600/97 bis T‑607/97, T‑1/98, T‑3/98 bis T‑6/98 und T‑23/98, EU:T:2000:151, Rn. 143), aufgestellt hat, das – soweit für die hier zu erlassende Entscheidung relevant – vom Gerichtshof mit Urteil vom 29. April 2004, Italien/Kommission (C‑298/00 P, EU:C:2004:240, Rn. 66 bis 69), bestätigt worden ist und dem zufolge „eine Beihilferegelung für einen Markt, der ursprünglich dem Wettbewerb entzogen war, bei der Liberalisierung dieses Marktes als bereits bestehende Beihilferegelung anzusehen [ist], weil sie zum Zeitpunkt ihrer Einführung nicht in den Anwendungsbereich des Artikels 92 Absatz 1 EWG-Vertrag [später Art. 87 Abs. 1 EG-Vertrag, jetzt Art. 107 Abs. 1 AEUV] fiel, der wegen der in ihm genannten Voraussetzungen, nämlich der Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten und der Auswirkung auf den Wettbewerb, nur für die dem Wettbewerb geöffneten Wirtschaftszweige gilt“?

2.      Findet zur Einstufung der genannten Beihilfen Art. 1 Buchst. b Ziff. iv der Verordnung Nr. 659/1999 Anwendung – und falls ja, wie –, nach dem diejenigen Beihilfen „bestehende“ sind, „die gemäß Artikel 15 als bereits bestehende Beihilfen gelten“, wobei dieser Art. 15 für die Rückforderung rechtswidrig gewährter Beihilfen eine Verjährungsfrist von zehn Jahren bestimmt? Oder finden die vom Gerichtshof wiederholt bestätigten Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit Anwendung – und falls ja, wie (analog dem in der angeführten positivrechtlichen Vorschrift ausgedrückten Grundsatz oder nicht)?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

35      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Zuschüsse wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die einem Unternehmen vor der Liberalisierung des betreffenden Marktes gewährt wurden, allein aus dem Grund als bestehende Beihilfen eingestuft werden können, dass dieser Markt zum Zeitpunkt ihrer Gewährung nicht förmlich liberalisiert war.

36      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die Einstufung einer nationalen Maßnahme als staatliche Beihilfe verlangt, dass alle folgenden Voraussetzungen erfüllt sind. Erstens muss es sich um eine staatliche Maßnahme oder eine Maßnahme unter Inanspruchnahme staatlicher Mittel handeln. Zweitens muss die Maßnahme geeignet sein, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Drittens muss dem Begünstigten durch sie ein selektiver Vorteil gewährt werden. Viertens muss sie den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen (vgl. Urteil vom 21. Dezember 2016, Kommission/World Duty Free Group u. a., C‑20/15 P und C‑21/15 P, EU:C:2016:981, Rn. 53).

37      Dies vorausgeschickt ist zu prüfen, ob die betreffenden Zuschüsse in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in der der betreffende Markt noch nicht förmlich für den Wettbewerb geöffnet war, zum Zeitpunkt ihrer Gewährung staatliche Beihilfen darstellten, weil sie den Voraussetzungen einer Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten und einer Verfälschung des Wettbewerbs entsprachen.

38      Eine staatliche Beihilfe kann zwar grundsätzlich als bestehend verstanden werden, wenn festzustellen ist, dass sie zum Zeitpunkt ihrer Durchführung, u. a. wegen der fehlenden Liberalisierung auf dem betreffenden Markt, keine Beihilfe darstellte. Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass durch eine solche fehlende Liberalisierung nicht zwingend ausgeschlossen wird, dass eine Beihilfemaßnahme geeignet ist, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen und den Wettbewerb zu verfälschen oder zu verfälschen zu drohen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Juni 2010, Fallimento Traghetti del Mediterraneo, C‑140/09, EU:C:2010:335, Rn. 49).

39      Eine Beihilfe ist nämlich auch dann geeignet, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen und den Wettbewerb zu verfälschen oder zu verfälschen zu drohen, wenn der betreffende Markt dem Wettbewerb nur teilweise geöffnet ist.

40      Es genügt, dass auf dem betreffenden Markt bei Einführung einer Beihilfemaßnahme eine tatsächliche Wettbewerbssituation besteht, damit eine staatliche Maßnahme oder eine Maßnahme unter Inanspruchnahme staatlicher Mittel geeignet ist, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen und den Wettbewerb zu verfälschen oder zu verfälschen zu drohen.

