Schlussantrag des Generalanwalts vom Europäischer Gerichtshof - C-704/17
Vorläufige Fassung
SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN
ELEANOR SHARPSTON
vom 31. Januar 2019(1)
Rechtssache C‑704/17
D. H.
Weiterer Beteiligter:
Ministerstvo vnitra (Innenministerium, Tschechische Republik)
(Vorabentscheidungsersuchen des Nejvyšší správní soud [Oberstes Verwaltungsgericht, Tschechische Republik])
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 6 und 47 – Gemeinsame Asylpolitik und subsidiärer Schutz – Richtlinie 2013/33/EU – Art. 9 – Garantien für Antragsteller auf internationalen Schutz, die in Haft genommen wurden – Gerichtliche Überprüfung von Haftanordnungen – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf – Nationale Bestimmung, dass die gerichtliche Überprüfung eingestellt werden muss, wenn der Antragsteller auf internationalen Schutz freigelassen wird“
1. Mit dieser Vorlage auf Vorabentscheidung ersucht der Nejvyšší správní soud (Oberstes Verwaltungsgericht, Tschechische Republik) den Gerichtshof um Auslegung der Bestimmungen der Richtlinie 2013/33/EU(2) über die Garantien für Antragsteller auf internationalen Schutz, die aufgrund einer Anordnung der zuständigen Behörden in Haft genommen wurden. Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob diese Richtlinie im Licht der Charta der Grundrechte der Europäischen Union(3), insbesondere der darin verankerten Rechte auf Freiheit und Sicherheit sowie auf einen wirksamen Rechtsbehelf, nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, nach denen Gerichtsverfahren, mit denen die Inhaftnahme angefochten wird, eingestellt werden müssen, wenn die betreffende Person aus der Haft freigelassen wird.
2. Der Gerichtshof wird die Frage des vorlegenden Gerichts u. a. anhand des Grundrechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf in Verbindung mit den allgemeinen unionsrechtlichen Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität im Kontext der nationalen Verfahrensautonomie prüfen.
Die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK)
3. Nach Art. 5 Abs. 1 EMRK(4) hat „[j]ede Person … das Recht auf Freiheit und Sicherheit“. Art. 5 Abs. 4 bestimmt, dass „[j]ede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, … das Recht [hat] zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist“. Nach Art. 5 Abs. 5 hat „[j]ede Person, die unter Verletzung dieses Artikels von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist, … Anspruch auf Schadensersatz“.
Unionsrecht
Charta
4. Nach Art. 6 der Charta hat „[j]eder Mensch das Recht auf Freiheit und Sicherheit“(5). Die übrigen Bestimmungen des Art. 5 EMRK werden nicht besonders wiedergegeben.
5. Nach Art. 47 Abs. 1 hat jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht, bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen(6).
6. Nach Art. 51 Abs. 1 der Charta gelten deren Bestimmungen für die Mitgliedstaaten „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“.
7. Art. 52 Abs. 1 lautet: „Jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.“ Art. 52 Abs. 3 bestimmt: „Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die [EMRK] garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.“ Art. 52 Abs. 7 bestimmt, dass die Gerichte der Union und der Mitgliedstaaten „[d]ie Erläuterungen, die als Anleitung für die Auslegung [der] Charta verfasst wurden, … von den Gerichten der Union und der Mitgliedstaaten gebührend zu berücksichtigen [sind]“(7).
8. In den Erläuterungen wird klargestellt, dass „[d]ie Rechte nach Artikel 6 … den Rechten [entsprechen], die durch Artikel 5 EMRK garantiert sind, denen sie nach Artikel 52 Absatz 3 der Charta an Bedeutung und Tragweite gleichkommen“. Demgemäß dürfen „[d]ie Einschränkungen, die legitim an diesen Rechten vorgenommen werden können, … daher nicht über die Einschränkungen hinausgehen, die im Rahmen … [der] EMRK zulässig sind“. Die Erläuterungen machen deutlich, dass der in Art. 47 der Charta garantierte Schutz umfassender ist als der in Art. 13 der EMRK vorgesehene, da er das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem Gericht garantiert.
Richtlinie 2013/32
9. Art. 26 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes(8) lautet: „Wird ein Antragsteller in Gewahrsam genommen, so stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass eine rasche gerichtliche Überprüfung des Gewahrsams gemäß der Richtlinie 2013/33/EU möglich ist.“
Richtlinie 2013/33
10. In den Erwägungsgründen der Richtlinie 2013/33 wird Folgendes ausgeführt.
– Der Europäische Rat nahm das Stockholmer Programm an(9), in dem erneut die Verpflichtung zu dem Ziel bekräftigt wird, auf der Grundlage hoher Schutzstandards sowie fairer und wirksamer Verfahren einen gemeinsamen Raum des Schutzes und der Solidarität zu schaffen, der auf einem gemeinsamen Asylverfahren und einem einheitlichen Status für Personen, denen internationaler Schutz gewährt wird, beruht (5. Erwägungsgrund).
– In Bezug auf die Behandlung von Personen, die unter diese Richtlinie fallen, sind die Mitgliedstaaten gehalten, ihren Verpflichtungen aus völkerrechtlichen Instrumenten nachzukommen, denen sie beigetreten sind (10. Erwägungsgrund).
– Solche Personen dürfen nur in sehr klar definierten außergewöhnlichen Umständen, die in der Richtlinie 2013/33 festgelegt sind, in Haft genommen werden unter Beachtung der Grundsätze der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit in Bezug auf die Art und Weise und den Zweck der Inhaftnahme. Befindet sich ein Antragsteller auf internationalen Schutz in Haft, sollte er wirksamen Zugang zu den erforderlichen Verfahrensgarantien, beispielsweise zur Einlegung eines Rechtsbehelfs bei einer nationalen Justizbehörde haben (15. Erwägungsgrund).
– Die Richtlinie 2013/33 steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden. Sie zielt vor allem darauf ab, u. a. die Anwendung der Art. 6 und 47 der Charta zu fördern, und muss entsprechend umgesetzt werden (35. Erwägungsgrund).
11. Art. 2 enthält u. a. folgende Definitionen: Ein „Antrag auf internationalen Schutz“ bezeichnet „das Ersuchen eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen um Schutz durch einen Mitgliedstaat, bei dem davon ausgegangen werden kann, dass er die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung des subsidiären Schutzstatus anstrebt, und der nicht ausdrücklich um eine andere, gesondert zu beantragende Form des Schutzes außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie 2011/95/EU ersucht“(10). „Antragsteller“ bezeichnet „einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, über den noch nicht endgültig entschieden wurde“(11). „Haft“ bezeichnet „die räumliche Beschränkung eines Antragstellers durch einen Mitgliedstaat auf einen bestimmten Ort, an dem der Antragsteller keine Bewegungsfreiheit hat“(12).
12. Art. 3 bestimmt, dass die Richtlinie 2013/33 „für alle Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen [gilt], die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze, in den Hoheitsgewässern oder in den Transitzonen internationalen Schutz beantragen, solange sie als Antragsteller im Hoheitsgebiet verbleiben dürfen …“.
13. Nach Art. 4 können die Mitgliedstaaten günstigere Bestimmungen für die Aufnahme von Antragstellern erlassen.
14. Art. 8 regelt die materiellen Bedingungen für die Inhaftnahme von Antragstellern auf internationalen Schutz. Antragsteller dürfen nur aus den in Art. 8 Abs. 3 angegebenen Gründen in Haft genommen werden. Nach Art. 8 Abs. 3 Buchst. d können die Mitgliedstaaten insbesondere eine Person, die um internationalen Schutz ersucht, im Rahmen eines Rückführungsverfahrens gemäß der Richtlinie 2008/115/EG(13) in Haft nehmen „zur Vorbereitung seiner Rückführung und/oder Fortsetzung des Abschiebungsverfahrens“, wenn der betreffende Mitgliedstaat „auf der Grundlage objektiver Kriterien, einschließlich der Tatsache, dass der Antragsteller bereits Gelegenheit zum Zugang zum Asylverfahren hatte, belegen kann, dass berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass er den Antrag auf internationalen Schutz nur beantragt, um die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung zu verzögern oder zu vereiteln“. Die Haftgründe werden im einzelstaatlichen Recht geregelt.
