Urteil vom Finanzgericht Baden-Württemberg - 14 K 239/04

Tatbestand

 
Streitig ist, ob B, der am …1990 geborene Sohn der Klägerin, in der Zeit seines Schulbesuchs in Jordanien in Deutschland einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hatte und für ihn daher ein Kindergeldanspruch nach §§ 62, 63 Abs. 1 Einkommensteuergesetz (EStG) bestand.
Die verheiratete Klägerin ist türkische Staatsangehörige. Neben B hat sie drei weitere Kinder (C, geboren am … 1997; D, geboren am … 1999 und E, geboren am … 2001). Alle Kinder sind türkische Staatsangehörige. Für B bekam die Klägerin zunächst Kindergeld. In einer persönlichen Vorsprache bei der Beklagten am 16. September 2002 teilte der Ehemann der Klägerin mit, dass B am 22. August 2002 Deutschland verlassen habe. Er befinde sich zur Schulausbildung in einem Internat in Jordanien, voraussichtlich vorläufig für drei Monate, vermutlich aber auch länger. Eine Abmeldebestätigung folgte (Gesprächsnotiz vom 16. September 2002, Kindergeldakte Blatt 57; Abmeldebestätigung vom 30. September 2002, Kindergeldakte Blatt 63). Mit Bescheid vom 20. September 2002 hob die Beklagte die Kindergeldfestsetzung für B ab September 2002 gemäß § 70 Abs. 2 EStG auf, da B ab diesem Zeitpunkt weder seinen Wohnsitz noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland habe. Dieser Bescheid wurde bestandskräftig.
Am 24. Juni 2004 stellte die Klägerin einen Antrag auf Kindergeld für ihre Kinder, inklusive B. Zugleich gab sie eine Haushaltsbescheinigung ab, wonach B zu ihrem Haushalt gehöre. Während der Aufenthalte zu Hause wurde B immer wieder von seinem Vater, dem Ehemann der Klägerin, bei der Stadt X angemeldet, während der Dauer des Auslandsaufenthalts wieder abgemeldet (Aktenvermerk der Stadt X vom 25. März 2004, Kindergeldakte Blatt 67; verschiedene Aufenthaltsbescheinigungen, Kindergeldakte Blatt 78 ff.).
B ist seit August 2002 in der Schule "I … Schools" in Y, Jordanien. Dort werden Fächer wie Mathematik, Biologie, Chemie, u.a. unterrichtet, daneben die Sprachen Englisch, Arabisch und Deutsch. Die Schule erteilt auch Koranunterricht. Zweck des Schulbesuchs ist die Steigerung der schulischen Leistungen von B und das Erlangen der Hochschulreife. B lebt dort in einem Internat. In der Schule sind ungefähr 50 Kinder. Ein Bekannter des Ehemannes der Klägerin lebt in der Nähe dieser Schule und kümmert sich, je nach Bedarf, um B. Die schulfreie Zeit im Sommer beträgt ungefähr 45 bis 50 Tage, die über Weihnachten ungefähr 30 Tage. Jeweils im Sommer verbrachte B bislang drei Wochen bei seinen Eltern in Deutschland, den Rest der schulfreien Zeit mit seinen Eltern und Geschwistern in der Türkei. Im Winter verbrachte B drei Wochen bei seinen Eltern in Deutschland. Im Jahre 2006 blieb B im Sommer die gesamten schulfreien Tage bei seinen Eltern in Deutschland. Der Schulbesuch in Jordanien soll noch ungefähr drei bis vier Jahre dauern. Danach wird über ein Informatikstudium nachgedacht, wobei noch nicht bekannt ist, wo B dieses absolvieren wird.