41      Im vorliegenden Fall lässt sich, wie der Generalanwalt in Nr. 67 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, anhand des Umstands, dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Seekabotagemarkt erst weit nach Zahlung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zuschüsse im Verordnungswege liberalisiert wurde, nicht ausschließen, dass diese Zuschüsse vor der Liberalisierung Beihilfen darstellten, die die in Rn. 36 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen erfüllen.

42      Wie sich aus Rn. 50 des Urteils vom 10. Juni 2010, Fallimento Traghetti del Mediterraneo (C‑140/09, EU:C:2010:335), ergibt, kann weder ausgeschlossen werden, dass Tirrenia auf den fraglichen Binnenlinien im Wettbewerb zu Unternehmen anderer Mitgliedstaaten stand, noch, dass sie auf internationalen Linien mit solchen Unternehmen konkurrierte, noch dass mangels einer getrennten Buchführung für ihre verschiedenen Tätigkeiten die Gefahr von Quersubventionierungen bestand, d. h. die Gefahr, dass die Einnahmen aus ihrer Kabotagetätigkeit, für die die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zuschüsse vergeben worden sind, zugunsten ihrer Tätigkeit auf den internationalen Linien verwendet worden sind.

43      Daher lässt sich der dem Gerichtshof vorliegenden Akte entnehmen, dass der betreffende Markt, auch wenn er zur Zeit des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens nicht förmlich liberalisiert war, offensichtlich ein Wettbewerbsmarkt war und dass die Tirrenia gewährten Zuschüsse dazu geeignet waren, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen und den Wettbewerb zu verfälschen oder zu verfälschen zu drohen.

44      Unter diesen Voraussetzungen ist davon auszugehen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zuschüsse, soweit sie wegen Erfüllung aller hierzu erforderlichen Kriterien, insbesondere des Kriteriums, dass sie geeignet waren, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen und den Wettbewerb zu verfälschen oder zu verfälschen zu drohen – was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist –, zum Zeitpunkt ihrer Gewährung unter den Begriff der „staatlichen Beihilfe“ fielen, grundsätzlich nicht allein aus dem Grund als bestehende Beihilfen eingestuft werden können, dass der betreffende Markt nicht förmlich liberalisiert war.

45      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Zuschüsse wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die einem Unternehmen vor der Liberalisierung des betreffenden Marktes gewährt wurden, wenn sie geeignet waren, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen und den Wettbewerb zu verfälschen oder zu verfälschen zu drohen, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist, nicht allein aus dem Grund als bestehende Beihilfen eingestuft werden können, dass dieser Markt zum Zeitpunkt ihrer Gewährung nicht förmlich liberalisiert war.

 Zur zweiten Frage

46      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Art. 1 Buchst. b Ziff. iv der Verordnung Nr. 659/1999 für die Einstufung der fraglichen Zuschüsse als bestehende Beihilfen oder als neue Beihilfen anzuwenden ist oder ob die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit als Grundlage heranzuziehen sind.

47      Zunächst ist zur Anwendbarkeit von Art. 1 Buchst. b Ziff. iv der Verordnung Nr. 659/1999 in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden erstens festzustellen, dass der in dieser Bestimmung genannte Begriff der „bestehenden Beihilfen“ offenbar eng mit der Rolle sowie den Aufgaben und den spezifischen, der Kommission im Rahmen des Systems zur Kontrolle staatlicher Beihilfen verliehenen Befugnissen verknüpft ist.

48      Insoweit ist zu beachten, dass der Ausdruck „bestehende Beihilfen“ nach dieser Bestimmung Beihilfen bezeichnet, die gemäß Art. 15 der Verordnung Nr. 659/1999 als bestehende Beihilfen gelten.

49      Gemäß Art. 15 Abs. 3 der Verordnung gilt jede Beihilfe, für die die Frist von zehn Jahren ausgelaufen ist, als bestehende Beihilfe.

50      Art. 15 Abs. 2 der Verordnung sieht seinerseits vor, dass jede Maßnahme, die die Kommission oder ein Mitgliedstaat auf Antrag der Kommission bezüglich einer rechtswidrigen Beihilfe ergreift, eine Unterbrechung der Frist darstellt und dass die Frist nach jeder Unterbrechung von Neuem anläuft.

51      Aus dem Wortlaut dieser Bestimmungen ergibt sich, dass die Einstufung einer staatlichen Beihilfe als bestehende Beihilfe im Sinne von Art. 1 Buchst. b Ziff. iv der Verordnung grundsätzlich von der Frage abhängt, ob die Kommission innerhalb der Verjährungsfrist Maßnahmen hinsichtlich der betreffenden Beihilfe ergriffen hat.