15. Art 9 („Garantien für in Haft befindliche Antragsteller“) lautet:
„1. Ein Antragsteller wird für den kürzest möglichen Zeitraum und nur so lange in Haft genommen, wie die in Artikel 8 Absatz 3 genannten Gründe gegeben sind.
…
2. Die Haft der Antragsteller wird von einer Justiz- oder Verwaltungsbehörde schriftlich angeordnet. In der Anordnung werden die sachlichen und rechtlichen Gründe für die Haft angegeben.
3. Wird die Haft von einer Verwaltungsbehörde angeordnet, so sorgen die Mitgliedstaaten von Amts wegen und/oder auf Antrag des Antragstellers für eine zügige gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme. Findet eine derartige Überprüfung von Amts wegen statt, so wird so schnell wie möglich nach Beginn der Haft entschieden. Findet die Überprüfung auf Antrag des Antragstellers statt, so wird über sie so schnell wie möglich nach Einleitung des diesbezüglichen Verfahrens entschieden. Zu diesem Zweck legen die Mitgliedstaaten in ihrem einzelstaatlichen Recht die Frist fest, in der die gerichtliche Überprüfung von Amts wegen und/oder die gerichtliche Überprüfung auf Antrag des Antragstellers durchzuführen ist.
Falls sich die Haft infolge der gerichtlichen Überprüfung als unrechtmäßig herausstellt, wird der betreffende Antragsteller unverzüglich freigelassen.
4. In Haft befindliche Antragsteller werden unverzüglich schriftlich und in einer Sprache, die sie verstehen, oder von der vernünftigerweise angenommen werden darf, dass sie sie verstehen, über die Gründe für die Haft und die im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen Verfahren für die Anfechtung der Haftanordnung sowie über die Möglichkeit informiert, unentgeltlich Rechtsberatung und ‑vertretung in Anspruch zu nehmen.
5. Die Haft wird in angemessenen Zeitabständen von Amts wegen und/oder auf Antrag des betroffenen Antragstellers von einer Justizbehörde überprüft, insbesondere wenn sie von längerer Dauer ist oder sich maßgebliche Umstände ergeben oder neue Informationen vorliegen, die sich auf die Rechtmäßigkeit der Haft auswirken könnten.
6. Im Falle einer gerichtlichen Überprüfung der Haftanordnung nach Absatz 3 sorgen die Mitgliedstaaten dafür, dass der Antragsteller unentgeltliche Rechtsberatung und ‑vertretung in Anspruch nehmen kann. Die Rechtsberatung und ‑vertretung umfasst zumindest die Vorbereitung der erforderlichen Verfahrensdokumente und die Teilnahme an der Verhandlung im Namen des Antragstellers vor den Justizbehörden.
…“
Anwendbares nationales Recht
16. Das vorlegende Gericht teilt mit, dass die Vorschriften über die gerichtliche Überprüfung der Inhaftnahme in § 46a Abs. 6 bis 9 des Zákon č. 325/1999 Sb., o azylu (Gesetz Nr. 325/1999 Slg., im Folgenden: Asylgesetz Nr. 325/1999) Antragstellern die Möglichkeit gab, eine Haftanordnung innerhalb von 30 Tagen nach Zustellung der Anordnung anzufechten. Der Krajský soud (Regionalgericht, Tschechische Republik) – das erstinstanzliche Gericht – konnte über die Klage innerhalb von sieben Arbeitstagen ab Zustellung der Verwaltungsakte an das Gericht entscheiden. Gegen das ergehende Urteil konnte beim vorlegenden Gericht Kassationsbeschwerde eingelegt werden.
17. Mit Wirkung vom 15. August 2017 wurde § 46a Abs. 9 des Asylgesetzes Nr. 325/1999 durch das Gesetz Nr. 222/2017 Slg. geändert. Gemäß der neuen Fassung von § 46a Abs. 9(14) hat das Gericht (nach den Angaben in dem Vorlagebeschluss) nunmehr das bei ihm anhängige Verfahren automatisch einzustellen, wenn der Antragsteller auf internationalen Schutz vor Verkündung der Entscheidung über seine Anfechtungsklage gegen die Inhaftnahme aus der Haft freigelassen wird. Über die Freilassung des Antragstellers haben die zuständigen Behörden das betreffende Gericht unverzüglich zu unterrichten. Dieses gilt für das erstinstanzliche Verfahren und entsprechend auch für das Kassationsverfahren vor dem vorlegenden Gericht.
Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefrage
18. Am 20. März 2017 wurde festgestellt, dass sich Herr D. H. ohne gültige Reisedokumente oder Aufenthaltsgenehmigung im Hoheitsgebiet der Tschechischen Republik aufhielt. Er erhielt eine Ausweisungsverfügung mit Einreiseverbot und wurde zum Zweck der Abschiebung in Haft genommen. Herr D. H. beantragte internationalen Schutz im Hoheitsgebiet der Tschechischen Republik. Mit Anordnung vom 28. März 2017 wurde er von der zuständigen Behörde mit der Begründung in Haft behalten, dass er den Antrag auf internationalen Schutz lediglich mit dem Ziel gestellt habe, seinen Aufenthalt zu legalisieren und der Ausweisung aus der Tschechischen Republik zu entgehen (im Folgenden: Haftanordnung).
19. Herr D. H. erhob gegen die Haftanordnung Anfechtungsklage vor dem Krajský soud (Regionalgericht). Die Klage wurde am 4. Juli 2017 als unbegründet abgewiesen. Am 16. August 2017, also einen Tag nach dem Inkrafttreten der in Rede stehenden nationalen Maßnahme, legte Herr D. H. Kassationsbeschwerde beim vorlegenden Gericht ein.
20. Zwischenzeitlich, am 5. April 2017, hatte Herr D. H. seinen Antrag auf internationalen Schutz zurückgezogen. Daraufhin wurde er aus der Haft freigelassen; er verließ freiwillig das Hoheitsgebiet der Tschechischen Republik und reiste in die Republik Belarus. Die zuständige Behörde unterrichtete das vorlegende Gericht über seine Freilassung aus der Haft und beantragte gemäß der in Rede stehenden nationalen Maßnahme die Einstellung des beim vorlegenden Gericht anhängigen Kassationsverfahrens.
21. Vor diesem Hintergrund fragt das vorlegende Gericht:
Steht die Auslegung von Art. 9 der Richtlinie 2013/33/EU in Verbindung mit den Art. 6 und 47 der Charta einer innerstaatlichen rechtlichen Regelung entgegen, die es dem vorlegenden Gericht verwehrt, eine Gerichtsentscheidung in Sachen der Inhaftnahme eines Ausländers zu überprüfen, nachdem der Ausländer aus der Haft entlassen wurde?
22. Die Tschechische Republik und die Kommission haben schriftliche Stellungnahmen eingereicht. Die Rechtssache ist der Großen Kammer zugewiesen worden. Unbeschadet der Bedeutung der Rechtsfrage wurde eine mündliche Verhandlung nicht für notwendig befunden.
Bewertung
Zulässigkeit
23. Es entspricht ständiger Rechtsprechung, dass in Verfahren nach Art. 267 AEUV das nationale Gericht, das allein über unmittelbare Kenntnis des zugrunde liegenden Sachverhalts verfügt, die besten Voraussetzungen besitzt, um unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Rechtssache die Notwendigkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen.
24. Herr D. H. wurde aus der Haft freigelassen (und verließ anschließend das Hoheitsgebiet der Tschechischen Republik). Der Gerichtshof hat von Amts wegen die Frage zu prüfen, ob das vorlegende Gericht um ein allgemeines Gutachten ersucht oder die Klärung einer hypothetischen Frage wünscht, was die Vorlage unzulässig machen würde(15).