Die Klägerin bewohnt zusammen mit ihrer Familie eine Wohnung im zweiten Geschoss eines Hauses, das ihrem Ehemann sowie dessen Bruder gehört. Die Erdgeschosswohnung dieses Hauses ist noch unbewohnt. In der Wohnung im ersten Geschoss wohnt der Bruder ihres Ehemannes nebst Familie. Die von der Klägerin bewohnte Wohnung ist ungefähr 120 m² groß und verfügt über fünf Zimmer, u.zw. Eltern-, Mädchen-, Jungenschlafzimmer, Wohnzimmer sowie Küche. Das Jungenschlafzimmer steht B und seinem am … 2001 geborenen Bruder E zur Verfügung. Im Mädchenschlafzimmer sind die beiden Töchter der Familie untergebracht. Das Jungenschlafzimmer ist mit einem einfachen Bett, einem Computertisch samt Computer, einem Fernseher sowie einem Kleiderschrank ausgestattet. In dem Kleiderschrank befinden sich Sachen von B. E verstaut seine Sachen in einem der beiden Schränke im Mädchenschlafzimmer. Wenn sich B zu Hause aufhält, kommt eine Matratze in das Jungenschlafzimmer. Manchmal schläft E aber auch bei den Mädchen.
Den Antrag der Klägerin auf Kindergeld für B vom 24. Juni 2004 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 28. Juni 2004 ab. Der dagegen eingelegte Einspruch blieb erfolglos (Einspruchsentscheidung vom 29. Juli 2004, Kindergeldakte Blatt 85 ff.).
Die am 23. August 2004 beim Finanzgericht eingegangene Klage begründet die Klägerin, vertreten durch ihren Prozessbevollmächtigten, wie folgt: B habe seinen Wohnsitz weiterhin in Deutschland. Dieses ergebe sich bereits aus der Meldebescheinigung. Nach Abschluss der Schulausbildung in Jordanien wolle B wieder zu seinen Eltern nach Deutschland zurückkehren. Von seiner Geburt an habe B dort bis 2002 gelebt und die Schule besucht. Eine Auflösung der familiären Bindung zu den Eltern bedinge der Schulbesuch in Jordanien nicht. Der Mittelpunkt der Lebensbeziehungen sei für B weiterhin in Deutschland. In einer auswärtigen Unterbringung, die, wie im Streitfall, lediglich der schulischen Unterrichtung und somit nur einem Teilbereich des Lebens diene, sei der Lebensmittelpunkt jedenfalls solange nicht gegeben, solange nicht der Schule das entscheidende Gewicht für die Lebensbeziehung des Kindes zukomme. Dieses liege im Streitfall nicht vor. Schließlich behielten auch deutsche Kinder ihren Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland bei, wenn sie vorübergehend ihre Ausbildung in einer ausländischen Schule absolvierten. Auch sei zu berücksichtigen, dass die Tatsache, dass sich B nur für beschränkte Zeit in Deutschland aufhalte, allein und ausschließlich durch den Schulbetrieb bedingt sei. Sie, die Klägerin, könne dieses nicht beeinflussen. Behalte sie B für längere Zeit als die schulfreien Tage in Deutschland, gefährde sie dessen schulische Ausbildung. Das sei unverantwortlich. Die Strukturierung der Ausbildung dürfe auf die Frage des Bestehens oder Nichtbestehens eines Wohnsitzes keine Auswirkung haben. Auch die Zeitspanne des Urlaubs in der Türkei zusammen mit Eltern und Geschwistern sei in die Zeit des Aufenthalts in Deutschland mit hineinzurechnen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß, unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 28. Juni 2004 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 29. Juli 2004 die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin für B ab 1. Oktober 2002 das gesetzlich vorgesehene Kindergeld zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
10 
Zur Begründung trägt sie vor, B habe in Deutschland im Streitzeitraum weder einen Wohnsitz noch einen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt. Der Rückkehrwille reiche zur Beibehaltung eines Wohnsitzes nicht aus. Der Aufenthalt in Jordanien sei von vornherein auf einen Zeitraum von mehreren Jahren angelegt. Ein vorübergehender Auslandsaufenthalt liege somit nicht vor. Bereits mit 12 Jahren sei B nach Jordanien gegangen, in einem Alter, in dem ein besonderes Maß an Betreuung notwendig sei. Die kurzen Aufenthalte in Deutschland in der schulfreien Zeit hätten keinen Wohncharakter. Seinen gewöhnlichen Aufenthalt habe B auch nicht in Deutschland gehabt, weil ein Aufenthalt lediglich zu Besuchszwecken einen solchen nicht begründe. Schließlich sei der Wohnsitz oder gewöhnliche Aufenthalt eines minderjährigen Kindes dort anzunehmen, wo es regelmäßig die Schule besuche (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 23. November 2000 VI R 165/99, Bundessteuerblatt - BStBl II - 2001, 279; Gerichtsbescheid des Finanzgerichts - FG - Baden-Württemberg vom 22. September 2003 7 K 200/01).