52      Nach Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 gelten die Befugnisse der Kommission zur Rückforderung staatlicher Beihilfen ihrerseits für eine Frist von zehn Jahren.

53      Zweitens ist hervorzuheben, dass den nationalen Gerichten im Rahmen des Systems zur Kontrolle staatlicher Beihilfen eine besondere Rolle zukommt und sie gegenüber der Kommission über einen gewissen Grad an Unabhängigkeit verfügen, insbesondere, wenn sie mit einer Schadensersatzklage befasst werden und keine Entscheidung der Kommission vorliegt.

54      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs obliegt die Durchführung dieses Kontrollsystems zum einen der Kommission und zum anderen den nationalen Gerichten, wobei ihnen ergänzende, aber unterschiedliche Rollen zufallen (Urteil vom 21. November 2013, Deutsche Lufthansa, C‑284/12, EU:C:2013:755, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

55      Insbesondere ist die Kommission unter der Kontrolle der Unionsgerichte für die Beurteilung der Vereinbarkeit von Beihilfemaßnahmen mit dem Gemeinsamen Markt ausschließlich zuständig; demgegenüber wachen die nationalen Gerichte über die Wahrung der Rechte des Einzelnen bei Verstößen gegen die Verpflichtung aus Art. 93 Abs. 3 EWG-Vertrag, staatliche Beihilfen der Kommission im Voraus zu melden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Oktober 2006, Transalpine Ölleitung in Österreich, C‑368/04, EU:C:2006:644, Rn. 38).

56      Die nationalen Gerichte können in Erfüllung ihrer Aufgabe dazu gehalten sein, Klagen auf Ersatz von Schäden stattzugeben, die den Wettbewerbern des Begünstigten durch eine rechtswidrige staatliche Beihilfe entstanden sind.

57      Die nationalen Gerichte genießen nämlich, wie der Generalanwalt in den Nrn. 82 bis 84 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, im Rahmen solcher Schadensersatzklagen bei der Ausübung ihrer Funktionen der Wahrung der Rechte des Einzelnen eine gewisse Unabhängigkeit im Verhältnis zu Maßnahmen der Kommission, so dass Schadensersatz grundsätzlich unabhängig davon gefordert werden kann, ob die in Rede stehende Beihilfemaßnahme zugleich Gegenstand einer Untersuchung der Kommission ist.

58      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann dabei die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens für staatliche Beihilfen die nationalen Gerichte nicht von ihrer Verpflichtung entbinden, die Rechte der Einzelnen gegenüber einem eventuellen Verstoß gegen Art. 93 Abs. 3 EWG-Vertrag zu schützen (Urteil vom 21. November 2013, Deutsche Lufthansa, C‑284/12, EU:C:2013:755, Rn. 32).

59      Ebenso ist zum Grad der Unabhängigkeit der nationalen Gerichte darauf hinzuweisen, dass eine Entscheidung der Kommission, mit der eine nicht angemeldete Beihilfe für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt wird, nicht die Heilung der unter Verstoß gegen das Verbot von Art. 93 Abs. 3 EWG-Vertrag ergangenen und deshalb ungültigen Durchführungsmaßnahmen zur Folge hat, da sie andernfalls die unmittelbare Wirkung dieser Vorschrift beeinträchtigen und die Interessen der Einzelnen, deren Wahrung Aufgabe der nationalen Gerichte ist, verletzen würde. Jede andere Auslegung würde die Missachtung dieser Vorschrift durch den betreffenden Mitgliedstaat begünstigen und der Vorschrift ihre praktische Wirksamkeit nehmen (Urteil vom 5. Oktober 2006, Transalpine Ölleitung in Österreich, C‑368/04, EU:C:2006:644, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

60      Gelingt einem Kläger vor dem nationalen Gericht der Nachweis, dass er einen Schaden erlitten hat, der durch das vorzeitige Wirksamwerden einer staatlichen Beihilfe und, genauer, durch den rechtswidrigen zeitlichen Vorteil entstanden ist, den der Begünstigte daraus gezogen hat, so kann der Schadensersatzklage folglich auch dann stattgegeben werden, wenn die Kommission die betreffende Beihilfe im Zeitpunkt der Entscheidung des nationalen Gerichts über die Klage bereits genehmigt haben sollte.

61      Aus den in den Rn. 47 bis 60 des vorliegenden Urteils aufgeführten Erwägungen ergibt sich in Anbetracht der Rolle, die den nationalen Gerichten im System der Kontrolle der staatlichen Beihilfen zukommt, sowie ihres Grades an Unabhängigkeit im Verhältnis zur Kommission, insbesondere, wenn sie mit einer Schadensersatzklage befasst sind und keine Entscheidung der Kommission vorliegt, dass das Verstreichen der in Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 vorgesehenen Frist von zehn Jahren – wie der Generalanwalt in Nr. 91 seiner Schlussanträge dargelegt hat – lediglich die Befugnisse der Kommission zur Rückforderung staatlicher Beihilfen in zeitlicher Hinsicht beschränkt.