25. Meines Erachtens ist das nicht der Fall. Aus dem Vorlagebeschluss geht hervor, dass die Haftanordnung als solche nicht aufgehoben wurde und dass der Antragsteller nach nationalem Recht, bevor er Schadensersatz wegen unrechtmäßiger Haft geltend machen kann, eine Aufhebung der Haftanordnung erwirken muss. Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass eine automatische Verfahrenseinstellung den Antragsteller um das Recht auf einen derartigen Schadensersatz bringen würde. Die tschechische Regierung widerspricht dieser Rechtsauffassung.
26. Es ist nicht Sache des Gerichtshofs über die Anwendbarkeit nationaler Vorschriften zur Entscheidung eines Ausgangsverfahrens zu befinden. Der Gerichtshof hat vielmehr im Rahmen der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den Unionsgerichten und den nationalen Gerichten den rechtlichen Kontext der Vorabentscheidungsfrage, wie er in der Vorlageentscheidung definiert ist, zu berücksichtigen(16). Der Gerichtshof ist jedoch befugt, dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die es diesem ermöglichen, für die Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache über die Frage der Vereinbarkeit zu befinden(17).
27. Da es nicht ausgeschlossen ist, dass Herr D. H. das Verfahren zur Aufhebung der Haftanordnung fortsetzen möchte und da das vorlegende Gericht der Auffassung ist, dass die Antwort, die der Gerichtshof auf die Vorlagefrage gibt, für seine Prüfungen im Ausgangsverfahren relevant ist, hat der Gerichtshof meines Erachtens über diese Frage zu befinden.
Allgemeine Bemerkungen
28. Es ist unstreitig, dass Herr D. H. einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat und dass er daher Antragsteller im Sinne der Richtlinie 2013/33 ist(18). Unstreitig ist auch, dass er infolge der Haftanordnung im Sinne des Art. 2 Buchst. h dieser Richtlinie in Haft genommen wurde.
29. Das vorlegende Gericht führt aus, dass die vor dem 15. August 2017 geltende Fassung des nationalen Gesetzes auf das erstinstanzliche Verfahren gegen die Haftanordnung Anwendung gefunden habe, dass aber nun die geänderte Fassung dieser Bestimmung, die eine automatische Einstellung erforderlich macht, in dem bei ihm anhängigen Verfahren anzuwenden sei.
30. Das vorlegende Gericht möchte geklärt wissen, ob Art. 9 der Richtlinie 2013/33 der in Rede stehenden nationalen Maßnahme entgegensteht. Es ist anerkennenswert, dass das vorlegende Gericht sich seiner Verantwortung bewusst ist, diese Richtlinie wenn nötig uneingeschränkt umzusetzen, ohne auf die vorherige Aufhebung der in Rede stehenden nationalen Maßnahme auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren zu warten(19).Es ist sich ebenfalls bewusst, dass es die Auslegung dieser Bestimmung soweit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie 2013/33 ausrichten muss, um das mit der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen(20), um die volle Wirksamkeit der fraglichen Richtlinie zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von der Richtlinie verfolgten Ziel im Einklang steht(21). Das vorlegende Gericht hebt hervor, dass die in Rede stehende nationale Maßnahme zur automatischen Verfahrenseinstellung für alle Verfahren gilt, also sowohl für erstinstanzliche Verfahren als auch für Kassationsverfahren.
31. Wenn Verwaltungs- oder Justizbehörden der Mitgliedstaaten die zur Umsetzung der Richtlinie 2013/33 erlassenen nationalen Rechtsvorschriften anwenden, handeln sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts und somit zur Durchführung des Rechts der Union im Sinne des Art. 51 Abs. 1 der Charta(22). Sie sind daher zur Achtung der in den Art. 6 und 47 der Charta verankerten Grundrechte auf Freiheit und auf einen wirksamen Rechtsbehelf verpflichtet.
32. Soweit die Charta Rechte enthält, die den durch die EKMR garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird(23). Nach den Erläuterungen zur Charta entspricht ihr Art. 6 Art. 5 EMRK; demgegenüber erweitert Art. 47 der Charta Art. 13 EMRK(24). Der Mindestschutzstandard der garantierten Rechte wird daher nicht nur durch den Wortlaut der EMRK(25), sondern u. a. auch durch die Rechtsprechung des EGMR in Straßburg bestimmt(26).
33. Der Gerichtshof muss zwei Fragen klären. Erstens: In welchem Umfang besteht das Recht auf gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Inhaftnahme nach Art. 9 der Richtlinie 2013/33? Zweitens: Inwieweit gelten für die zweitinstanzliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer derartigen Inhaftnahme dieselben Bedingungen wie sie für erstinstanzliche Überprüfungen gelten?
Gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme: Art. 9 der Richtlinie 2013/33
34. Art. 8 der Richtlinie 2013/33 enthält strikte materielle Voraussetzungen für die Inhaftnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen. Durch Art. 9 erhalten die so in Haft genommenen Personen verschiedene gewichtige Garantien. Dazu gehört, dass der Betreffende nur so lange in Haft genommen werden darf, wie die in Art. 8 Abs. 3 dieser Richtlinie genannten Gründe gegeben sind (Art. 9 Abs. 1). Der Vorlagebeschluss ist insoweit nicht explizit, aber es scheint, dass Herr D. H. auf der Grundlage von Art. 8 Abs. 3 Buchst. d (27) in Haft genommen worden war.
35. Wird ein Antragsteller in Haft genommen, so muss ihm die Möglichkeit einer zügigen gerichtlichen Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme gegeben werden(28). Zusätzlich werden ihm wichtige Verfahrensgarantien gewährt: Das Recht, in einer Sprache, die er versteht, über die Gründe für die Haft und die Verfahren für die Anfechtung der Haftanordnung informiert zu werden(29) und das Recht, unentgeltliche Rechtsberatung und ‑vertretung in Anspruch nehmen zu können(30). Falls sich die Haft infolge der gerichtlichen Überprüfung als unrechtmäßig herausstellt, ist der betreffende Antragsteller unverzüglich freizulassen.
36. Da die Bestimmungen des Art. 9 der Richtlinie 2013/33 im Licht der Bestimmungen der Art. 6 und 47 der Charta und der EMRK, auf die sich die Charta bezieht, zu lesen sind, ist es angebracht, zunächst die in der EMRK vorgeschriebenen Schutzstandards in Erinnerung zu rufen.
37. Nach Art. 5 Abs. 1 EMRK darf die Freiheit nur in den dort angeführten besonderen Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden. Jede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, hat das Recht nach Art. 5 Abs. 4 zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit des Freiheitsentzugs entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn der Freiheitsentzug nicht rechtmäßig ist(31). Das Hauptziel dieser gerichtlichen Überprüfung besteht erkennbar darin, der in Haft befindlichen Person die Möglichkeit zu geben, ihr Recht auf Freiheit durchzusetzen. Wenn die Inhaftnahme unrechtmäßig erfolgte, sollte sie selbstverständlich nicht länger in Haft bleiben.
