Urteil vom Finanzgericht Baden-Württemberg - 3 K 3046/14

Tenor

1. Der Lohnsteuer-Nachforderungsbescheid für 2008 bis 2011 vom 29. Oktober 2013 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 14. August 2014 wird dahingehend geändert, dass der Nachforderungsbetrag für das Jahr 2008 um 15.974,11 EUR (davon Lohnsteuer 14.262,60 EUR, Solidaritätszuschlag 784,44 EUR, pauschale Kirchensteuer 927,07 EUR) und für das Jahr 2011 um 22.006,22 EUR (davon Lohnsteuer 19.736,52 EUR, Solidaritätszuschlag 1.085,51 EUR, pauschale Kirchensteuer 1.184,19 EUR) reduziert wird.

2. Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren wird für notwendig erklärt.

3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Ermöglicht der Kostenfestsetzungsbeschluss eine Vollstreckung im Wert von mehr als 1.500 EUR, hat die Klägerin in Höhe des vollstreckbaren Kostenerstattungsanspruches Sicherheit zu leisten. Bei einem vollstreckbaren Kostenerstattungsanspruch bis zur Höhe von 1.500 EUR kann der Beklagte der vorläufigen Vollstreckung widersprechen, wenn die Klägerin nicht zuvor in Höhe des vollstreckbaren Kostenanspruchs Sicherheit geleistet hat.

4. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

 
Streitig ist in erster Linie, ob die Klägerin infolge eines beim falschen Finanzamt eingelegten Einspruchs die Einspruchsfrist versäumt hat bzw. ob ihr insoweit Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist. Die Beteiligten stimmen darin überein, dass der angefochtene Lohnsteuer-Nachforderungsbescheid materiell zumindest zum Teil rechtswidrig ist (bzw. wäre).
Die Klägerin ist eine Aktiengesellschaft schweizerischen Rechts [ ... ]. Die Klägerin ist in Deutschland beschränkt steuerpflichtig (vgl. Aktenvermerk, Rechtsbehelfsakte Bl. 59). Sie behält für ihre im Inland beschäftigten Arbeitnehmer Lohnsteuer ein und führt diese aufgrund von Lohnsteuer-Anmeldungen an den Beklagten, das Finanzamt, ab.
Das zentral zuständige Finanzamt X (vgl. Rechtsbehelfsakte Bl. 32) führte im Juli/August 2013 bei der Klägerin eine Lohnsteuer-Außenprüfung durch. Hinsichtlich der Prüfungsanordnung und des Prüfungsberichts wird auf Bl. 34 ff. der Gerichtsakte und Bl. 56 ff. der Lohnsteuerprüfungsakte (Arbeitgeber) Bezug genommen. Auf der Grundlage des Prüfungsberichts erließ das beklagte Finanzamt den streitgegenständlichen Nachforderungsbescheid vom 29. Oktober 2013 (Dienstag). Mit diesem Bescheid forderte das Finanzamt von der Klägerin für die Jahre 2008 bis 2011 einen Gesamtbetrag von 43.923,66 EUR für Lohnsteuer, Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer nach (davon insgesamt 17.745,46 EUR für das Jahr 2008, 847,47 EUR für das Jahr 2009, 794,31 EUR für das Jahr 2010 und 24.536,42 EUR für das Jahr 2011). Zugleich hob das Finanzamt den Vorbehalt der Nachprüfung für die Zeit vom 1. Januar 2008 bis zum 31. Dezember 2011 auf. Wegen des genauen Inhalts des Nachforderungsbescheids und der keinen Hinweis auf die Möglichkeit einer elektronischen Einspruchseinlegung enthaltenden Rechtsbehelfsbelehrung wird auf Bl. 33 der Gerichtsakte verwiesen.
Der 1. November 2013 (Freitag) war in Baden-Württemberg ein gesetzlicher Feiertag (Allerheiligen; vgl. Kalender Baden-Württemberg 2013,Gerichtsakte Bl. 206).
Mit Schreiben vom 28. November 2013 legte die Klägerin ohne Einschaltung eines Rechts- oder Steuerberaters gegen den Lohnsteuer-Nachforderungsbescheid vom 29. Oktober 2013 Einspruch ein und beantragte Aussetzung der Vollziehung. Aus dem Einspruchsschreiben gehen das Datum des angefochtenen Nachforderungsbescheids und die Steuernummer der Klägerin (xxxxx/xxxxx) hervor. Die Klägerin richtete das Einspruchsschreiben ebenso wie die nachfolgende Einspruchsbegründung vom 2. Dezember 2013 versehentlich an das Finanzamt Y.
Das Einspruchsschreiben ging laut Eingangsstempel am Freitag, den 29. November 2013 beim örtlich unzuständigen Finanzamt Y ein, die Einspruchsbegründung ging dort am Mittwoch, den 4. Dezember 2013 ein. Gemäß der Einspruchsbegründung vom 2. Dezember 2013 beantragte die Klägerin die Aussetzung der Vollziehung und die Reduzierung des Nachforderungsbetrags um einen Gesamtbetrag von 38.411,43 EUR, und zwar für 2008 in Höhe von 15.974,11 EUR und für 2011 in Höhe von 22.437,32 EUR. Die begehrten Korrekturen betrafen zwei von der Klägerin in den Jahren 2008 und 2011 durchgeführte Mitarbeiterfeste, die den wesentlichen Teil des Nachforderungsbetrags von 43.923,66 EUR ausmachen. Im Hinblick auf den genauen Inhalt des Einspruchsschreibens und der Einspruchsbegründung wird auf Bl. 41 ff. der Gerichtsakte verwiesen.
Die Einspruchsfrist endete am 4. Dezember 2013 (Mittwoch). Nach Aktenlage durchlief das Original-Einspruchsschreiben in der Zeit vom 29. November bis zum 4. Dezember 2013 beim Finanzamt Y die folgenden Stationen (vgl. Aktenauszug, Gerichtsakte Bl. 155 ff.): Nach Abzeichnung durch den Vorsteher (Herr V) und den Zeugen (Herr W, damaliger Sachgebietsleiter der Lohnsteuer-Arbeitgeberstelle des Finanzamts Y) gelangte das Schreiben zur Zeugin (Frau P, Sachbearbeiterin der Lohnsteuer-Arbeitgeberstelle des Finanzamts Y). Die Zeugin war am 3. Dezember 2013 aufgrund einer Dienstreise nicht im Finanzamt tätig. Am 4. Dezember 2013 erkannte sie sowohl die Unzuständigkeit des Finanzamts Y als auch die Zuständigkeit des beklagten Finanzamts. Noch am selben Tag, dem letzten Tag der Einspruchsfrist, leitete sie den Original-Einspruch durch eine selbst unterzeichnete und per Kurier versandte Kurzmitteilung zuständigkeitshalber an das beklagte Finanzamt weiter. Der Betreff des Weiterleitungsschreibens vom 4. Dezember 2013 lautet: „Einspruch gegen Lohnsteuernachforderungsbescheid vom 29.10.2013 der Firma A Holding AG, Steuernummer: xxxxx/xxxxx“. Am Freitag, den 6. Dezember 2013 ging das weitergeleitete Schreiben beim zuständigen beklagten Finanzamt ein.
Am 9. Dezember 2013 informierte der Zeuge (Sachgebietsleiter) das beklagte Finanzamt zunächst telefonisch, dass die Einspruchsbegründung ebenfalls beim Finanzamt Y eingegangen sei und sie „vorab per Mail“ übermittelt werde (Gerichtsakte Bl. 167 R.). Unter Bezugnahme auf das Telefonat übersandte er am 9. Dezember 2013 per E-Mail die Einspruchsbegründung mit Antrag auf Aussetzung der Vollziehung als Anlage im pdf-Format. Mit Kurzmitteilung ebenfalls vom 9. Dezember 2013, die am 10. Dezember 2013 beim beklagten Finanzamt einging, übersandte er das Original der Einspruchsbegründung und wies darauf hin, der Vorgang sei „wegen des AdV-Antrages vorweg per eMail übersandt“ worden.