11 
Die Beteiligten erklären sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (Niederschrift über den Erörterungstermin am 9. August 2006, Finanzgerichtsakte Blatt 57).

Entscheidungsgründe

 
12 
1. Die zulässige Klage ist unbegründet. Die Beklagte hat zu Recht die von der Klägerin beantragte Gewährung von Kindergeld für B abgelehnt.
13 
Zwar hat die Klägerin als Ausländerin mit Wohnsitz im Inland, die im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung ist und nicht zur vorübergehenden Dienstleistung in das Inland entsandt ist, Anspruch auf Kindergeld nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 EStG. Ihr Sohn B gehört aber nicht zu den Kindern, die nach § 63 EStG zu berücksichtigen sind. Denn nach § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG werden die Kinder nicht berücksichtigt, die weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland, in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einem Staat haben, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum Anwendung findet.
14 
Zum einen zählt Jordanien nicht zu den in § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG genannten Staaten, zum anderen hatte B im Streitzeitraum weder seinen Wohnsitz noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland.
15 
Die Frage, ob eine natürliche Person im Inland einen Wohnsitz hat, beurteilt sich nach  § 8 Abgabenordnung (AO). Danach kommt es darauf an, ob die betreffende Person im Inland eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass sie die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Der Begriff des Wohnsitzes im Sinne von § 8 AO setzt neben zum dauerhaften Wohnen geeigneten Räumlichkeiten das Innehaben der Wohnung in dem Sinne voraus, dass die betreffende Person tatsächlich über sie verfügen kann und sie als Bleibe entweder ständig benutzt oder sie doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit, wenn auch in größeren Zeitabständen, aufsucht. Ein nur gelegentliches Verweilen während unregelmäßig aufeinander folgender kurzer Zeiträume, etwa zu Erholungszwecken, reicht nicht aus. Anders als das bürgerliche Recht, das die Begründung und die Aufgabe des Wohnsitzes als rechtsgeschäftliche Willenserklärungen ausgestaltet hat (§§ 7, 8 Bürgerliches Gesetzbuch - BGB -), knüpft § 8 AO nur an die tatsächlichen Verhältnisse an. Einen Wohnsitz im Sinne von § 8 AO hat jemand also dann, wenn die objektiven Umstände darauf schließen lassen, dass er die Räume innehat und dass sie von ihm als Wohnung genutzt werden sollen. Das Wesen des Wohnsitzes im steuerrechtlichen Sinne besteht somit darin, dass objektiv die Wohnung ihrem Inhaber jederzeit (wann immer er es wünscht) als Bleibe zur Verfügung steht und von ihm auch subjektiv zur entsprechenden Nutzung bestimmt ist. In dieser zur objektiven Eignung hinzutretenden subjektiven Bestimmung liegt der Unterschied zwischen dem bloßen Aufenthaltnehmen in einer Wohnung und dem Wohnsitz (BFH-Urteil vom 22. April 1994 III R 22/92, BStBl II 1994, 887).