62      Daher kann das Verstreichen der in Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 vorgesehenen Frist von zehn Jahren nicht zur Folge haben, dass rechtswidrige Beihilfen allein deshalb, weil sie zu bestehenden Beihilfen im Sinne von Art. 1 Buchst. b Ziff. v werden, rückwirkend legalisiert werden und dadurch einer Schadensersatzklage von Einzelpersonen und durch die Gewährung der rechtswidrigen Beihilfe beeinträchtigten Wettbewerbern gegen den betreffenden Mitgliedstaat jede rechtliche Grundlage entzogen wird.

63      Jede andere Auslegung würde darauf hinauslaufen, den Umfang der Pflicht der Mitgliedstaaten zur Anmeldung von Beihilfemaßnahmen zu verringern und somit Art. 93 Abs. 3 des EWG-Vertrags seine praktische Wirksamkeit zu nehmen, insbesondere wenn diese Bestimmung keinerlei Bezugnahme auf die Rolle, die Aufgaben und die spezifischen Befugnisse der Kommission enthält.

64      Zu den auf das Urteil vom 16. April 2015, Trapeza Eurobank Ergasias, (C‑690/13, EU:C:2015:235), gestützten Zweifeln des vorlegenden Gerichts an der Anwendbarkeit von Art. 1 Buchst. b Ziff. iv der Verordnung Nr. 659/1999 für die Einstufung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zuschüsse als bestehende oder als neue Beihilfen ist hervorzuheben, dass die Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, wie der Generalanwalt in Nr. 102 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, keine Schadensersatzklage betraf, sondern die Frage, ob nationale Vorschriften, mit denen Vorrechte eingeführt worden waren, die mit den Unionsregeln auf dem Gebiet der staatlichen Beihilfen möglicherweise unvereinbar waren, nach Art. 88 Abs. 3 EG anzumelden seien, und, bejahendenfalls, ob diese Vorschriften unangewendet zu lassen seien.

65      Aus dieser Rechtsprechung lässt sich daher kein Argument für die Annahme herleiten, dass die in Art. 1 Buchst. b Ziff. iv der Verordnung Nr. 659/1999 genannte Definition der „bestehenden Beihilfen“ im Rahmen einer Schadensersatzklage wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden anwendbar wäre.

66      Zudem ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 659/1999, soweit sie Vorschriften verfahrensrechtlicher Art enthält, die auf alle bei der Kommission anhängigen, staatliche Beihilfen betreffenden Verwaltungsverfahren anwendbar sind, die Praxis der Kommission auf dem Gebiet der Prüfung staatlicher Beihilfen kodifiziert und verstärkt. Sie enthält keine Vorschrift über die Befugnisse und Verpflichtungen der nationalen Gerichte, für die weiter die Bestimmungen des Vertrags in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof gelten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Oktober 2006, Transalpine Ölleitung in Österreich, C‑368/04, EU:C:2006:644, Rn. 34 und 35).

67      Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die Definition des Begriffs der „bestehenden Beihilfen“ in Art. 1 Buchst. b Ziff. iv der Verordnung Nr. 659/1999 nicht für eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende gilt.

68      Sodann ist zur Einwendbarkeit des Grundsatzes des Vertrauensschutzes darauf zu verweisen, dass sich niemand auf diesen Grundsatz berufen kann, der gegen das geltende Recht verstoßen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Juli 2005, ThyssenKrupp/Kommission, C‑65/02 P und C‑73/02 P, EU:C:2005:454, Rn. 41).

69      Diese Feststellung gilt, wie der Generalanwalt in Nr. 109 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, umso mehr gegenüber staatlichen Einrichtungen, die unter Verstoß gegen das in Art. 93 Abs. 3 des EWG-Vertrags vorgesehene Verfahren eine staatliche Beihilfe gewährt haben.

70      Daraus folgt, dass sich staatliche Einrichtungen in Fällen, in denen Zuschüsse unter Verstoß gegen die in Art. 93 Abs. 3 des EWG-Vertrags bestimmte Pflicht zur vorherigen Anmeldung gewährt wurden, nicht auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes berufen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Dezember 2005, UniCredito Italiano, C‑148/04, EU:C:2005:774, Rn. 104).