Mit Schreiben vom 9. Dezember 2013 informierte das beklagte Finanzamt die Klägerin, dass ihr Einspruch nicht innerhalb der am 4. Dezember 2013 abgelaufenen Einspruchsfrist eingegangen sei, und stellte zugleich anheim, Wiedereinsetzungsgründe vorzutragen (Gerichtsakte Bl. 44). Die Klägerin beantragte daraufhin mit Schreiben vom 16. Dezember 2013 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (Gerichtsakte Bl. 165 R.). Die zuständigen Mitarbeiter (Leiter Personal und Personalreferentin) begründeten den Antrag damit, dass ihnen leider entgangen sei, dass bei der einheitlichen Lohnsteuer-Außenprüfung von drei geprüften Firmen bei einer (der Klägerin) nicht das Finanzamt Y, sondern das beklagte Finanzamt zuständig sei. Verstärkt worden sei „dieses Nichtwahrnehmen“ durch die Tatsache, dass ein zentraler Lohnsteuer-Außenprüfer des Finanzamts Y (richtig: des Finanzamts X) eingesetzt worden sei. Sie baten „auf dem Billigkeitsweg, uns diesen Irrtum nicht zum Nachteil werden zu lassen und um Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand“.
10 
Das Finanzamt lehnte den Antrag unter Hinweis auf den Beschluss des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 22. November 2004 III B 81/04 (BFH/NV 2005, 327) und das Verschulden bezüglich der fehlerhaften Adressierung des Einspruchsschreibens mit Schreiben vom 17. Dezember 2013 (Rechtsbehelfsakte Bl. 23) ab. Die Klägerin erhielt den Antrag auf Wiedereinsetzung aufrecht und ließ ihn durch die prozessbevollmächtigte Kanzlei vertiefend begründen (vgl. Rechtsbehelfsakte Bl. 28 ff.).
11 
Im Hinblick auf den weiteren Verlauf des Einspruchsverfahrens und die vom Finanzamt vorgenommenen Prüfungsschritte wird auf die Rechtsbehelfsakte Bezug genommen. Durch die mit der vorliegenden Klage angefochtene Einspruchsentscheidung vom 14. August 2014 verwarf das beklagte Finanzamt den Einspruch der Klägerin schließlich als unzulässig. Es sieht ihn nach gründlicher Auswertung der Rechtsprechung und Literatur als verfristet an, hält die Voraussetzungen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand für nicht gegeben und betrachtet den Lohnsteuer-Nachforderungsbescheid vom 29. Oktober 2013 daher als verfahrensrechtlich nicht mehr korrigierbar. Wegen der Einzelheiten der Einspruchsentscheidung wird auf Bl. 190 ff. der Gerichtsakte Bezug genommen.
12 
Zwischen den Beteiligten besteht Einigkeit, dass der Nachforderungsbescheid nach Maßgabe der höchstrichterlichen Rechtsprechung des BFH (vgl. zu den Urteilen vom 12. Dezember 2012 VI R 79/10 sowie vom 16. Mai 2013 VI R 94/10 und VI R 7/11 die Pressemitteilungen vom 20. Februar 2013 und vom 9. Oktober 2013, Gerichtsakte Bl. 121 f.) materiell rechtswidrig ist, soweit er die Nachforderung in Höhe von 15.974,11 EUR für das Personalfest anlässlich der xxx-Jahr-Feier im Jahr 2008 betrifft.
13 
Streit bezüglich der materiellen Rechtmäßigkeit besteht demgegenüber im Hinblick auf das anlässlich der Einweihung eines neuen Werks im Jahr 2011 von der Klägerin durchgeführte Mitarbeiterfest. Streitig war insoweit ursprünglich ein Nachforderungsbetrag in Höhe von 22.437,32 EUR. Das Finanzamt hat zwar anerkannt, dass dem Antrag der Klägerin, die maßgeblichen Gesamtkosten mit nur 65.480,01 EUR anzusetzen, entsprochen werden könnte (vgl. Gerichtsakte Bl. 84). Keine Einigkeit konnte zwischen den Beteiligten jedoch bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung erzielt werden über die zu berücksichtigende Teilnehmerzahl und daher auch über die Frage, ob die 110-Euro-Freigrenze eingehalten (so die Klägerin) oder aber überschritten ist (so das Finanzamt). Wegen aller Einzelheiten des diesbezüglichen Vortrags der Beteiligten - aus der Sicht des Finanzamt handelt es sich um einen hilfsweisen Vortrag - wird Bezug genommen auf Bl. 84, 96 f., 127, 147 f. (Finanzamt: 110,61 EUR) und auf Bl. 91 ff., 132 ff. (Klägerin: 105,95 EUR, 108,09 EUR bzw. 108,58 EUR) der Gerichtsakte. Abweichend von der Klägerin, die zunächst 644 teilnehmende Mitarbeiter geltend machte, geht das Finanzamt von nur 592 nachgewiesenen Personen (Mitarbeitern) aus, die am Mitarbeiterfest 2011 teilgenommen haben (vgl. Gerichtsakte Bl. 31, 127). Vom Catering-/Partyservice abgerechnet wurden 618 Portionen (vgl. Gerichtsakte Bl. 93). Hinsichtlich aller weiteren vorliegenden Unterlagen zum Mitarbeiterfest 2011 wird ergänzend Bezug genommen auf Bl. 43, 152 ff. und 195 ff. der Gerichtsakte, ferner wird auf die dem Gericht vorgelegten Behördenakten verwiesen.
14 
Mit der im Anschluss an die Einspruchsentscheidung fristgemäß erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Die Klage richte sich gegen die Auffassung, dass der Einspruch gegen den Nachforderungsbescheid wegen verspäteter Einlegung unzulässig und eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht zu gewähren sei. Nach Maßgabe der neueren BFH-Rechtsprechung zur lohnsteuerlichen Behandlung bei Betriebsveranstaltungen sei die Klage begründet.
15 
Das Finanzamt Y habe versäumt, seiner Pflicht zur unverzüglichen Weiterleitung des Einspruchsschreibens an das beklagte Finanzamt nachzukommen. Nach § 357 Abs. 2 Satz 4 der Abgabenordnung (AO) sei das Anbringen eines Einspruchs bei der unrichtigen Behörde unschädlich, sofern der Einspruch innerhalb der Rechtsbehelfsfrist der richtigen Behörde übermittelt werde. Bei der Übermittlung des Einspruchs an die richtige Behörde sei die den Einspruch erhaltende Behörde an gewisse zeitliche Vorgaben gebunden. Es liege ausdrücklich nicht in ihrem freien Ermessen, wann der Einspruch an die richtige Behörde zu übermitteln sei. Gemäß dem Anwendungserlass zur Abgabenordnung (AEAO) habe die erhaltende Behörde den Einspruch unverzüglich an die zuständige Behörde weiterzuleiten, sofern sie leicht und einwandfrei erkennen könne, dass sie für den erhaltenen Einspruch nicht zuständig sei und welche Behörde zuständig sei.
16 
Im vorliegenden Fall sei das Finanzamt Y, das mit „YY“ beginnende Steuernummern habe, die erhaltende Behörde. Das beklagte Finanzamt sei die zuständige Behörde, dieses habe mit „XX“ beginnende Steuernummern. Das Einspruchsschreiben vom 28. November 2013 führe in der Betreffzeile in größerer und fett gedruckter Schrift die Steuernummer der Klägerin (xxxxx/xxxxx) auf, die auf die alleinige und unzweifelhafte Zuständigkeit des beklagten Finanzamts hingewiesen habe. Die vom nicht zuständigen Finanzamt Y zur Ermittlung des zuständigen Finanzamts durchgeführte sog. LUNA-Abfrage (länderumfassende Namensauskunft) sei überhaupt nicht notwendig gewesen. Anhand der Steuernummer der Klägerin sei die alleinige Zuständigkeit des beklagten Finanzamts zweifelsfrei, eindeutig und ohne zusätzlichen Arbeitsaufwand festzustellen gewesen. Dies hätte bereits am Tag des Posteingangs (29. November 2013) den Mitarbeitern der Poststelle, spätestens aber dem Vorsteher auffallen müssen. Eine Weiterleitung hätte bereits am Tage des Posteingangs per Post erfolgen müssen. Eine Weiterleitung durch den behördeninternen Kurierdienst sei nicht geeignet, Schreiben im ordentlichen Geschäftsgang zu transportieren, da bekanntermaßen der Kurierdienst längere Transportzeiten habe. Warum weder dem Vorsteher (grüner Strich) noch dem Sachgebietsleiter (blauer Strich) die auf das Finanzamt Z hinweisende Steuernummer aufgefallen sei, sei in keiner Weise nachvollziehbar. Wäre das Finanzamt Y seiner Pflicht zur unverzüglichen Weiterleitung des Einspruchsschreibens am 29. November 2013, spätestens jedoch am 2. Dezember 2013 (Tag der Kenntnisnahme des Sachgebietsleiters) nachgekommen, wäre das Einspruchsschreiben noch problemlos innerhalb der Rechtsbehelfsfrist bis zum 4. Dezember 2013 (bei einer Postlaufzeit von zwei Tagen) beim beklagten Finanzamt eingegangen.