16 
Nach diesen Rechtsprechungsgrundsätzen steht zur Überzeugung des Senats fest, dass B seinen Wohnsitz in Deutschland ab September 2002 aufgegeben hat. Bei Beurteilung dieser Tatfrage kommt es vor allem auf Gesichtspunkte wie Lebensalter des Kindes, Anpassung an die deutschen Lebensverhältnisse, Dauer des Auslandsaufenthalts bzw. dessen von vorne herein bestehende zeitliche Begrenzung, Art der Unterbringung im Ausbildungsland und Verfügbarkeit von Wohnraum im inländischen Elternhaus an. Bei der danach vorzunehmenden Abwägung sprechen vorliegend mehr Beweisanzeichen dafür, dass B ab September 2002 seinen Wohnsitz bei der Klägerin aufgegeben hat, als dafür, dass er ihn beibehalten hat.
17 
Das Gericht unterstellt im Streitfall, dass die objektiven Tatbestandsmerkmale des steuerrechtlichen Wohnsitzbegriffs erfüllt sind. Nach dem klägerischen Vortrag war es gewährleistet, dass B bei der Klägerin zu jeder Zeit Wohnraum als Bleibe zur Verfügung stand. So stand ihm in der Wohnung seiner Eltern ein entsprechend ausgestattetes Zimmer zur gemeinsamen Nutzung mit seinem Bruder bereit. Dass in dieses, während seines Aufenthalts, zusätzlich eine Matratze als Schlafgelegenheit hineingelegt werden muss, widerspricht diesem Ergebnis nicht. Es ist durchaus üblich, sich, vor allem in beengten Verhältnissen, entsprechend zu behelfen.
18 
Allerdings liegt das ebenfalls für die Beibehaltung eines Wohnsitzes notwendige subjektive Tatbestandsmerkmal nicht vor. B ist zwar in Deutschland geboren worden und bis zu seinem 13. Lebensjahr dort zur Schule gegangen. Allerdings ist er bereits mit 12 Jahren in eine Schule nach Jordanien gegangen, zu einem Zeitpunkt also, in dem Kinder in besonderem Maße eine Bezugsperson brauchen, die sich in erreichbarer räumlicher Nähe befinden muss. Zu diesem Zeitpunkt sind sie auch zumeist noch nicht in der Lage, Beziehungen bei größerer räumlicher Entfernung über längere Zeit eigenständig aufrechtzuerhalten (so auch Urteil des Hessischen Finanzgerichts vom 30. August 2005 3 K 1152/03).
19 
Bei dieser Fallkonstellation ist eine Lösung der familiären Bindungen seit September 2002 erfolgt, weil für B ein mehrjähriger, u.zw. acht bis neun Jahre dauernder, und nicht nur ein vorübergehender Auslandsaufenthalt geplant ist. Zwar steht eine vorübergehende räumliche Trennung vom Wohnort einer Beibehaltung eines Wohnsitzes nicht entgegen. Allein die räumliche Trennung von den Eltern während eines Schulbesuchs oder Studiums im Ausland hat keine Auflösung der familiären Bindungen zur Folge und führt zu keiner Verlagerung des Schwerpunkts der Lebensverhältnisse an den Ausbildungsort. Allerdings handelt es sich im Streitfall, entgegen der Ansicht der Klägerin, nicht mehr um einen nur vorübergehenden Auslandsaufenthalt. Dieser liegt nach Ansicht der Rechtsprechung, der sich der Senat anschließt, bei Zeiträumen von lediglich drei bis fünf Jahren vor (Urteil des BFH vom 23. November 2000 VI R 107/99, BStBl II 2001, 294), jedenfalls nicht bei solchen von acht bis neun Jahren.