38. Allerdings verschwinden die Folgen und Auswirkungen einer unrechtmäßigen Haft nicht wie von Zauberhand, wenn die Türen der Haftanstalt aufspringen und die in Haft genommene Person freigelassen wird. Mit der gerichtlichen Feststellung, dass die Inhaftnahme unrechtmäßig erfolgte, wird damit auch festgestellt, dass es unzulässig gewesen war, die betreffende Person Tage oder Wochen eingesperrt zu halten. Keine Macht auf Erden kann ihr diese Zeit einfach so zurückgeben. Aber die Gerichte können es kenntlich machen und aussprechen, dass die Inhaftnahme nicht rechtmäßig war. Damit wird der Sachverhalt richtig gestellt. Dies kann für die Zukunft wichtig sein, und zwar immer dann, wenn diese Person ein Formular auszufüllen hat, in dem es um ihre Vergangenheit geht, oder wenn eine Amtsperson oder ein möglicher Arbeitgeber über sie eine Computerrecherche durchführt. Dies kann als solches schon ein gewisses Maß an Genugtuung enthalten: offizielle Anerkennung, dass ein Unrecht, eine Ungerechtigkeit begangen wurde.Die betroffene Person möchte aber möglicherweise auch weitergehen und eine Entschädigung für diese verlorenen Tage oder Wochen verlangen. In Art. 5 Abs. 5 EMRK heißt es demgemäß, dass jede Person, der unter Verletzung der in Art. 5 Abs. 1 und 4 dieses Artikels genannten Bestimmungen die Freiheit entzogen worden ist, einen durchsetzbaren Anspruch auf Schadensersatz hat(32).
39. In Bezug auf das in Art. 47 der Charta verankerte Recht auf gerichtlichen Rechtsschutz hat der Gerichtshof festgestellt, dass jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht hat, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Der Gerichtshof hat dazu betont, dass das Vorhandensein einer wirksamen, zur Gewährleistung des Unionsrechts dienenden gerichtlichen Kontrolle dem Wesen eines Rechtsstaats inhärent ist(33).
40. Der Wortlaut von Art. 9 Abs. 3 und 5 der Richtlinie 2013/33 lässt keinen Zweifel daran, dass einem in Haft befindlichen Antragsteller die Möglichkeit gegeben werden muss, die Rechtmäßigkeit seiner Inhaftnahme gerichtlich überprüfen zu lassen. Besteht dieses Recht fort, wenn das Verfahren, das der Antragsteller während seiner Haft eingeleitet hat, noch anhängig ist, er aber durch eine Verwaltungsentscheidung der zuständigen nationalen Behörde aus der Haft entlassen wird?
41. Ich bin der Auffassung, dass diese Frage mit „Ja“ beantwortet werden muss.
42. Art. 9 Abs. 3 beginnt mit den Worten: „Wird die Haft von einer Verwaltungsbehörde angeordnet …“ Es heißt nicht: „Wenn der Antragsteller in Haft ist …“ Die Betonung liegt also auf der Rechtstatsache, dass die zuständige Behörde eine Freiheitsentziehung angeordnet hat. Es ist diese Rechtstatsache, um die es geht, denn es ist das Recht auf Freiheit, dass durch eine staatliche Maßnahme eingeschränkt wurde.
43. Dies wird durch den Wortlaut des Art. 9 Abs. 2 bestätigt. Danach wird „[d]ie Haft der Antragsteller … von einer Justiz- oder Verwaltungsbehörde schriftlich angeordnet. In der Anordnung werden die sachlichen und rechtlichen Gründe für die Haft angegeben“. Es ist diese Haftanordnung, die Gegenstand der rechtlichen Überprüfung ist, weil sie die Grundlage für die Freiheitsentziehung darstellt. Falls als Ergebnis der Überprüfung der Haftanordnung „sich die Haft … als unrechtmäßig herausstellt, wird der betreffende Antragsteller unverzüglich freigelassen“ (Art. 9 Abs. 3 letzter Satz). Die Strenge der Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Haftanordnung kommt deutlich in Erwägungsgrund 15 der Richtlinie 2013/33 zum Ausdruck, in dem es heißt, dass „Antragsteller … nur in den in der Richtlinie eindeutig definierten Ausnahmefällen und im Einklang mit den Grundsätzen der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit in Bezug auf die Art und Weise und den Zweck der Inhaftnahme in Haft genommen werden [dürfen]“(34).
44. Meines Erachtens bestätigt der Wortlaut des Art. 9 der Richtlinie 2012/33 die von mir vertretene Auffassung.
45. Was die Ziele und den Zweck dieser Bestimmung betrifft, so besteht natürlich der übliche und unmittelbare Zweck der gerichtlichen Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Haftanordnung darin, die Haftanordnung aufzuheben, damit der Betroffene seine Freiheit wiedererlangt. Aber die Folgen und Auswirkungen der Inhaftnahme sind dieselben unabhängig davon, ob die Freilassung aus der Haft durch eine weitere Verwaltungsentscheidung der zuständigen Behörde oder aufgrund eines Gerichtsurteils zur Aufhebung der ursprünglichen Haftanordnung erfolgt.
46. Eine Auslegung der Richtlinie, wonach die betreffende Person, sobald sie nicht mehr in Haft ist, nicht mehr geschützt ist, würde zu seltsamen Unstimmigkeiten führen. Es genügen zwei Beispiele, um dies zu verdeutlichen.
47. Angenommen zwei Antragsteller auf internationalen Schutz, A und B, werden von den zuständigen Behörden in Haft genommen und zwar aus Gründen, die nach Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2013/33 unzulässig sind. Beide erheben Anfechtungsklage. Nach zwei Wochen erkennen die Behörden ihren Fehler in Bezug auf A und lassen ihn am Morgen des 15. Tages seiner Inhaftnahme frei. B bleibt in Haft. Am Nachmittag dieses Tages wird über beide Klagen vor dem für die gerichtliche Überprüfung solcher Fragen zuständigen Gericht verhandelt. Wenn die durch die Richtlinie gewährten Rechte mit der Freilassung aus der Haft entfallen würden, würde die Klage des A abgewiesen, während im Fall des B eine Entscheidung erginge, mit der die Haftanordnung aufgehoben, die unverzügliche Freilassung an diesem Nachmittag angeordnet und ihm die Möglichkeit eines Schadensersatzanspruchs wegen unrechtmäßiger Haft eröffnet würde. Nur sechs Stunden trennen die Zeitpunkte, zu denen A und B ihre Freiheit wiedererlangen. Beide befanden sich länger als zwei Wochen unrechtmäßig in Haft. Bei einer restriktiven Auslegung des Art. 9 dahin gehend, dass er nur diejenigen Antragsteller erfasst, die tatsächlich in Haft sind, wenn ihre Fälle vor Gericht verhandelt werden, würde A trotzdem jeglicher gerichtliche Schutz entzogen.
48. Nehmen wir andererseits den Fall an, dass der Antragsteller C von den zuständigen nationalen Behörden in Haft genommen wird, wobei es sich um eine Personenverwechslung handelt – er ist zwar ein Antragsteller auf internationalen Schutz, aber ist tatsächlich nicht die Person D, den die Behörden in Haft zu nehmen beabsichtigten, und es gibt nach der Richtlinie keine Rechtsgründe für seine Inhaftnahme. C erhebt Anfechtungsklage. Bevor sein Fall vor Gericht verhandelt wird (und während er weiterhin lautstark geltend macht, dass er nicht D ist) wird er abgeschoben. Er befindet sich somit nicht mehr in Haft und könnte sich bei einer restriktiven Auslegung des Art. 9 zu seinem Schutz nicht an die Gerichte wenden, da er (im Wege der Abschiebung) „freigelassen“ wurde.
49. Eine Berechtigung der zuständigen Behörden, eine Person, die sie gemäß Art. 8 der Richtlinie 2013/33 in Haft genommen haben, dadurch dem Geltungsbereich und dem Schutz des Artikels 9 der Richtlinie zu entziehen, dass sie einfach eine weitere Verwaltungsentscheidung treffen, um diese Person freizulassen und um anschließend die Bestimmung wie im Ausgangsverfahren über die automatische Verfahrenseinstellung anzuwenden, enthielte die reale Möglichkeit eines Missbrauchs. Es wäre möglich, dass die Behörden einen Antragsteller auf internationalen Schutz nacheinander in Haft nehmen, freilassen, wieder in Haft nehmen und wieder freilassen, um damit zu erreichen, dass er zu keinem Zeitpunkt eine gerichtliche Überprüfung der Haftanordnung(en) erhalten kann.