17 
Die von dem beklagten Finanzamt geschilderte Handhabung der Behandlung eines eingegangenen Einspruchs entspreche auch nicht dem ordentlichen Geschäftsgang. Erkennbar fristgebundene Schriftsätze wie ein Einspruchsschreiben seien unverzüglich weiterzuleiten. Durch das unzweifelhaft schuldhafte Versäumnis des Finanzamts Y, den Einspruch unverzüglich weiterzuleiten, habe die Rechtsbehelfsfrist nicht gewahrt werden können. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei zu gewähren, der Einspruch sei ex tunc als fristgerecht und somit als zulässig zu qualifizieren. Dies gelte auch deshalb, weil die für die Klägerin tätigen Mitarbeiter ihre Tätigkeit im schweizerischen W ausübten und insofern sogar davon hätten ausgehen dürfen, dass die Bekanntgabefiktion gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 2 AO greife (Fiktion der Bekanntgabe einen Monat nach Aufgabe zur Post bei einer Übermittlung in das Ausland).
18 
Wenn das Finanzamt sich in der Einspruchsentscheidung auf diverse Urteile des Bundesgerichtshofs (BGH) und des BFH stütze, so sei daraus keinesfalls eine gefestigte Rechtsprechung abzuleiten. Im Wesentlichen wiesen die Urteile darauf hin, dass stets nach den Umständen des Einzelfalls zu entscheiden sei, und zwar „mit der Erwartung einer Weiterleitung im ordentlichen Geschäftsgang“ (Hinweis auf Beispiel des BGH-Beschlusses vom 27. Februar 2013 XII ZB 6/13, NJW 2013, 1308). Entscheide man nach den Umständen des vorliegenden Einzelfalles, sei eindeutig zu erkennen, dass durch die Poststelle, den Vorsteher oder den Sachgebietsleiter des Finanzamts Y die Zuständigkeit des beklagten Finanzamts anhand der Steuernummer frühzeitig hätte erkannt werden müssen und der fristgemäße Eingang des Einspruchsschreibens beim beklagten Finanzamt problemlos möglich gewesen wäre. Das Finanzamt Y habe die zeitnahe Weiterleitung schuldhaft versäumt.
19 
Auch angesichts der Vorabübersendung der Einspruchsbegründung per E-Mail vom 9. Dezember 2013 (Hinweis auf Rechtsbehelfsakte Bl. 16, vgl. Gerichtsakte Bl. 163) sei fraglich, ob die Weiterleitung des Einspruchs per Behördenkurier am 4. Dezember 2013 noch im ordnungsgemäßen Geschäftsgang erfolgt sei. Dies sei zu verneinen, weshalb der Klägerin der verspätete Eingang ihres Einspruchs nicht angelastet werden könne. Die Vorabübermittlung der Einspruchsbegründung sei wegen der Dringlichkeit des darin gestellten Antrags auf Aussetzung der Vollziehung erfolgt. Gleiches könne und müsse für einen fristbehafteten Einspruch gelten. Anstelle der Übersendung des Einspruchs per Behördenkurier wäre daher nach Ansicht der Klägerin nur der Versand per E-Mail eine Übermittlung im ordentlichen Geschäftsgang gewesen. Wäre der Einspruch noch am 4. Dezember 2013 per E-Mail weitergeleitet worden, wäre er noch innerhalb der Rechtsbehelfsfrist beim zuständigen beklagten Finanzamt eingegangen. Bestätigt sieht sich die Klägerin insoweit auch durch § 357 AO in seiner ab dem 1. August 2013 geltenden Fassung und die in dessen Absatz 1 Satz 1 gesetzlich normierte Möglichkeit der elektronischen Einspruchseinlegung, die von der Finanzverwaltung gemäß AEAO bereits zuvor anerkannt worden sei.
20 
Die Klägerin beantragt,
den Lohnsteuer-Nachforderungsbescheid für 2008 bis 2011 vom 29. Oktober 2013 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 14. August 2014 dahingehend zu ändern, dass der Nachforderungsbetrag für das Jahr 2008 um 15.974,11 EUR und für das Jahr 2011 um 22.006,22 EUR reduziert wird,
hilfsweise die Revision zuzulassen.
21 
Das Finanzamt beantragt,
die Klage abzuweisen, hilfsweise Beweis zu erheben über die Anzahl der Teilnehmer am Mitarbeiterfest 2011 und hilfsweise die Revision zuzulassen.
22 
Es hält unter Verweis auf die Einspruchsentscheidung und die dort zitierte höchstrichterliche Rechtsprechung an seiner Auffassung fest, dass der Einspruch nicht fristgemäß eingegangen und die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht zu gewähren sei. Der Einspruch sei daher zu Recht als unzulässig verworfen worden. Ursächlich für den verspäteten Eingang des Einspruchs beim zuständigen beklagten Finanzamt sei die falsche Adressierung des Einspruchsschreibens gewesen. Das Finanzamt Y treffe auch insofern kein Mitverschulden, als es das Schreiben mit der Dienstpost weitergeleitet habe. Die Vorgehensweise entspreche dem ordnungsgemäßen Geschäftsgang.
23 
Bei Sichtung der Eingangspost könne davon ausgegangen werden, dass entsprechend adressierte Schreiben auch tatsächlich für die im Adressfeld genannte Behörde bestimmt seien. Der Klagebegründung könne nicht gefolgt werden, wenn darin unterstellt werde, dass bei unzutreffender Adressierung die Steuernummer immer zutreffend angegeben werde und deshalb im vorliegenden Fall eine nähere Prüfung der örtlichen Zuständigkeit des Finanzamts Y gar nicht erforderlich gewesen wäre. In der Praxis trete viel häufiger der Fall auf, dass ein Schriftstück zwar an das zutreffende Finanzamt adressiert sei, aber eine falsche Steuernummer angegeben werde. Sowohl die Poststelle als auch der Vorsteher des Finanzamts Y, denen ohnehin nicht die Prüfung der örtlichen Zuständigkeit obliege, hätten daher zunächst davon ausgehen können, dass das Einspruchsschreiben tatsächlich für das Finanzamt Y bestimmt gewesen sei. Dies umso mehr deshalb, weil auch mehrere Tochterfirmen der Klägerin steuerlich beim Finanzamt Y geführt würden. Aufgrund ihrer Zuständigkeit für Lohnsteuer-Haftungsbescheide und Lohnsteuer-Nachforderungsbescheide sei die Lohnsteuer-Arbeitgeberstelle auch für die Prüfung der örtlichen Zuständigkeit zuständig. Die Weiterleitung mit dem Kurierdienst habe dem ordentlichen Geschäftsgang entsprochen. Soweit auf die normalen Postlaufzeiten innerhalb Deutschlands und auf den zu erwartenden Eingang am Folgetag verwiesen werde, seien die von der Klägerin angeführten BFH-Entscheidungen nicht auf den vorliegenden Streitfall übertragbar. Jedenfalls lasse sich daraus kein Rechtssatz dahingehend ableiten, dass ein an eine unzuständige Behörde adressiertes Schriftstück umgehend mit der Deutschen Post weitergeleitet werden müsse, damit dieses innerhalb eines Tages der tatsächlich zuständigen Behörde zugehe.
24 
Die Vorschrift des § 122 AO gelte nur für die Bekanntgabe von Verwaltungsakten und sei in Bezug auf die fristgerechte Einlegung eines Rechtsbehelfs nicht sinngemäß anwendbar. Unabhängig davon gehe das Finanzamt davon aus, dass die Klägerin das Schreiben in Deutschland zur Post gegeben habe, nachdem der Briefverkehr mit den deutschen Finanzämtern über die inländische Postfachanschrift abgewickelt worden sei.