20 
Die jährlich etwa sechs Wochen dauernde Anwesenheit B`s in der elterlichen Wohnung in Deutschland (jeweils drei Wochen im Sommer und im Winter) ändert an diesem Ergebnis, unabhängig von ihrem Grund (schulorganisatorisch oder privat), nichts. Sie reicht bei von vornherein auf mehr als einem Jahr angelegten Auslandsaufenthalten, insbesondere bei minderjährigen Kindern in B`s Alter, nicht aus, um einen Wohnsitz beizubehalten. Die Rechtsprechung geht sogar davon aus, dass Aufenthalte in der elterlichen Wohnung in den Schulferien von insgesamt noch nicht einmal drei Monaten im Jahr nicht ausreichen, um die Aufrechterhaltung eines Inlandswohnsitzes anzunehmen (BFH-Urteil vom 23. November 2000 VI R 165/99, BStBl II 2001, 279 und Beschluss des BFH vom 5. Februar 2004 VIII B 271/03). Solche Aufenthalte während der Schulferien kommen nicht einem Aufenthalt mit Wohncharakter gleich. Sie bewirken kein zwischenzeitliches Wohnen in der elterlichen Wohnung (vgl. Urteil des FG Münster vom 4. März 2004 8 K 4209/02 Kg). Vielmehr haben sie lediglich Besuchscharakter. Die Zeit, die B mit seiner Familie in den Ferien in der Türkei verbrachte ist hierbei im Übrigen nicht zu berücksichtigen. Abgesehen davon, dass sie selbst bei Berücksichtigung den bei den Eltern verbrachten Zeitraum nicht entscheidungserheblich erhöhen würde, kommt es darauf an, dass das Kind die schulfreie Zeit in der elterlichen Wohnung verbringt. Ein möglicher Besuch der ansonsten in Deutschland lebenden Eltern in Jordanien würde auch nicht zur Annahme eines Wohnsitzes B`s in Deutschland führen.
21 
Auch die Absicht B`s, nach Abschluss der Schulausbildung an den bisherigen Wohnort zurückzukehren, reicht allein nicht aus, um vom Fortbestand des bisherigen Wohnsitzes während des Ausbildungsaufenthalts auszugehen. Die Rückkehrabsicht bei einem zeitlich beschränkten Auslandsaufenthalt, der - wie hier - ausschließlich der Schul- und Berufsausbildung dient, besagt nichts darüber, ob der Wohnsitz im Inland während der Dauer des Auslandsaufenthalts beibehalten oder aber aufgegeben und nach Rückkehr neu begründet wird (BFH-Urteil vom 23. November 2000 VI R 165/99, a. a. O.; Beschluss des BFH vom 21. Oktober 2005 III B 99/05, Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des Bundesfinanzhofs - BFH/NV -  2006, 300-301). Der Inlandswohnsitz wird in solchen Fällen nur dann beibehalten, wenn das Kind entweder seinen Lebensmittelpunkt weiterhin am bisherigen Wohnort hat oder zwar keinen einheitlichen Lebensmittelpunkt mehr hat, aber nunmehr über zwei Schwerpunkte der Lebensverhältnisse (zwei Wohnsitze) verfügt, von denen einer am bisherigen Wohnort liegt. Letzteres ist aber nur dann gegeben, wenn nach den äußeren Umständen der Lebensmittelpunkt zeitlich und örtlich zwei Wohnungen in verschiedenen Orten zuzuordnen ist und so zwei Schwerpunkte der Lebensverhältnisse gebildet worden sind. Dieses ist im Streitfall nicht erkennbar.
22 
Der Hinweis der Klägerin auf gewisse formelle Umstände, wie ihr Vorbringen, B sei beim Einwohnermeldeamt der Stadt X in Deutschland gemeldet, ändert an diesem Ergebnis nichts. Der Wohnsitz richtet sich, wie dargestellt wurde, nach den tatsächlichen Gegebenheiten. Formellrechtliche Merkmale gehören hierzu nicht. Von daher trifft es auch nicht zu, wenn die Klägerin meint, deutsche Kinder behielten ihren Wohnsitz in Deutschland bei, wenn sie zum Schulbesuch ins Ausland gingen, ausländische Kinder hingegen nicht.