50. Damit sage ich nicht, dass dies tatsächlich geschieht. Ich möchte aber auf das historische Beispiel aus dem Vereinigten Königreich eines missglückten Gesetzes auf dem Höhepunkt des Kampfes der Suffragetten um das Frauenwahlrecht hinweisen. Militante Frauenrechtlerinnen wurden wegen geringfügiger Sachschäden oder wegen Behinderung der Polizei inhaftiert. Sie begannen im Gefängnis einen Hungerstreik und wurden ziemlich brutal zwangsernährt. Als sich das Mitgefühl der Öffentlichkeit ihnen zuwendete, hatte die liberale Regierung Stanley Baldwin einen Einfall. Könnte man nicht, anstatt sie im Gefängnis, wenn sie durch Nahrungsmangel geschwächt waren, zwangsweise zu ernähren, einfach unter Auflagen freilassen? Sobald sie wieder zu essen begännen und ihre Kraft wiedererlangt hätten, könnte man sie erneut festnehmen und wieder einsperren. Also erließ die Regierung den Prisoners (Temporary Discharge for Ill Health) Act 1913 (Gefangenengesetz über vorübergehende Entlassung bei schlechter Gesundheit 1913). Das Gesetz wurde schnell unter dem Beinamen „The Cat and Mouse Act“ bekannt, denn die grausame Analogie zu einer Katze, die mit ihrer Beute spielt, bevor sie sie erledigt, war mehr als deutlich. Unter den Gegebenheiten des vorliegenden Falles besteht Anlass, anzunehmen, dass es zu Missbrauch kommen könnte.
51. Es ist auch darauf hinzuweisen, dass, wie das vorlegende Gericht ausführt, eine gerichtliche Entscheidung über die Aufhebung der Haftanordnung eine notwendige Voraussetzung für eine Schadensersatzklage wegen unrechtmäßiger Haft darstellt. Die tschechische Regierung bestreitet in ihren schriftlichen Erklärungen, dass dies nach nationalem Recht unbedingt richtig sei, und ich kann mich nicht dazu äußern, ob die Auslegung des nationalen Rechts durch die Regierung oder den Nejvyšší správní soud (Oberstes Verwaltungsgericht) die richtige ist. Ich möchte nur zwei Bemerkungen allgemeinerer Art machen.
52. Erstens besteht der Zweck der in Art. 9 verankerten Garantien zur Überprüfung der in Art. 8 Abs. 3 genannten Haftgründe nicht nur darin, sicherzustellen, dass die Antragsteller freigelassen werden, wenn diese Gründe nicht nachgewiesen werden können, sondern auch darin, von willkürlichen Verletzungen des Rechts des Antragstellers auf Freiheit abzuhalten(35). Im Hinblick darauf, dass diese Bestimmung im Licht der in den Art. 6 und 47 der Charta verankerten Grundrechte auszulegen ist, spricht dies für eine nicht-restriktiven Auslegung, während die entgegengesetzte Auslegung meines Erachtens diesen Grundrechten widersprechen würde(36).
53. Zweitens enthält die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Frage des Interesses einer Person an der Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens hierzu hilfreiche Hinweise. So hat der Gerichtshof im Zusammenhang mit einzelnen vom Rat erlassenen restriktiven Maßnahmen im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik entschieden, dass ein Antragsteller ein Interesse daran hat, die Aufhebung eines Rechtsakts zu beantragen, insbesondere wenn die Feststellung der Rechtswidrigkeit als Grundlage für eine künftige Klage auf materiellen oder immateriellen Schadensersatz dienen kann(37), der durch den angefochtenen Rechtsakt verursacht wurde(38). Selbst wenn keine Aussicht auf Ersatz eines Vermögensschadens besteht, könnte der Antragsteller gleichwohl ein immaterielles Interesse an der Durchführung des Verfahrens haben, da eine mögliche Nichtigerklärung eine Form der Wiedergutmachung des von ihm erlittenen immateriellen Schadens darstellt, der ihm aufgrund der Rechtswidrigkeit der betreffenden Handlung entstanden ist(39).
54. Meines Erachtens lassen sich die Grundsätze dieser Rechtsprechung durchaus auf einen Sachverhalt übertragen, in dem die betreffende Person einen Eingriff in ihr in Art. 6 der Charta verankertes Grundrecht auf Freiheit erlitten hat. Ich bin daher der Ansicht, dass Art. 9 der Richtlinie 2013/33 nicht nur einem Antragsteller, der noch in Haft ist, zwecks Überprüfung Zugang zu den Gerichten gewährt, sondern dass diese Bestimmung es auch einem Antragsteller, der in Haft gewesen war, dann aber durch Verwaltungsanordnung freigelassen wurde, ermöglicht, auf Feststellung zu klagen, dass die ihm auferlegte Haft unrechtmäßig gewesen war.Ob eine solche Feststellung eine moralische Genugtuung für das erlittene Unrecht darstellt oder als Ausgangspunkt für eine Schadensersatzklage wegen unrechtmäßiger Inhaftnahme dient, ist insoweit unerheblich.
55. Schließlich sei angemerkt, dass das vorlegende Gericht darauf hinweist, dass die in Rede stehende nationale Maßnahme die automatische Verfahrenseinstellung vorschreibt und somit die gerichtliche Überprüfung einer verwaltungsrechtlichen Haftanordnung sogar in der ersten Instanz ausschließt. Das vorlegende Gericht vertritt die Auffassung, dass eine solche Regelung nicht mit Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2013/33 vereinbar sei; das findet auch meine Zustimmung. Eine Bestimmung, die tatsächlich dazu führt, die gerichtliche Kontrolle auszuschalten, lässt sich nur schwer mit der grundlegenden Prämisse der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union in Einklang bringen.
56. Ich bin daher der Ansicht, dass die Frage des vorlegenden Gerichts allgemein dahin zu beantworten ist, dass Art. 9 der Richtlinie 2013/33 einer nationalen Bestimmung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden insofern entgegensteht, als die nationalen Gerichte durch diese Bestimmung verpflichtet werden, ein Gerichtsverfahren, das von einem Antragsteller auf internationalen Schutz zur Anfechtung einer gegen ihn erlassenen Haftanordnung anhängig gemacht wurde, einzustellen, wenn die betreffende Person durch eine nachfolgende Anordnung aus der Haft freigelassen wird.
Gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme: Kassationsverfahren
57. Im vorliegenden Verfahren hatte Herr D. H. den Vorteil, dass die Haftanordnung in seinem Fall vor dem Inkrafttreten der geänderten Fassung des § 46a Abs. 9 des Asylgesetzes Nr. 325/1999 gerichtlich geprüft wurde.
58. Behalten die Mitgliedstaaten nach Unionsrecht den Gestaltungsspielraum, vorschreiben zu können, dass Rechtsbehelfsverfahren gegen eine erstinstanzliche Gerichtsentscheidung automatisch eingestellt werden müssen, wenn der Antragsteller durch Verwaltungsanordnung aus der Haft freigelassen wird, bevor die Entscheidung des Gerichts ergeht?
59. Sowohl die Regierung der Tschechischen Republik als auch die Kommission halten eine solche Auffassung mit Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2013/33 für vereinbar.
60. Ich bin anderer Ansicht.
61. Mit der Richtlinie 2013/33 soll ein hoher Schutzstandard sowie ein faires und wirksames Verfahren für Antragsteller eingeführt werden(40). Die Entstehungsgeschichte der Richtlinie zeigt, dass rechtliche und verfahrensrechtliche Garantien für die Inhaftnahme von Antragstellern eingeführt wurden, um ein höheres Maß an Harmonisierung zu gewährleisten und die in der früheren Maßnahme festgelegten Mindeststandards für die Aufnahme von Asylbewerbern zu verbessern (Richtlinie 2003/9/EG)(41). Das Ziel war sicherzustellen, dass diese Bestimmungen in vollem Umfang mit den Grundrechten, die in der Charta verankert sind, sowie mit den Verpflichtungen aus dem Völkerrecht vereinbar sind(42).