25 
Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 2. September 2002 1 BvR 476/01 (BStBl II 2002, 835) bestehe für Behörden grundsätzlich die Verpflichtung, leicht und einwandfrei als fehlgeleitete fristwahrende Einspruchsschreiben erkennbare Schriftstücke im Zuge des ordnungsgemäßen Geschäftsgangs ohne schuldhaftes Zögern an die zuständige Behörde weiterzuleiten. Es entspreche aber laut BGH dem ordnungsgemäßen Geschäftsgang, wenn ein solches Schreiben per Kurier im Rahmen des regelmäßigen Aktentransports an das zuständige Gericht bzw. hier die zuständige Behörde weitergeleitet werde. Eine weitergehende Verpflichtung etwa zu einer beschleunigten Weiterleitung an die zuständige Behörde oder zu einer Unterrichtung des Beteiligten oder seines Bevollmächtigten durch Telefonat oder Telefax bestehe gerade nicht. Denn ansonsten würde dem Beteiligten die Verantwortung für die Ermittlung des richtigen Adressaten fristgebundener Schriftsätze vollständig abgenommen und dem nicht empfangszuständigen Gericht bzw. der nicht empfangszuständigen Behörde übertragen. Dieser Rechtsprechung des BGH habe sich der BFH ausdrücklich angeschlossen und ergänzend darauf hingewiesen, dass das unzuständige Gericht bzw. die unzuständige Behörde auch nicht verpflichtet sei, eine eigenständige Fristberechnung zugunsten der Steuerpflichtigen vorzunehmen.
26 
Falls das erkennende Gericht zu dem Schluss gelange, dass dem Finanzamt Y eine taggleiche, fristwahrende Weiterleitung an das zuständige beklagte Finanzamt per Fax oder ein telefonischer Hinweis an die Klägerin zumutbar gewesen sei und dies die Ursächlichkeit der fehlerhaften Adressierung des Einspruchsschreibens durch die Klägerin so weit überlagere, dass die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren sei, stehe dies im eindeutigen Widerspruch zur Rechtsprechung des BGH und des BFH (Hinweise insbesondere auf die jüngsten Beschlüsse des BFH vom 18. August 2014 III B 16/14, BFH/NV 2015, 42 und des BGH vom 27. Juli 2016 XII ZB 203/15, NJW-RR 2016, 1340 und vom 25. Januar 2017 XII ZB 504/15, NJW-RR 2017, 386 sowie ergänzend auf den Nichtannahmebeschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG vom 3. Januar 2001 1 BvR 2147/00, NJW 2001, 1343). Nach der zuletzt genannten verfassungsgerichtlichen Entscheidung zu einem zivilgerichtlichen Ausgangsverfahren würden die Anforderungen an die richterliche Fürsorgepflicht überspannt, wenn den Parteien und ihren Prozessbevollmächtigten die Verantwortung für die Einhaltung der Formalien vollständig abgenommen und den unzuständigen Gerichten übertragen würden. Es bestehe von Verfassungs wegen für ein im vorausgegangenen Rechtszug mit der Sache befasstes Gericht und damit erst recht für das im Berufungsverfahren erstmals zuständige Gericht keine Verpflichtung, die Partei oder ihre Prozessbevollmächtigten innerhalb der Berufungsfrist durch Telefonat oder Telefax von der Einreichung der Berufung beim unzuständigen Gericht zu unterrichten. Diese Grundsätze gelten nach Auffassung des Finanzamts entsprechend auch für das außergerichtliche finanzbehördliche Rechtsbehelfsverfahren.
27 
Der Berichterstatter führte mit den Beteiligten am 13. September 2016 einen Termin zur Erörterung des Sach- und Streitstands durch (Protokoll siehe Gerichtsakte Bl. 109 ff.). Er wies insbesondere darauf hin, dass sich dann, wenn man die vom Finanzamt gewählte Form der Weiterleitung als nicht entscheidend für die Fristwahrung bzw. für die „Unschädlichkeit“ im Sinne des § 357 Abs. 2 Satz 4 AO ansehen wollte, darüber nachdenken ließe, ob im Interesse der Gleichmäßigkeit der Besteuerung (vgl. § 85 Satz 1 AO und Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes -GG-) und vor dem Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG das Tatbestandsmerkmal „übermittelt wird“ statt bezogen auf den Zeitpunkt des Eingangs bei der zuständigen Behörde als auf den Zeitpunkt der Absendung des Einspruchs durch die unzuständige Behörde bezogen ausgelegt werden könnte.
28 
Am 16. März 2017 fasste der Senat einen Beweisbeschluss (Gerichtsakte Bl. 152 ff.), auf dessen Grundlage in der mündlichen Verhandlung die Zeugen P und W vernommen wurden. Hinsichtlich des Verhandlungsprotokolls wird auf Bl. 200 ff. der Gerichtsakte Bezug genommen (mit CD der Zeugenaussagen).
29 
Dem Gericht liegen die Akten des Finanzamts vor (Rechtsbehelfsakten, Lohnsteuerprüfungsakten, Prüfer-Handakten). Die Prozessbevollmächtigte hat antragsgemäß Akteneinsicht erhalten.

Entscheidungsgründe

 
30 
Die zulässige Klage ist begründet. Entgegen der Auffassung des Finanzamts ist die Klage nicht schon deshalb unbegründet, weil die Klägerin einerseits die Einspruchsfrist versäumt hat und ihr andererseits Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gewährt werden kann. Vielmehr blieb die Anbringung des Einspruchs bei dem örtlich unzuständigen Finanzamt Y nach § 357 Abs. 2 Satz 4 AO verfahrensrechtlich unschädlich, weil er dem beklagten Finanzamt als der zuständigen Behörde noch vor Ablauf der Einspruchsfrist im Sinne der Vorschrift übermittelt wurde; auf die Frage der Wiedereinsetzung gemäß § 110 AO kommt es nicht mehr an (1). Materiell ist der von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung gestellte Antrag nach Maßgabe der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur sog. 110-EUR-Freigrenze bei Betriebsveranstaltungen in vollem Umfang begründet (2).
31 
1. a) Die für den Streitfall relevanten Rechtsgrundsätze sind in weiten Teilen geklärt, nach Auffassung des erkennenden Senats nicht jedoch in (mindestens) einem für die Entscheidung erheblichen Punkt, nämlich der Auslegung des § 357 Abs. 2 Satz 4 AO.
32 
aa) Gemäß § 355 Abs. 1 Satz 1 AO ist der Einspruch innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts einzulegen. Ein schriftlicher Verwaltungsakt, der durch die Post übermittelt wird, gilt nach § 122 Abs. 2 AO als bekannt gegeben bei einer Übermittlung im Inland am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post (Nr. 1) und bei einer Übermittlung im Ausland einen Monat nach der Aufgabe zur Post (Nr. 2), außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsakts und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen.
33 
Die Monatsfrist für die Einspruchseinlegung beginnt nach § 356 Abs. 1 Satz 1 AO nur, wenn der Beteiligte über den Einspruch und die Finanzbehörde, bei der er einzulegen ist, deren Sitz und die einzuhaltende Frist in der für den Verwaltungsakt verwendeten Form belehrt worden ist. Ist die Belehrung unterblieben oder unrichtig erteilt, so ist die Einlegung des Einspruchs nur binnen eines Jahres seit Bekanntgabe des Verwaltungsakts zulässig, es sei denn, dass die Einlegung vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war oder schriftlich oder elektronisch darüber belehrt wurde, dass ein Einspruch nicht gegeben sei (§ 356 Abs. 1 Satz 2 AO).
34 
Weitere Verfahrensvorschriften zur Einlegung des Einspruchs sind in § 357 AO normiert. Der Einspruch ist schriftlich oder elektronisch einzureichen oder zur Niederschrift zu erklären (Satz 1). Es genügt, wenn aus dem Einspruch hervorgeht, wer ihn eingelegt hat (Satz 2), eine unrichtige Bezeichnung des Einspruchs schadet nicht (Satz 3, früher Satz 4). Die in § 357 Abs. 1 Satz 3 AO in ihrer bis zum 31. Dezember 2016 gültigen Fassung noch erwähnte Zulässigkeit der Einspruchseinlegung durch Telegramm wurde durch das Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens vom 18. Juli 2016 (BGBl I S. 1679) mit Wirkung ab dem 1. Januar 2017 aufgehoben (vgl. zum betreffenden Gesetzentwurf BTDrucks 18/7457, S. 91 zu Nr. 45, wonach Telegramme in der Verwaltungspraxis ihre praktische Bedeutung verloren haben dürften und daher auf die bisherige ohnehin lediglich klarstellende Aussage, dass auch eine Einspruchseinlegung durch Telegramm zulässig sei, verzichtet werden könne).