23 
Auch die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthalts (§ 9 AO) im Inland kommt nicht in Betracht. Nach § 9 AO hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er dort nicht nur vorübergehend verweilt. Die Sechsmonatsfrist in § 9 Satz 2 AO enthält einen Anhaltspunkt dafür, welche Aufenthaltsdauer nicht mehr als nur vorübergehend anzusehen ist. Entscheidend ist also, ob ein mehr als sechs Monate dauernder Aufenthalt im Inland geplant war. Daran fehlt es im Streitfall.
24 
2. Nachdem das Einverständnis beider Beteiligter vorlag hielt es das Gericht für sachgerecht, gemäß § 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung (FGO) ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden.
25 
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.

Gründe

 
12 
1. Die zulässige Klage ist unbegründet. Die Beklagte hat zu Recht die von der Klägerin beantragte Gewährung von Kindergeld für B abgelehnt.
13 
Zwar hat die Klägerin als Ausländerin mit Wohnsitz im Inland, die im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung ist und nicht zur vorübergehenden Dienstleistung in das Inland entsandt ist, Anspruch auf Kindergeld nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 EStG. Ihr Sohn B gehört aber nicht zu den Kindern, die nach § 63 EStG zu berücksichtigen sind. Denn nach § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG werden die Kinder nicht berücksichtigt, die weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland, in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einem Staat haben, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum Anwendung findet.
14 
Zum einen zählt Jordanien nicht zu den in § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG genannten Staaten, zum anderen hatte B im Streitzeitraum weder seinen Wohnsitz noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland.
15 
Die Frage, ob eine natürliche Person im Inland einen Wohnsitz hat, beurteilt sich nach  § 8 Abgabenordnung (AO). Danach kommt es darauf an, ob die betreffende Person im Inland eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass sie die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Der Begriff des Wohnsitzes im Sinne von § 8 AO setzt neben zum dauerhaften Wohnen geeigneten Räumlichkeiten das Innehaben der Wohnung in dem Sinne voraus, dass die betreffende Person tatsächlich über sie verfügen kann und sie als Bleibe entweder ständig benutzt oder sie doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit, wenn auch in größeren Zeitabständen, aufsucht. Ein nur gelegentliches Verweilen während unregelmäßig aufeinander folgender kurzer Zeiträume, etwa zu Erholungszwecken, reicht nicht aus. Anders als das bürgerliche Recht, das die Begründung und die Aufgabe des Wohnsitzes als rechtsgeschäftliche Willenserklärungen ausgestaltet hat (§§ 7, 8 Bürgerliches Gesetzbuch - BGB -), knüpft § 8 AO nur an die tatsächlichen Verhältnisse an. Einen Wohnsitz im Sinne von § 8 AO hat jemand also dann, wenn die objektiven Umstände darauf schließen lassen, dass er die Räume innehat und dass sie von ihm als Wohnung genutzt werden sollen. Das Wesen des Wohnsitzes im steuerrechtlichen Sinne besteht somit darin, dass objektiv die Wohnung ihrem Inhaber jederzeit (wann immer er es wünscht) als Bleibe zur Verfügung steht und von ihm auch subjektiv zur entsprechenden Nutzung bestimmt ist. In dieser zur objektiven Eignung hinzutretenden subjektiven Bestimmung liegt der Unterschied zwischen dem bloßen Aufenthaltnehmen in einer Wohnung und dem Wohnsitz (BFH-Urteil vom 22. April 1994 III R 22/92, BStBl II 1994, 887).
16 
Nach diesen Rechtsprechungsgrundsätzen steht zur Überzeugung des Senats fest, dass B seinen Wohnsitz in Deutschland ab September 2002 aufgegeben hat. Bei Beurteilung dieser Tatfrage kommt es vor allem auf Gesichtspunkte wie Lebensalter des Kindes, Anpassung an die deutschen Lebensverhältnisse, Dauer des Auslandsaufenthalts bzw. dessen von vorne herein bestehende zeitliche Begrenzung, Art der Unterbringung im Ausbildungsland und Verfügbarkeit von Wohnraum im inländischen Elternhaus an. Bei der danach vorzunehmenden Abwägung sprechen vorliegend mehr Beweisanzeichen dafür, dass B ab September 2002 seinen Wohnsitz bei der Klägerin aufgegeben hat, als dafür, dass er ihn beibehalten hat.