71      Zur Anwendung des Grundsatzes der Rechtssicherheit in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ist schließlich darauf hinzuweisen, dass Verjährungsfristen allgemein den Zweck erfüllen, Rechtssicherheit zu gewährleisten (Urteil vom 13. Juni 2013, Unanimes u. a., C‑671/11 bis C‑676/11, EU:C:2013:388, Rn. 31). Um ihren Zweck, die Rechtssicherheit zu gewährleisten, zu erfüllen, müssen diese Verjährungsfristen im Voraus festgelegt sein, und jede „entsprechende“ Anwendung einer Verjährungsfrist muss für den Betroffenen hinreichend vorhersehbar sein (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Mai 2011, Ze Fu Fleischhandel und Vion Trading, C‑201/10 und C‑202/10, EU:C:2011:282, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

72      Insoweit sind mangels einer einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Regelung die Bestimmung der zuständigen Gerichte und die Ausgestaltung des Verfahrens für die Klagen, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, Sache der nationalen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten; dabei dürfen freilich diese Bedingungen nicht weniger günstig sein als diejenigen, die Rechte betreffen, die ihren Ursprung in der innerstaatlichen Rechtsordnung haben (Äquivalenzgrundsatz), und sie dürfen die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (Urteil vom 5. Oktober 2006, Transalpine Ölleitung in Österreich, C‑368/04, EU:C:2006:644, Rn. 45).

73      Somit sind im vorliegenden Fall ausschließlich die Verjährungsregeln des nationalen Rechts in ihrer Auslegung gemäß dem Effektivitäts- und dem Äquivalenzgrundsatz anwendbar.

74      In diesem Zusammenhang stünde eine entsprechende Anwendung der in Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 vorgesehenen Frist von zehn Jahren auf eine Schadensersatzklage, die ein Wettbewerber der von den staatlichen Beihilfen begünstigten Gesellschaft gegen den betreffenden Mitgliedstaat erhoben hat, im Widerspruch zum Grundsatz der Rechtssicherheit.

75      Einem Einzelnen kann nämlich eine in einer Bestimmung festgelegte Verjährungsfrist, die lediglich darauf abzielt, die Befugnisse der Kommission zur Rückforderung staatlicher Beihilfen zeitlich zu begrenzen, nicht entgegengehalten werden. Der Ablauf einer solchen Frist kann der Geltendmachung einer Haftung des Staates für einen Verstoß gegen die in Art. 93 Abs. 3 des EWG-Vertrags vorgesehene Pflicht zur vorherigen Anmeldung vor dem nationalen Gericht nicht entgegenstehen.

76      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 1 Buchst. b Ziff. iv der Verordnung Nr. 659/1999 dahin auszulegen ist, dass er auf eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht anwendbar ist. Soweit die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zuschüsse unter Verstoß gegen die in Art. 93 des EWG-Vertrags bestimmte Pflicht zur vorherigen Anmeldung gewährt wurden, können sich die staatlichen Behörden nicht auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes berufen. In einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in der ein Wettbewerber der begünstigten Gesellschaft eine Schadensersatzklage gegen den Mitgliedstaat erhoben hat, darf nach dem Grundsatz der Rechtssicherheit dem Kläger nicht in entsprechender Anwendung eine Verjährungsfrist wie die in Art. 15 Abs. 1 dieser Verordnung festgesetzte entgegengehalten werden.

 Kosten

77      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

1.      Zuschüsse wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die einem Unternehmen vor der Liberalisierung des betreffenden Marktes gewährt wurden, können, wenn sie geeignet waren, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen und den Wettbewerb zu verfälschen oder zu verfälschen zu drohen, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist, nicht allein aus dem Grund als bestehende Beihilfen eingestuft werden, dass dieser Markt zum Zeitpunkt ihrer Gewährung nicht förmlich liberalisiert war.

2.      Art. 1 Buchst. b Ziff. iv der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom 22. März 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [108 AEUV] ist dahin auszulegen, dass er auf eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht anwendbar ist.Soweit die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zuschüsse unter Verstoß gegen die in Art. 93 des EWG-Vertrags bestimmte Pflicht zur vorherigen Anmeldung gewährt wurden, können sich die staatlichen Behörden nicht auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes berufen. In einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in der ein Wettbewerber der begünstigten Gesellschaft eine Schadensersatzklage gegen den Mitgliedstaat erhoben hat, darf nach dem Grundsatz der Rechtssicherheit dem Kläger nicht in entsprechender Anwendung eine Verjährungsfrist wie die in Art. 15 Abs. 1 dieser Verordnung festgesetzte entgegengehalten werden.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Italienisch.

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