35 
Durch § 357 Abs. 1 Satz 1 AO in seiner seit dem 1. August 2013 gültigen Fassung wird im Gesetz ausdrücklich die Möglichkeit eröffnet, den Einspruch auf elektronischem Wege einzureichen (vgl. dazu BFH-Urteil vom 13. Mai 2015 III R 26/14, BStBl II 2015, 790). Die explizite Erwähnung der elektronischen Einlegung wurde durch das Gesetz zur Förderung der elektronischen Verwaltung sowie zur Änderung weiterer Vorschriften vom 25. Juli 2013 (BGBl I S. 2749) eingeführt. In der Begründung zum diesbezüglichen Gesetzentwurf (BTDrucks 17/11473, S. 52 zu Nr. 4) wird zu § 357 Abs. 1 Satz 2 AO erläutert, die Neufassung berücksichtige nunmehr auch im Wortlaut der Vorschrift die Möglichkeit der elektronischen Einspruchseinlegung. Die Ergänzung in § 357 Abs. 1 Satz 1 („oder elektronisch“) stelle klar, dass unter der Voraussetzung der Zugangseröffnung (§ 87a Abs. 1 AO) ein Einspruch auch elektronisch ohne qualifizierte elektronische Signatur eingelegt werden könne. Eine Rechtsänderung sei hiermit nicht verbunden, da es im Geltungsbereich der AO bereits der Erlasslage entsprochen habe, dass der Einspruch auch elektronisch ohne qualifizierte elektronische Signatur eingelegt werden könne (Hinweis auf Nummer 1 Satz 2 des damaligen AEAO zu § 357 AO). Die bisherige Erlasslage zur AO habe sich bewährt und werde daher kodifiziert.
36 
Nach § 357 Abs. 2 Satz 1 AO ist der Einspruch im Normalfall bei der Behörde anzubringen, deren Verwaltungsakt angefochten wird oder bei der ein Antrag auf Erlass eines Verwaltungsakts gestellt worden ist. Sonderfälle werden in § 357 Abs. 2 Sätze 2 und 3 AO geregelt. Ein Einspruch, der sich gegen die Feststellung von Besteuerungsgrundlagen oder gegen die Festsetzung eines Steuermessbetrags richtet, kann auch bei der zur Erteilung des Steuerbescheids zuständigen Behörde angebracht werden (Satz 2). Ein Einspruch, der sich gegen einen Verwaltungsakt richtet, den eine Behörde auf Grund gesetzlicher Vorschrift für die zuständige Finanzbehörde erlassen hat, kann auch bei der zuständigen Finanzbehörde angebracht werden (Satz 3). Die schriftliche oder elektronische Anbringung bei einer anderen Behörde ist gemäß § 357 Abs. 2 Satz 4 AO unschädlich, wenn der Einspruch vor Ablauf der Einspruchsfrist einer der Behörden übermittelt wird, bei der er nach den Sätzen 1 bis 3 angebracht werden kann.
37 
Unter den in § 110 AO genannten Voraussetzungen ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Über den Antrag auf Wiedereinsetzung entscheidet die Finanzbehörde, die über die versäumte Handlung zu befinden hat.
38 
bb) Nach der Rechtsprechung des BVerfG gebietet die Gewährleistung des effektiven Rechtsschutzes durch Art. 19 Abs. 4 GG eine Auslegung und Anwendung der die Einlegung von Rechtsbehelfen regelnden Vorschriften, die die Beschreitung des eröffneten Rechtswegs nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren (vgl. dazu den stattgebenden Kammerbeschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 2. September 2002 1 BvR 476/01, BStBl II 2002, 835 mit Verweis auf BVerfGE 77, 275 <284>; 78, 88 <99>, den Nichtannahmebeschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG vom 23. Juni 2000 1 BvR 830/00, NVwZ 2000, 1163 und den stattgebenden Kammerbeschluss der 3. Kammer des Ersten Senats des BVerfG vom 31. Juli 2001 1 BvR 1061/00, NVwZ 2001, 1392; vgl. auch das dem in BStBl II 2002, 835 veröffentlichten Beschluss des BVerfG vorgehende Urteil des VII. BFH-Senats vom 19. Dezember 2000 VII R 7/99, BStBl II 2001, 158 und das diesem Beschluss nachfolgende Urteil des VII. BFH-Senats vom 22. Oktober 2002 VII R 53/02, juris). Dem Richter ist es verwehrt, durch übermäßig strenge Handhabung verfahrensrechtlicher Vorschriften den Anspruch auf gerichtliche Durchsetzung des materiellen Rechts unzumutbar zu verkürzen (vgl. BVerfGE 84, 366 <369 f.> und BVerfG in BStBl II 2002, 835). Dies hat der Richter auch bei der Prüfung, ob Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist, zu berücksichtigen, weshalb die Anforderungen an das Vorliegen der Voraussetzungen für die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach den hierfür maßgeblichen Vorschriften nicht überspannt werden dürfen (vgl. BVerfG in BStBl II 2002, 835). Im Zweifel verdient diejenige Interpretation eines Gesetzes den Vorzug, die dem Bürger den Zugang zu den Gerichten eröffnet (vgl. BVerfGE 15, 275 <281 f.> und BVerfG in BStBl II 2002, 835).bb) Nach der Rechtsprechung des BVerfG gebietet die Gewährleistung des effektiven Rechtsschutzes durch Art. 19 Abs. 4 GG eine Auslegung und Anwendung der die Einlegung von Rechtsbehelfen regelnden Vorschriften, die die Beschreitung des eröffneten Rechtswegs nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren (vgl. dazu den stattgebenden Kammerbeschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 2. September 2002 1 BvR 476/01, BStBl II 2002, 835 mit Verweis auf BVerfGE 77, 275 <284>; 78, 88 <99>, den Nichtannahmebeschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG vom 23. Juni 2000 1 BvR 830/00, NVwZ 2000, 1163 und den stattgebenden Kammerbeschluss der 3. Kammer des Ersten Senats des BVerfG vom 31. Juli 2001 1 BvR 1061/00, NVwZ 2001, 1392; vgl. auch das dem in BStBl II 2002, 835 veröffentlichten Beschluss des BVerfG vorgehende Urteil des VII. BFH-Senats vom 19. Dezember 2000 VII R 7/99, BStBl II 2001, 158 und das diesem Beschluss nachfolgende Urteil des VII. BFH-Senats vom 22. Oktober 2002 VII R 53/02, juris). Dem Richter ist es verwehrt, durch übermäßig strenge Handhabung verfahrensrechtlicher Vorschriften den Anspruch auf gerichtliche Durchsetzung des materiellen Rechts unzumutbar zu verkürzen (vgl. BVerfGE 84, 366 <369 f.> und BVerfG in BStBl II 2002, 835). Dies hat der Richter auch bei der Prüfung, ob Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist, zu berücksichtigen, weshalb die Anforderungen an das Vorliegen der Voraussetzungen für die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach den hierfür maßgeblichen Vorschriften nicht überspannt werden dürfen (vgl. BVerfG in BStBl II 2002, 835). Im Zweifel verdient diejenige Interpretation eines Gesetzes den Vorzug, die dem Bürger den Zugang zu den Gerichten eröffnet (vgl. BVerfGE 15, 275 <281 f.> und BVerfG in BStBl II 2002, 835).