17 
Das Gericht unterstellt im Streitfall, dass die objektiven Tatbestandsmerkmale des steuerrechtlichen Wohnsitzbegriffs erfüllt sind. Nach dem klägerischen Vortrag war es gewährleistet, dass B bei der Klägerin zu jeder Zeit Wohnraum als Bleibe zur Verfügung stand. So stand ihm in der Wohnung seiner Eltern ein entsprechend ausgestattetes Zimmer zur gemeinsamen Nutzung mit seinem Bruder bereit. Dass in dieses, während seines Aufenthalts, zusätzlich eine Matratze als Schlafgelegenheit hineingelegt werden muss, widerspricht diesem Ergebnis nicht. Es ist durchaus üblich, sich, vor allem in beengten Verhältnissen, entsprechend zu behelfen.
18 
Allerdings liegt das ebenfalls für die Beibehaltung eines Wohnsitzes notwendige subjektive Tatbestandsmerkmal nicht vor. B ist zwar in Deutschland geboren worden und bis zu seinem 13. Lebensjahr dort zur Schule gegangen. Allerdings ist er bereits mit 12 Jahren in eine Schule nach Jordanien gegangen, zu einem Zeitpunkt also, in dem Kinder in besonderem Maße eine Bezugsperson brauchen, die sich in erreichbarer räumlicher Nähe befinden muss. Zu diesem Zeitpunkt sind sie auch zumeist noch nicht in der Lage, Beziehungen bei größerer räumlicher Entfernung über längere Zeit eigenständig aufrechtzuerhalten (so auch Urteil des Hessischen Finanzgerichts vom 30. August 2005 3 K 1152/03).
19 
Bei dieser Fallkonstellation ist eine Lösung der familiären Bindungen seit September 2002 erfolgt, weil für B ein mehrjähriger, u.zw. acht bis neun Jahre dauernder, und nicht nur ein vorübergehender Auslandsaufenthalt geplant ist. Zwar steht eine vorübergehende räumliche Trennung vom Wohnort einer Beibehaltung eines Wohnsitzes nicht entgegen. Allein die räumliche Trennung von den Eltern während eines Schulbesuchs oder Studiums im Ausland hat keine Auflösung der familiären Bindungen zur Folge und führt zu keiner Verlagerung des Schwerpunkts der Lebensverhältnisse an den Ausbildungsort. Allerdings handelt es sich im Streitfall, entgegen der Ansicht der Klägerin, nicht mehr um einen nur vorübergehenden Auslandsaufenthalt. Dieser liegt nach Ansicht der Rechtsprechung, der sich der Senat anschließt, bei Zeiträumen von lediglich drei bis fünf Jahren vor (Urteil des BFH vom 23. November 2000 VI R 107/99, BStBl II 2001, 294), jedenfalls nicht bei solchen von acht bis neun Jahren.