62. Insofern als die Richtlinie 2033/13 eine Mindestharmonisierung der Aufnahmebedingungen für Antragsteller vorsieht(43), legt sie ein Grundniveau fest, das kein Mitgliedstaat unterschreiten darf. Es steht ihnen jedoch frei, großzügigere Regelungen zu erlassen.
63. Die Richtlinie 2013/33 enthält keine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, eine zweite Instanz gerichtlicher Kontrolle für den Fall vorzusehen, dass Antragsteller eine Entscheidung der ersten Instanz anfechten wollen(44). Zudem entspricht es ständiger Rechtsprechung, dass der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes dem Einzelnen nur ein Recht auf Zugang zu einem Gericht und nicht zu mehreren Gerichtsinstanzen eröffnet(45).
64. Eine nationale Bestimmung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende fällt somit uneingeschränkt in den Geltungsbereich der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität des Unionsrechts(46). Die Bereitstellung einer zweiten Instanz dürfte aber nebenbei bemerkt nicht nur für den Beschwerdeführer von Vorteil sein. Auf diese Weise wird den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats eine Eingreifmöglichkeit gegeben, wenn sie etwas (zu Recht oder zu Unrecht) als eine „schlechte“ erstinstanzliche Entscheidung betrachten, und in Fällen, in denen mehrere Gerichte in erster Instanz zuständig sind, ermöglicht dies eine kohärente Rechtsprechung auf zweitinstanzlicher Ebene, wodurch für alle Beteiligten Einheitlichkeit und Rechtssicherheit gewährleistet werden.
65. Bei der Prüfung des Gestaltungsspielraums der Mitgliedstaaten muss aber auch berücksichtigt werden, dass Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2033/13 in besonderer Weise Ausdruck der für Antragsteller im weiteren Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems in Bezug auf das Recht auf einen wirksamen Rechtsschutz festzulegenden Aufnahmebedingungen ist. Mit dieser Richtlinie sollen wirksame materiell-rechtliche und verfahrensrechtliche Garantien eingeführt werden, um die Rechtmäßigkeit von Haftanordnungen sicherzustellen(47).
66. Der Gerichtshof hat in einer Reihe von Rechtssachen geurteilt, in denen Einzelpersonen gegen eine erstinstanzliche Entscheidung klagten, bei der es um Rechte ging, die sich aus dem Unionsrecht herleiteten, bei denen das Unionsrecht aber keine zweite Instanz auf der nationalen Ebene vorsah. In diesen Fällen war es erforderlich, die nationalen Verfahrensregeln für eine solche Kontrolle anhand des Effektivitätsgrundsatzes zu überprüfen. Zwei jüngere Beispiele mögen diesen Ansatz des Gerichtshofs veranschaulichen.
67. So betraf das Urteil in der Rechtssache Belastingdienst/Toeslagen(48) die Berufung eines Drittstaatsangehörigen gegen einen Bescheid der nationalen Behörde, mit der die Erstattung von Zuschüssen zu Miet- und Krankenkosten angeordnet wurde. Das vorlegende Gericht ersuchte um Auslegung des Art. 39 der Richtlinie 2005/85/EG(49) und des Art. 13 der Richtlinie 2008/115 im Licht der Art. 18, 19 Abs. 2 und 47 der Charta. Die Frage war, ob diese Bestimmungen einer nationalen Regelung entgegenstehen, die zwar einen Rechtsbehelf gegen ein erstinstanzliches Urteil für den Fall vorsieht, das dieses eine Entscheidung bestätigt, mit dem ein Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt wird, diesen Rechtsbehelf aber nicht kraft Gesetzes mit aufschiebender Wirkung ausstattet, obwohl der Betroffene die ernsthafte Gefahr eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung geltend macht.
68. Der Gerichtshof hat ausgeführt, dass, obwohl diese Richtlinien keine Regelungen über die Schaffung und Ausgestaltung eines zweiten Rechtszugs für Rechtsbehelfe gegen abschlägige Entscheidungen über einen Antrag auf internationalen Schutz und Rückkehrentscheidungen enthalten(50), „die Richtlinie 2008/115 ebenso wie die Richtlinie 2005/85, wie sich aus dem 24. Erwägungsgrund der ersteren und dem achten Erwägungsgrund der letzteren ergibt, unter Beachtung der insbesondere in der Charta anerkannten Grundrechte und Grundsätze auszulegen [ist]“(51). Der Gerichtshof hat anschließend die nationalen Bestimmungen gemäß den Grundsätzen von Äquivalenz und Effektivität überprüft und festgestellt, dass der Grundsatz der Effektivität in diesem Fall keine über die Grundrechte hinaus gehenden Anforderungen, insbesondere über die durch Artikel 47 der Charta garantierten, enthielt(52). Der Gerichtshof hat festgestellt, dass in dem betreffenden Fall beide Grundsätze gewahrt waren.
69. Im Gegensatz dazu hat der Gerichtshof in seinem Urteil in der Rechtssache Sánchez Morcillo und Abril García(53), das die Auslegung des Art. 7 der Richtlinie 93/13/EWG über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen(54) und Art. 47 der Charta betraf, festgestellt, dass die betreffenden nationalen Bestimmungen geeignet waren, die Wirksamkeit des mit der Richtlinie 93/13 eingeführten Verbraucherschutzes zu beeinträchtigen(55). Bei der Überprüfung der nationalen Bestimmungen aufgrund des Grundsatzes der Effektivität, hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die Wirksamkeit der den Einzelnen aus der Richtlinie 93/13 erwachsenden Rechte (im betreffenden Fall gegen die Verwendung missbräuchlicher Klauseln) zu gewährleisten, das Erfordernis eines gerichtlichen Schutzes, das in Art. 47 der Charta auch garantiert ist, impliziert. Dieser Schutz muss sowohl für die Bestimmung der Gerichte gelten, die für die Entscheidung über Klagen, die sich auf das Unionsrecht stützen, zuständig sind, als auch für die Festlegung der Verfahrensmodalitäten(56).
70. Meines Erachtens ist der Ansatz des Gerichtshofs im letzteren Fall hier sinngemäß anwendbar. Letztlich entscheidet die Effektivität der gerichtlichen Überprüfung der Haftanordnungen darüber, ob die materiellen Voraussetzungen in Art. 8 und die Garantien in Art. 9 der Richtlinie 2013/33 die Antragsteller so schützen, wie dies vorgesehen ist.
71. In Bezug auf den Grundsatz der Effektivität sind meines Erachtens folgende Aspekte des vom vorlegenden Gericht beschriebenen Sachverhalts besonders relevant.
72. Erstens kann es bei einer automatischen Verfahrenseinstellung zu einer willkürlichen Behandlung kommen. Wenn die zweite Instanz nicht in der Lage ist, die Verhandlung über eine erstinstanzlichen Entscheidung über eine Haftanordnung abzuschließen, bevor die betroffene Person freigelassen wird, wird es eine unterschiedliche Behandlung im Vergleich zu den Fällen geben, in denen der Antragsteller in Haft ist. Selbst wenn die Gründe für die Überprüfung und die betreffenden Sachverhalte übereinstimmen, könnte letztere Person mit einem Rechtsmittel gegen das erstinstanzliche Urteil vorgehen, während erstere dazu nicht berechtigt wäre.
73. Zweitens könnten die Verwaltungsbehörden einfach dadurch, dass sie den betreffenden Antragsteller freilassen, erreichen, dass die zweite Instanz niemals in der Lage ist, ein erstinstanzliches Urteil zu überprüfen. Der Grundsatz der Waffengleichheit wäre dadurch nicht gewahrt(57). Zudem werden die zuständigen Behörden, indem sie den Gerichten anzeigen, wenn ein Antragsteller freigelassen wird, was die automatische Einstellung des Verfahrens zu Folge hat, auch in die Lage versetzt, das Berufungsgericht bei der unabhängigen Wahrnehmung seiner Aufgaben zu behindern.Wenn, wie das vorlegende Gericht in seinem Vorlagebeschluss mitteilt, Rechtsbeschwerden in der Regel erst nach der Freilassung des betreffenden Antragstellers zu ihm gelangen, dann bedeutet die automatische Verfahrenseinstellung, dass dem vorlegenden Gericht tatsächlich die Möglichkeit genommen wird, die Rechtmäßigkeit von Haftanordnungen zu überprüfen.