39 
cc) Die Finanzverwaltung hat den stattgebenden Kammerbeschluss des BVerfG vom 2. September 2002 (BStBl II 2002, 835) in die Verwaltungsanweisungen zur Anwendung der Abgabenordnung übernommen. Ziffer 2 des AEAO zu § 357 AO lautet:
40 
„Nach § 357 Abs. 2 Satz 4 AO genügt die Einlegung des Einspruchs bei einer unzuständigen Behörde, sofern der Einspruch innerhalb der Einspruchsfrist einer der Behörden übermittelt wird, bei der er nach § 357 Abs. 2 Sätze 1 bis 3 AO angebracht werden kann; der Steuerpflichtige trägt jedoch das Risiko der rechtzeitigen Übermittlung. Kann eine Behörde leicht und einwandfrei erkennen, dass sie für einen bei ihr eingegangenen Einspruch nicht und welche Finanzbehörde zuständig ist, hat sie diesen Einspruch unverzüglich an die zuständige Finanzbehörde weiterzuleiten. Geschieht dies nicht und wird dadurch die Einspruchsfrist versäumt, kommt Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 110 AO) in Betracht (BVerfG-Beschluss vom 2.9.2002, 1 BvR 476/01, BStBl II S. 835).“
41 
b) Ausgehend von diesen Maßstäben ist die Klage hinsichtlich des in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrags in vollem Umfang begründet. Der Senat gelangt zu der Stattgabe deshalb, weil er die Anbringung des Einspruchs beim unzuständigen Finanzamt Y unter den Umständen des Streitfalls (unzweifelhafte Weiterleitung bzw. Absendung durch das Finanzamt Y am letzten Tag der Einspruchsfrist) gemäß § 357 Abs. 2 Satz 4 AO als unschädlich beurteilt (aa). Die Frage, ob der Klägerin andernfalls - nämlich bei angenommener Verfristung ihres Einspruchs und trotz ihres insoweit nicht in Abrede zu stellenden Verschuldens - unter den gegebenen besonderen Umständen des Einzelfalls gemäß § 110 AO in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG aus verfassungsrechtlichen Gründen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren wäre, kann dahinstehen (bb), auch auf weitere Fragen kommt es nicht mehr an (cc und dd). Die 110-EUR-Freigrenze wurde nach der Überzeugung des erkennenden Senats beim Mitarbeiterfest 2011 eingehalten (näher dazu unten 2).
42 
aa) Aufgrund der am letzten Tag der Einspruchsfrist von der Zeugin vorgenommenen Übermittlung des Einspruchsschreibens an das zuständige beklagte Finanzamt wurde die Einspruchsfrist gemäß der „Unschädlichkeitsklausel“ des § 357 Abs. 2 Satz 4 AO gewahrt. Übermittelt wird ein Einspruch vom unzuständigen an das zuständige Finanzamt nach Wortlaut, Sinn und Zweck und vor dem Hintergrund der im Grundgesetz verankerten Garantie des effektiven Rechtsschutzes nicht erst im Zeitpunkt des Übermittlungserfolgs (Eingang beim zuständigen Finanzamt), sondern bereits im Zeitpunkt der Vornahme der Übermittlungshandlung (Absenden durch das unzuständige Finanzamt an das zuständige Finanzamt).
43 
(1) Der Nachforderungsbescheid vom 29. Oktober 2013 wurde ausweislich der Akten des beklagten Finanzamts von diesem am Dienstag, den 29. Oktober 2013 (Datum des Bescheids) abgesandt. Die Einspruchsfrist beträgt im Streitfall einen Monat und lief am 4. Dezember 2013 ab.
44 
In der Rechtsprechung des BFH ist für den Bereich des Steuerrechts seit dem Urteil vom 14. Oktober 2003 IX R 68/98 (BStBl II 2003, 898) anerkannt, dass die Dreitagesfrist nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO in den Fällen des § 108 Abs. 3 AO verlängert wird (vgl. BFH-Beschluss vom 5. Mai 2014 III B 85/13, BFH/NV 2014, 1186, mit Hinweis auf die BFH-Urteile vom 4. November 2003 IX R 4/01, BFH/NV 2004, 159, vom 17. Dezember 2003 I R 4/03, BFH/NV 2004, 758, vom 6. Oktober 2004 IX R 60/03, BFH/NV 2005, 327, vom 11. März 2004 VII R 13/03, BFH/NV 2004, 1065, und vom 19. November 2009 IV R 89/06, BFH/NV 2010, 818 sowie die BFH-Beschlüsse vom 30. November 2006 XI B 13/06, BFH/NV 2007, 389 und vom 5. August 2011 III B 76/11, BFH/NV 2011, 1845).
45 
Die Beteiligten gehen hiernach in zutreffender Weise davon aus, dass die Frist für die Einlegung des Einspruchs erst am 4. Dezember 2013 ablief. Wegen des Feiertags am 1. November 2013 (Freitag), dem dritten Tag nach der Aufgabe zur Post, und wegen des Wochenendes vom 2./3. November 2013 war Tag der Bekanntgabe gemäß §§ 122 Abs. 2 Nr. 1, 108 Abs. 3 AO erst der Montag, der 4. November 2013. Aufgrund des Inlandspostfachs der Klägerin waren die Voraussetzungen einer Auslandsbekanntgabe (§ 122 Abs. 2 Nr. 2 AO) trotz der Auslandsansässigkeit der Klägerin nicht erfüllt. Da die Klägerin auch keinen späteren tatsächlichen Zugang dargelegt hat (vgl. § 122 Abs. 2 AO), endete die einmonatige Einspruchsfrist ausgehend vom Fristbeginn am Dienstag, den 5. November 2013 0:00 Uhr gemäß § 355 Abs. 1 AO in Verbindung mit den §§ 122 Abs. 2 Nr. 1, 108 Abs. 1, 3 AO und den §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) am Mittwoch, den 4. Dezember 2013, 24:00 Uhr.
46 
(2) Der versehentlich an den falschen Adressaten gerichtete Einspruch ging zwar schon am Freitag, den 29. November 2013 beim unzuständigen Finanzamt Y ein, ferner ging auch die Einspruchsbegründung ebenfalls noch innerhalb der Monatsfrist am Mittwoch, den 4. Dezember 2013 beim unzuständigen Finanzamt Y ein. Dies allein vermag die Einspruchsfrist nach § 357 Abs. 2 AO jedoch nicht zu wahren. Denn beim Finanzamt Y handelt es sich weder um die erlassende Behörde im Sinne des § 357 Abs. 2 Satz 1 AO, deren Bescheid die Klägerin angefochten hat, noch konnte die Klägerin ihr Einspruchsschreiben vom 28. November 2013 gemäß § 357 Abs. 2 Sätze 2 und 3 AO beim Finanzamt Y anbringen. Die Anbringung war vielmehr nur beim beklagten Finanzamt möglich.
47 
Von entscheidender Bedeutung für die Wahrung der Einspruchsfrist ist daher § 357 Abs. 2 Satz 4 AO. Danach ist die schriftliche oder elektronische Anbringung bei einer anderen Behörde dann unschädlich, wenn der Einspruch vor Ablauf der Einspruchsfrist einer der Behörden übermittelt wird, bei der er nach den Sätzen 1 bis 3 angebracht werden kann. Im Streitfall hat das unzuständige Finanzamt Y das Einspruchsschreiben am 4. Dezember 2013 und damit noch vor Ablauf der Einspruchsfrist an das zuständige beklagte Finanzamt übermittelt.