20 
Die jährlich etwa sechs Wochen dauernde Anwesenheit B`s in der elterlichen Wohnung in Deutschland (jeweils drei Wochen im Sommer und im Winter) ändert an diesem Ergebnis, unabhängig von ihrem Grund (schulorganisatorisch oder privat), nichts. Sie reicht bei von vornherein auf mehr als einem Jahr angelegten Auslandsaufenthalten, insbesondere bei minderjährigen Kindern in B`s Alter, nicht aus, um einen Wohnsitz beizubehalten. Die Rechtsprechung geht sogar davon aus, dass Aufenthalte in der elterlichen Wohnung in den Schulferien von insgesamt noch nicht einmal drei Monaten im Jahr nicht ausreichen, um die Aufrechterhaltung eines Inlandswohnsitzes anzunehmen (BFH-Urteil vom 23. November 2000 VI R 165/99, BStBl II 2001, 279 und Beschluss des BFH vom 5. Februar 2004 VIII B 271/03). Solche Aufenthalte während der Schulferien kommen nicht einem Aufenthalt mit Wohncharakter gleich. Sie bewirken kein zwischenzeitliches Wohnen in der elterlichen Wohnung (vgl. Urteil des FG Münster vom 4. März 2004 8 K 4209/02 Kg). Vielmehr haben sie lediglich Besuchscharakter. Die Zeit, die B mit seiner Familie in den Ferien in der Türkei verbrachte ist hierbei im Übrigen nicht zu berücksichtigen. Abgesehen davon, dass sie selbst bei Berücksichtigung den bei den Eltern verbrachten Zeitraum nicht entscheidungserheblich erhöhen würde, kommt es darauf an, dass das Kind die schulfreie Zeit in der elterlichen Wohnung verbringt. Ein möglicher Besuch der ansonsten in Deutschland lebenden Eltern in Jordanien würde auch nicht zur Annahme eines Wohnsitzes B`s in Deutschland führen.
21 
Auch die Absicht B`s, nach Abschluss der Schulausbildung an den bisherigen Wohnort zurückzukehren, reicht allein nicht aus, um vom Fortbestand des bisherigen Wohnsitzes während des Ausbildungsaufenthalts auszugehen. Die Rückkehrabsicht bei einem zeitlich beschränkten Auslandsaufenthalt, der - wie hier - ausschließlich der Schul- und Berufsausbildung dient, besagt nichts darüber, ob der Wohnsitz im Inland während der Dauer des Auslandsaufenthalts beibehalten oder aber aufgegeben und nach Rückkehr neu begründet wird (BFH-Urteil vom 23. November 2000 VI R 165/99, a. a. O.; Beschluss des BFH vom 21. Oktober 2005 III B 99/05, Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des Bundesfinanzhofs - BFH/NV -  2006, 300-301). Der Inlandswohnsitz wird in solchen Fällen nur dann beibehalten, wenn das Kind entweder seinen Lebensmittelpunkt weiterhin am bisherigen Wohnort hat oder zwar keinen einheitlichen Lebensmittelpunkt mehr hat, aber nunmehr über zwei Schwerpunkte der Lebensverhältnisse (zwei Wohnsitze) verfügt, von denen einer am bisherigen Wohnort liegt. Letzteres ist aber nur dann gegeben, wenn nach den äußeren Umständen der Lebensmittelpunkt zeitlich und örtlich zwei Wohnungen in verschiedenen Orten zuzuordnen ist und so zwei Schwerpunkte der Lebensverhältnisse gebildet worden sind. Dieses ist im Streitfall nicht erkennbar.
22 
Der Hinweis der Klägerin auf gewisse formelle Umstände, wie ihr Vorbringen, B sei beim Einwohnermeldeamt der Stadt X in Deutschland gemeldet, ändert an diesem Ergebnis nichts. Der Wohnsitz richtet sich, wie dargestellt wurde, nach den tatsächlichen Gegebenheiten. Formellrechtliche Merkmale gehören hierzu nicht. Von daher trifft es auch nicht zu, wenn die Klägerin meint, deutsche Kinder behielten ihren Wohnsitz in Deutschland bei, wenn sie zum Schulbesuch ins Ausland gingen, ausländische Kinder hingegen nicht.
23 
Auch die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthalts (§ 9 AO) im Inland kommt nicht in Betracht. Nach § 9 AO hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er dort nicht nur vorübergehend verweilt. Die Sechsmonatsfrist in § 9 Satz 2 AO enthält einen Anhaltspunkt dafür, welche Aufenthaltsdauer nicht mehr als nur vorübergehend anzusehen ist. Entscheidend ist also, ob ein mehr als sechs Monate dauernder Aufenthalt im Inland geplant war. Daran fehlt es im Streitfall.
24 
2. Nachdem das Einverständnis beider Beteiligter vorlag hielt es das Gericht für sachgerecht, gemäß § 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung (FGO) ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden.
25 
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.

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