74. Zwar trifft es sicherlich zu, dass Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2013/33 nicht verlangt, eine zweite gerichtliche Überprüfungsinstanz einzurichten; wenn aber die Mitgliedstaaten diese zusätzliche Überprüfung in ihr nationales Systeme aufnehmen, müssen die Bedingungen unter denen diese Überprüfung durchgeführt wird, den allgemeinen Rahmen der Garantien in dieser Richtlinie beachten.
75. Das frühe Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Sotgiu(58) kann hierzu als Beispiel herangezogen werden. Diese Rechtssache betraf die Auslegung der Ausnahme von der Freizügigkeit der Arbeitnehmer bei Tätigkeit in der öffentlichen Verwaltung nach Art. 48 Abs. 4 EWGV. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass den Interessen, die diese Ausnahme den Mitgliedstaaten zu schützen erlaubt, mit der Möglichkeit genüge getan ist, den Zugang ausländischer Staatsangehöriger zu gewissen Tätigkeiten in der öffentlichen Verwaltung zu beschränken. Diese Bestimmung kann jedoch nicht herangezogen werden, um eine unterschiedliche Behandlung in Bezug auf Entlohnung oder sonstige Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer zu rechtfertigen, wenn diese einmal in den Dienst der Verwaltung aufgenommen sind (59).
76. Dementsprechend hat meines Erachtens ein Mitgliedstaat, wenn er eine zweite Instanz für die Überprüfung von Haftanordnungen einrichtet, die Garantien des Art. 9 der Richtlinie 2013/33, einschließlich der Garantie des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes zu beachten.
77. Wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe, ist eine Einschränkung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Art 47 der Charta in Fällen, in denen eine nationale Maßnahme in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt,nur dann gerechtfertigt, wenn sie gesetzlich vorgesehen ist, den Wesensgehalt dieses Rechts achtet und unter Wahrung des allgemeinen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich ist und den von der Europäischen Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entspricht. Meines Erachtens muss in Fällen wie dem vorliegenden eine Überprüfung nach Art. 52 Abs. 1 der Charta durchgeführt werden, um das Schutzniveau, das Art. 47 der Charta dem Einzelnen gewährt, sicherzustellen. Ein anderer methodischer Ansatz hätte die überraschende (und meines Erachtens unvertretbare) Folge, dass die Mitgliedstaaten diesen Kriterien einfach dadurch entgehen könnten, dass sie in einem Bereich innerhalb ihrer Verfahrensautonomie handeln würden, in dem der Unionsgesetzgeber das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf konkretisierend ausgestaltet hat(60).
78. Vor diesem Hintergrund scheint mir die in Rede stehende nationale Maßnahme nicht dem Grundsatz der Effektivität zu genügen.
79. Wie steht es mit dem Äquivalenzgrundsatz?
80. Dieser Grundsatz verlangt die Gleichbehandlung von auf einen Verstoß gegen das nationale Recht gestützter Rechtsbehelfe und entsprechender, auf einen Verstoß gegen das Unionsrecht gestützter Rechtsbehelfe, nicht aber die Gleichwertigkeit nationaler Verfahrensvorschriften, die für unterschiedliche Verfahren gelten(61). Die Situation eines Drittstaatsangehörigen, der um internationalen Schutz ersucht, ist in gewisser Hinsicht eine besondere.Es gibt beispielsweise völkerrechtliche Verpflichtungen sowie spezifische Bestimmungen des Unionsrechts, die sich auf seine Situation auswirken(62). Ein Drittstaatsangehöriger, der im Rahmen der Richtlinie 2013/33 um internationalen Schutz ersucht, unterliegt daher nicht notwendigerweise denselben Verfahrensregeln, die für nationale Angelegenheiten gelten.
81. Das vorlegende Gericht nennt in seinem Vorlagebeschluss verschiedene Beispiele für nationale Verfahren, die eine gerichtliche Kontrolle einer Inhaftierung beinhalten, wie beispielsweise die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Inhaftierung durch die Polizei oder der Einweisung in eine Heilanstalt. Wie mir scheint, sind diese Verfahren mit der in Rede stehenden nationalen Maßnahme vergleichbar.Letztlich ist es jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die nationalen Verfahrensregeln zur Umsetzung dieser Richtlinie mit allgemeineren Verfahrensregeln vergleichbar sind, die die Inhaftnahme von Einzelpersonen regeln. Wie der Gerichtshof ausgeführt hat, „ist es Sache des nationalen Gerichts mit seiner unmittelbaren Kenntnis der anwendbaren Verfahrensmodalitäten, die Gleichartigkeit der betreffenden Rechtsbehelfe unter dem Gesichtspunkt ihres Gegenstands, ihres Rechtsgrundes und ihrer wesentlichen Merkmale zu prüfen“(63).
Ergebnis
82. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefrage des Nejvyšší správní soud (Oberstes Verwaltungsgericht, Tschechische Republik) wie folgt zu antworten:
Art. 9 der Richtlinie 2013/33 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes im Licht der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Bestimmung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden insofern entgegensteht, als die nationalen Gerichte durch diese Bestimmung verpflichtet werden, ein Gerichtsverfahren, das von einem Antragsteller auf internationalen Schutz zur Anfechtung einer gegen ihn erlassenen Haftanordnung anhängig gemacht wurde, automatisch einzustellen, wenn die betreffende Person durch eine nachfolgende Anordnung aus der Haft freigelassen wird, bevor die Entscheidung des Gerichts ergeht.
1 Originalsprache: Englisch.
2 Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96).
3 ABl. 2010, C 83, S. 389 (im Folgenden: die Charta).
4 Unterzeichnet in Rom am 4. November 1950 (im Folgenden: EMRK).
5 Art. 6 der Charta entspricht Art. 5 EMRK.
6 Dieses Recht basiert auf Art. 13 EMRK.
7 Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17).
8 Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. 2013, L 180, S. 60).
9 Auf seiner Tagung vom 10. und 11. Dezember 2009.
10 Art. 2 Buchst. a. Der Querverweis bezieht sich auf die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).
11 Art. 2 Buchst. b.
12 Art. 2 Buchst. h.
13 Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehörige (ABl. 2008, L 348, S. 98).
14 Im Folgenden bezeichne ich den geänderten Gesetzestext als „in Rede stehende nationale Maßnahme“ und die gerügte Vorschrift als „automatische Verfahrenseinstellung“.
15 Urteil vom 22. November 2005, Mangold (C‑144/04, EU:C:2005:709, Rn. 34 bis 36.
16 Urteil vom 17. Juli 2008, Corporación Dermoestética (C‑500/06, EU:C:2008:421, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung.
17 Urteil vom 16. Dezember 2008, Michaniki (C‑213/07, EU:C:2008:731, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung.
18 Vgl. oben Rn. 9 und 11.
19 Vgl. hierzu Urteil vom 8. September 2015, Taricco u. a. (C‑105/14, EU:C:2015:555, Rn. 49).
20 Urteil vom 13. November 1990, Marleasing (C‑106/89, EU:C:1990:395, Rn. 8).
21 Vgl. entsprechend Urteil vom 6. November 2018, Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (C‑684/16, EU:C:2018:874, Rn. 59).
22 Vgl. entsprechend Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 84 und die dort angeführte Rechtsprechung).
23 Mit. Art. 52 Abs. 3 soll die notwendige Übereinstimmung zwischen den Rechten in der Charta und den entsprechenden Rechten in der EMRK sichergestellt werden. Vgl. Urteil vom 28. Juli 2016, JZ (C‑294/16 PPU, EU:C:2016:610, Rn. 50).