48 
Der erkennende Senat übersieht nicht, dass das Prädikat des Konditionalsatzes („übermittelt wird“) in der finanzgerichtlichen Rechtsprechung und im steuerrechtlichen Schrifttum bisher, wenn es überhaupt interpretiert wurde, im Sinne des Zeitpunkts des Zugangs des Einspruchsschreibens bei der zuständigen Behörde verstanden wurde (vgl. das Urteil des FG Hamburg vom 5. Mai 2006 2 K 92/05, juris, in dem die Auslegungsfrage in einem Fall mit Eingang des Einspruchs bei der zuständigen Finanzbehörde einen Tag nach Ablauf der Einspruchsfrist trotz Entscheidungserheblichkeit nicht behandelt wurde und die Norm des § 357 Abs. 2 Satz 4 AO unerwähnt geblieben ist; vgl. auch das Urteil des FG München vom 19. Oktober 2005 1 K 2894/05, juris und aus dem Schrifttum Bartone in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 357 AO, Rn. 41, Klein/Rätke, AO, 13. Aufl. 2016, § 357 Rz. 21, Keß in Schwarz/Pahlke, AO, § 357 Rz. 64 und Szymczak in Koch/Scholtz, AO, 5. Aufl. 1996, § 357 Rn. 11; etwas unklarer Szymczak, eKomm, § 357 AO, Rz. 11: „unschädlich, wenn diese Behörde den Einspruch bis zum Ablauf der Einspruchsfrist an die zuständige Finanzbehörde … weiterleitet. Im Gegensatz zu den Fällen des § 357 Abs. 2 Satz 2 und 3 AO trägt somit der Einspruchsführer das Risiko der rechtzeitigen Weiterleitung.“; mit Blick auf die Fallkonstellation des vorliegenden Streitfalls ebenfalls nicht ganz klar Siegers in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 357 AO, Rn. 38, wo ausgeführt wird, wenn der Einspruch innerhalb der Einspruchsfrist von der unzuständigen Behörde an eine der Behörden, bei denen ein Einspruch fristwahrend angebracht werden kann, gelange, wahre dies die Rechtsbehelfsfrist „nicht nur dann, wenn der Rechtsbehelf vor Fristablauf der zur Entscheidung berufenen Behörde zugeht, sondern auch, wenn er der Finanzbehörde, deren VA angefochten wird bzw. von der der Erlass eines VA begehrt wird, oder einer „Notadresse“ übermittelt wird (Absatz 2 Satz 4)“). Festzustellen ist zudem, dass im Schrifttum nicht selten nur der Gesetzeswortlaut des § 357 Abs. 2 Satz 4 AO wiedergegeben wird (vgl. zum Beispiel Hardtke in Kühn/von Wedelstädt, AO/FGO, 20. Auflage 2011, § 357 AO, Rn. 11, Hettler, Das außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren nach der Abgabenordnung, 1999, S. 71, Koenig/Cöster, AO, § 357 Rn. 26 und Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 357 AO, Rn. 26). Hinzu kommt, dass es in den meisten Fällen, die veröffentlichten Gerichtsentscheidungen zugrunde lagen, anders als in den vorstehend zitierten Urteilen des FG Hamburg und des FG München nicht auf die Frage ankam, ob der Einspruch der Einspruch innerhalb der Einspruchsfrist von der unzuständigen Behörde abgesandt worden war oder aber bereits bei der zuständigen Behörde angekommen war.
49 
(3) Nach Auffassung des erkennenden Senats hat das unzuständige Finanzamt Y den Einspruch im Streitfall im Sinne des Gesetzes bereits am 4. Dezember 2013 an das zuständige beklagte Finanzamt „übermittelt“. Übermittelt wird ein Einspruch nämlich nicht erst bei Eintritt des Übermittlungserfolgs (Eingang bei der zuständigen Behörde), sondern nach Wortlaut, Historie, Systematik und Zweck der Vorschrift sowie jedenfalls bei verfassungskonformer Auslegung bereits bei Vornahme der Übermittlungshandlung (Absendung durch die unzuständige Behörde).
50 
(a) Bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals „übermittelt wird“ ist wie bei jeder Auslegung einer gesetzlichen Vorschrift zunächst vom Wortlaut der Norm auszugehen. Übermitteln bedeutet nach dem Wortlautverständnis des Senats „bewirken, dass Informationen zu jemandem gelangen“. Im Duden Online-Wörterbuch wird die Bedeutung von „übermitteln“ wie folgt beschrieben: „(mithilfe von etwas) zukommen, an jemanden gelangen lassen; (als Mittler) überbringen“. Der Wortlaut erscheint im Hinblick auf die Frage, ob in § 357 Abs. 2 Satz 4 AO die Übermittlungshandlung oder aber der Übermittlungserfolg in Bezug genommen werden soll, in dem Sinne nicht ganz eindeutig, dass die Grenzen des Wortlauts wohl beide Auslegungsvarianten einschließen. Gleichwohl tendiert der erkennende Senat nach dem Wortlaut der Vorschrift zu dem Verständnis, dass ein Einspruch bereits dann übermittelt wird, wenn er von der weiterleitenden Behörde abgesandt wird, d.h. die Übermittlungshandlung vollzogen wird.
51 
(b) Die Historie des § 357 Abs. 2 Satz 4 AO führt gleichfalls zu keinem ganz eindeutigen Ergebnis. Erwähnenswert erscheint insofern § 249 Abs. 3 der Reichsabgabenordnung (RAO). Die Sätze 4 und 5 dieser Vorschrift lauteten: „Das Rechtsmittel ist in den Fällen der Sätze 2 und 3 der zuständigen Stelle zu übermitteln. Die schriftliche Anbringung bei einer anderen Behörde ist unschädlich, wenn das Rechtsmittel rechtzeitig der zur Entscheidung berufenen Stelle oder einer für eine frühere Rechtsstufe zuständigen Behörde übermittelt wird.“. Das Tatbestandsmerkmal „übermittelt wird“ war in § 249 Abs. 3 Satz 5 RAO ebenso enthalten wie in § 357 Abs. 2 Satz 4 AO, so dass sich schon damals das hier zu behandelnde Auslegungsproblem stellte. Verglichen mit „vor Ablauf der Einspruchsfrist“ noch etwas unpräziser gefasst war das Tatbestandsmerkmal „rechtzeitig“, ohne dass ein Bedeutungsunterschied bestanden hätte.
52 
§ 249 Abs. 3 Satz 4 RAO wurde sodann in die Abgabenordnung 1977 übernommen. § 357 Abs. 2 Satz 4 AO 1977 in seiner Fassung bis zum 31. Dezember 1995 lautete: „Der Rechtsbehelf ist in den Fällen der Sätze 2 und 3 der zuständigen Finanzbehörde zu übermitteln.“ Die frühere Fassung des Satzes 4 (§ 249 Abs. 3 RAO und § 357 Abs. 2 AO 1977) deutet eher auf eine Auslegung des Übermittelns im Sinne des Weiterleitens bzw. der Übermittlungshandlung hin (vgl. Keßin Schwarz/Pahlke, AO, § 357 Rz. 3 zum gestrichenen § 357 Abs. 2 S. 4 AO a.F., „wonach der bei dem FA des Folgebescheids eingelegte Rechtsbehelf gegen einen Grundlagenbescheid an die zuständige Finanzbehörde weiterzuleiten war“). Der Satz 4 des § 357 Abs. 2 AO 1977 wurde allerdings mit Wirkung ab dem 1. Januar 1996 aus dem Gesetz genommen, so dass der vorherige Satz 5 an dessen Stelle trat (vgl. Gesetz zur einkommensteuerlichen Entlastung von Grenzpendlern und anderen beschränkt steuerpflichtigen natürlichen Personen und zur Änderung anderer gesetzlicher Vorschriften - Grenzpendlergesetz - vom 24. Juni 1994, BGBl I S. 1395 <1400, 1405>; vgl. dazu BTDrucks 12/7427, S. 32 und 12/6959, S. 124 und 130, wo die Änderungen der §§ 355, 357 AO als „redaktionelle Änderungen“ beschrieben wurden).
53 
(c) Zu einem klareren Auslegungsergebnis führt demgegenüber die Systematik des Gesetzes (zum Begriff des Übermittelns vgl. die §§ 72a, 80a, 87a, 87b, 87d, 93a, 93c, 117, 117a, 117b, 117c, 122, 123, 138a, 139b, 150, 175b, 344, 383b AO) und vor allem die Systematik der §§ 355, 357 AO. Sie spricht für die Auslegung von „vor Ablauf der Einspruchsfrist … übermittelt wird“ im Sinne der Vornahme der Übermittlungshandlung durch die unzuständige Behörde vor Ablauf der Einspruchsfrist, ungeachtet des Zeitpunkts des späteren Eingangs des weitergeleiteten Einspruchs bei der zuständigen Behörde. Denn andernfalls entbehrte § 357 Abs. 2 Satz 4 AO insofern einer Regelungsnotwendigkeit, als der fristgemäße Eingang des Einspruchsschreibens bei der zuständigen Behörde schon nach der Grundnorm des § 355 Abs. 1 AO unproblematisch ist. Warum das Gesetz für einen ohnehin unproblematischen Fall ausdrücklich gesondert anordnen sollte, dass es „unschädlich“ ist, wenn der weitergeleitete Einspruch vor Ablauf der Einspruchsfrist bei der zuständigen Behörde eingeht, würde sich im Normgefüge nicht erschließen. Dass ein innerhalb einer gesetzlichen Frist bei der zutreffenden Instanz eingehender Rechtsbehelf im Hinblick auf die Einhaltung der Rechtsbehelfsfrist „unschädlich“ ist, bedürfte keiner Regelung, weil sich dies denknotwendig von selbst versteht. Wäre „übermittelt wird“ also im Sinne des Eintritts des Übermittlungserfolgs auszulegen, würde § 357 Abs. 2 Satz 4 AO ohne Grund eines eigenständigen Regelungsbereichs beraubt, den er nach dem Wortlaut der Vorschrift haben kann und nach seinem Zweck unter Berücksichtigung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz auch haben sollte.