24 Urteil vom 14. September 2017, K. (C‑18/16, EU:C:2017:680, Rn. 50).
25 Siehe oben Nr. 8; vgl. auch zu Art. 6 der Charta Urteil vom 15. März 2017 (Al Chodor, C‑528/15, EU:C:2017:213, Rn. 37).
26 Urteil vom 22. Dezember 2010, DEB (C‑279/09, EU:C:2010:811, Rn. 35).
27 Für den Wortlaut dieser Bestimmung siehe oben Nr. 14.
28 Vgl. Art. 26 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 und Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2013/33.
29 Art. 9 Abs. 4.
30 Art. 9 Abs. 6.
31 Vgl. Urteil des EGMR von 8. Juli 2004, Vachev/Bulgarien (ECHR:2004:0708JUD004298798, § 71).
32 Vgl. Urteile des EGMR vom 16. Juni 2005, Storck/Deutschland (ECHR:2005:0616JUD006160300, § 119 bis § 122) und vom 19. Februar 2009, A. u. a./Vereinigtes Königreich (ECHR:2009:0219JUD000345505, § 226 bis § 229).
33 Urteil vom 28. März 2017, Rosneft, C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 73. Die entsprechenden Rechte in der EMRK sind die Art. 6 und 13.
34 Urteil vom 15. Februar 2016, N. (C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 56).
35 Meines Erachtens sind die Worte „Befindet sich ein Antragsteller in Haft“ in Erwägungsgrund 15 nicht dahin auszulegen, dass der Antragsteller tatsächlich körperlich in Haft zu sein hat, um eine gerichtliche Überprüfung beantragen zu können. Es ist aber auch ständige Rechtsprechung, dass die Erwägungsgründe eines Unionsrechtsakts rechtlich nicht verbindlich sind und weder herangezogen werden können, um von den Bestimmungen des betreffenden Rechtsakts abzuweichen, noch um diese Bestimmungen in einem Sinne auszulegen, der ihrem Wortlaut offensichtlich widerspricht (vgl. Urteil vom 24. November 2005, Deutsches Milch-Kontor, C‑136/04, EU:C:2005:716, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Siehe meine Stellungnahme in N. (C‑601/15 PPU, EU:C:2016:85, Nr. 136); vgl. auch Erwägungsgründe 10 und 35 der Richtlinie 2013/33.
37 Vgl. Urteil vom 22. Dezember 2008, Gordon/Kommission (C‑198/07 P, EU:C:2008:761, Rn. 19 und 60).
38 Vgl. z. B. Urteil vom 27. Juni 2013, Xeda International und Pace International/Kommission (C‑149/12 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2013:433, Rn. 32 und 33).
39 Vgl. entsprechend Urteile vom 28. Mai 2013, Abdulrahim/Rat und Kommission (C‑239/12 P, EU:C:2013:331, Rn. 70 bis 72), und vom 15. Juni 2017, Al-Faqih u. a./Kommission (C‑19/16 P, EU:C:2017:466, Rn. 36 und 37).
40 5. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/33.
41 Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (ABl. 2003, L 31, S. 18). Die Maßnahme beinhaltete keine spezifischen Gründe für die Inhaftnahme oder Garantien für Antragsteller.
42 Kommissionsvorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (Neufassung), KOM/2008/0815 endg. vom 3.12.2008.
43 Art. 4 der Richtlinie 2013/33.
44 Erst recht enthält die Richtlinie 2013/33 daher auch keine besonderen Bestimmungen über den Ablauf eines zweitinstanzlichen Verfahrens wie etwa, ob das Beschwerdeverfahren eines Antragstellers nach seiner Haftentlassung einzustellen ist.
45 Urteil vom 26. September 2018, Belastingdienst/Toeslagen (Aufschiebende Wirkung des Rechtsmittels) (C‑175/17, EU:C:2018:776, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
46 Die nationalen Bestimmungen dürfen nicht weniger günstig sein als die für entsprechende innerstaatliche Klagen (Grundsatz der Äquivalenz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder erschweren (Grundsatz der Effektivität), Urteil vom 26. September 2018, Belastingdienst/Toeslagen (Aufschiebende Wirkung des Rechtsmittels) (C‑175/17, EU:C:2018:776, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung). Zum Grundsatz der Effektivität vgl. auch Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, der die Mitgliedstaaten verpflichtet, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit ein wirksamer Rechtsschutz „in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ gewährleistet ist.
47 Siehe oben, Nr. 57.
48 Urteil vom 26. September 2018, Belastingdienst/Toeslagen (Aufschiebende Wirkung des Rechtsmittels) (C‑175/17, EU:C:2018:776).
49 Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. 2005, L 326, S. 13).
50 Urteil vom 26. September 2018, Belastingdienst/Toeslagen (Aufschiebende Wirkung des Rechtsmittels) (C‑175/17, EU:C:2018:776, Rn. 30).
51 Urteil vom 26. September 2018, Belastingdienst/Toeslagen (Aufschiebende Wirkung des Rechtsmittels) (C‑175/17, EU:C:2018:776, Rn. 31 unter Verweis auf das Urteil vom 19. Juni 2018, Gnandi (C‑181/16, EU:C:2018:465, Rn. 51).
52 Urteil vom 2. September 2018, Belastingdienst/Toeslagen (Aufschiebende Wirkung des Rechtsmittels) (C‑175/17, EU:C:2018:776, Rn. 47).
53 Urteil vom 17. Juli 2014, Sánchez Morcillo und Abril García (C‑169/14, EU:C:2014:2099).
54 Richtlinie des Rates vom 5. April 1993 (ABl. 1993, L 95, S. 29).
55 Vgl. Urteil vom 17. Juli 2014, Sánchez Morcillo und Abril García (C‑169/14, EU:C:2014:2099, Rn. 50).
56 Urteil vom 17. Juli 2014, Sánchez Morcillo und Abril García (C‑169/14, EU:C:2014:2099, Rn. 35).
57 Nach ständiger Rechtsprechung ist der Grundsatz der Waffengleichheit ebenso wie etwa der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens nur ein Ausfluss des Begriffs des fairen Verfahrens als solchem, das die Verpflichtung umfasst, jeder Partei eine angemessene Möglichkeit zu bieten, ihre Sache unter Bedingungen zu vertreten, die sie gegenüber ihrem Gegner nicht klar benachteiligen. Vgl. Urteil vom 17. Juli 2014, Sánchez Morcillo und Abril García (C‑169/14, EU:C:2014:2099, Rn. 48 und 49).
58 Urteil von 12. Februar 1974 (152/73, EU:C:1974:13).
59 Urteil vom 12. Februar 1974, Sotgiu (152/73, EU:C:1974:13, Rn. 4).
60 Meine Schlussanträge in der Rechtssache Star Storage u.a. (C‑439/14 und C‑488/14, EU:C:2016:307, Nrn. 37 und 38).
61 Urteil vom 6. Oktober 2015, Târșia (C‑69/14, EU:C:2015:662, Rn. 34).
62 Zu den völkerrechtlichen Instrumenten gehört das Genfer Abkommen über die Rechtstellung der Flüchtlinge, das in Genf am 28. Juli 1951 unterzeichnet wurde (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 (1954)) in der Fassung des New Yorker Protokolls vom 31. Januar 1967 (im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention); in deutscher Sprache verfügbar unter: https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/shop/media/pdf/7b/8b/76/GFK_Pocket_2015.pdf.
63 Urteil vom 26. September 2018, Belastingdienst/Toeslagen (Aufschiebende Wirkung des Rechtsmittels) (C‑175/17, EU:C:2018:776, Rn. 43 mit Verweisung auf die Urteile vom 27. Juni 2013, Agrokonsulting-04 (C‑93/12, EU:C:2013:432, Rn. 39) und vom 9. November 2017, Dimos Zagoriou (C‑217/16, EU:C:2017:841, Rn. 20).
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