54 
Die Existenz des § 357 Abs. 2 Satz 4 AO ergibt nur dann einen wirklichen Sinn, wenn für das Tatbestandsmerkmal „übermittelt wird“ genügt, dass der falsch angebrachte Einspruch von der unzuständigen Behörde, die ihn erhalten hat, im Sinne des Auf-den-Weg-Bringens bzw. des Absendens „weitergeleitet wird“. Zweck des § 357 Abs. 2 Satz 4 AO ist es, den sich an eine nach dem Gesetz (§ 357 Abs. 2 Sätze 1 bis 3 AO) ungeeignete Behörde wendenden Steuerpflichtigen unter bestimmten Voraussetzungen von den Folgen der Verfristung seines Einspruchs zu verschonen. Dies ist im Normkontext der §§ 355 ff., 110 AO insbesondere auch vor dem Hintergrund des Umstands zu sehen, dass einem - entgegen einer zutreffenden Rechtsbehelfsbelehrung (vgl. andernfalls § 356 Abs. 2 AO) - bei einer unzuständigen Behörde angebrachten Einspruch regelmäßig ein Sorgfaltsverstoß des Einspruchsführers zugrunde liegt mit der Folge, dass selbst bei leichter Fahrlässigkeit ein die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand grundsätzlich sperrendes Verschulden im Sinne des § 110 AO gegeben ist (vgl. dazu nur den BVerfG-Beschluss in BStBl II 2002, 835).
55 
(d) Im Rahmen der systematisch-teleologischen Auslegung des § 357 Abs. 2 Satz 4 AO ist schließlich ein Aspekt zu bedenken, der im vorliegenden Streitfall besonders deutlich wird und der sich anhand dessen sehr gut beschreiben lässt. Dieser Aspekt betrifft die Frage, wie die unzuständige Behörde, die ihre eigene Unzuständigkeit erkannt hat und zugleich positive Kenntnis von der zuständigen Behörde, dem Vorliegen eines Einspruchs und dessen Fristgebundenheit hat, mit diesem Wissen umgeht. Dies wiederum betrifft vor allen Dingen die Frage, wie sie ihrer durch Verwaltungsanweisung (vgl. AEAO zu § 357 AO, Ziff. 2) festgelegten Verpflichtung zur unverzüglichen Weiterleitung des Einspruchs nachkommt. Angesichts der erheblich divergierenden Konsequenzen der Fristwahrung einerseits bzw. der Fristversäumnis andererseits kann es für betroffene Einspruchsführer hierauf entscheidend ankommen. Legt man „übermittelt wird“ im Sinne der Übermittlungshandlung aus, so genügt für die Steuerpflichtigen das unverzügliche „Ob der Weiterleitung“, auf das „Wie der Weiterleitung“ (per Briefpost bzw. per Behördenkurier oder - gemessen an der vom Finanzamt angeführten höchstrichterlichen Rechtsprechung des BFH und des BGH möglicherweise überobligationsmäßig - per Fax bzw. per E-Mail mit pdf-Anlage) kommt es für die Unschädlichkeit im Sinne des § 357 Abs. 2 Satz 4 AO nicht mehr an. Eben dies erscheint im Interesse der Gleichmäßigkeit der Besteuerung (vgl. § 85 Satz 1 AO und Art. 3 Abs. 1 GG) aus rechtlichen wie auch aus praktischen Gründen vorzugswürdig. Ansonsten nämlich würde in Fällen wie dem vorliegenden nur ein „glücklicher“ Steuerpflichtiger von der Unschädlichkeit gemäß § 357 Abs. 2 Satz 4 AO profitieren können, bei dem die unzuständige Finanzbehörde möglicherweise überobligationsmäßig, wenn auch im Interesse effektiven Rechtsschutzes handelnd, bewirkt, dass der fehlerhaft angebrachte Einspruch beschleunigt und bei Bedarf sogar taggleich in den Machtbereich der zuständigen Behörde gelangt. Sinnvollerweise sollte es auf derartiges im Leben eher zufällig verteiltes Glück oder Pech eines Steuerpflichtigen im Interesse der Gleichmäßigkeit der Besteuerung nicht ankommen.
56 
(e) Für die hier vertretene Auslegung spricht hilfsweise auch das Argument verfassungskonformer Auslegung. Wie in den oben dargelegten Rechtsgrundsätzen ausgeführt, verdient nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 19 Abs. 4 GG im Zweifel diejenige Interpretation eines Gesetzes den Vorzug, die dem Bürger den Zugang zu den Gerichten eröffnet (vgl. BVerfGE 15, 275 <281 f.> und BVerfG in BStBl II 2002, 835). Ginge man also davon aus, dass die Auslegung des Tatbestandsmerkmals „übermittelt wird“ Zweifeln begegnet, spräche die Auslegung des § 357 Abs. 2 Satz 4 AO im Lichte des in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantierten Gebots effektiven Rechtsschutzes dafür, derjenigen Auslegung den Vorzug zu geben, die zur Fristwahrung und damit zur Zulässigkeit eines eingelegten Rechtsbehelfs führt.
57 
(f) Wertungsmäßig spricht auch die ihrerseits im Interesse effektiven Rechtsschutzes stehende Vorschrift des § 89 AO für das vom Senat als vorzugswürdig angesehene Auslegungsergebnis. Danach „soll“ die Finanzbehörde die Stellung von Anträgen oder die Berichtigung von Erklärungen oder Anträgen anregen, wenn diese offensichtlich nur versehentlich oder aus Unkenntnis unterblieben oder unrichtig abgegeben oder gestellt worden sind. Eine Finanzbehörde, die - wie hier - ihre eigene Unzuständigkeit erkannt hat, positive Kenntnis von der zuständigen Behörde, dem Vorliegen eines Einspruchs und dessen Fristgebundenheit hat, könnte den Einspruchsführer eines falsch angebrachten Einspruchs bei bekannten Kontaktdaten - wie etwa im vorliegenden Streitfall aus dem Einspruchsschreiben ersichtlich - auf diversen einfachen Wegen (beispielsweise per Telefon, Fax oder E-Mail), wenn auch möglicherweise überobligationsmäßig, über das erkennbare und erkannte Versehen informieren und so die Möglichkeit einer taggleichen Einspruchsanbringung bei der zuständigen Finanzbehörde durch den Einspruchsführer selbst eröffnen. In der finanzgerichtlichen Praxis ist indes zu beobachten, dass es erheblich wahrscheinlicher ist, dass - wie im Streitfall geschehen - Finanzbeamte eines Finanzamts telefonisch oder per E-Mail Finanzbeamte eines anderen Finanzamts kontaktieren, als dass sie auf eben diesem Weg mit Steuerpflichtigen oder ihren steuerlichen Beratern in Kontakt treten. Ausnahmen mögen auch hier die Regel bestätigen, von der ausgehend sich der erkennende Senat allerdings in seinem Auslegungsergebnis bestärkt sieht. Denn es erscheint sachlich nicht gerechtfertigt, Steuerpflichtige je nach der dem grundrechtlich geschützten Anspruch auf effektiven Rechtsschutzes dienenden „Kontaktfreudigkeit“ der im Einzelfall handelnden Finanzbeamten unterschiedlich zu behandeln. Durch die hier vertretene Auslegung des § 357 Abs. 2 Satz 4 AO wird eine wünschenswerte und auch aus verfassungsrechtlichen Gründen vorzugswürdige Gleichbehandlung bewirkt.
58 
(g) Erwähnt sei an dieser Stelle schließlich noch, dass die Auffassung des erkennenden Senats nicht im Widerspruch zu der Aussage steht, dass der Steuerpflichtige das Risiko der rechtzeitigen Übermittlung trägt (vgl. AEAO zu § 357 AO, Ziffer 2, Hardtke in Kühn/von Wedelstädt, AO/FGO, 20. Auflage 2011, § 357 AO, Rn. 11, Hettler, a.a.O., S. 71, Koenig/Cöster, AO, § 357 Rn. 26 und Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 357 AO, Rn. 26). Bei der Auslegung als „Bewirken der Übermittlung durch Weiterleitung“ bzw. als „Vornahme der Übermittlungshandlung“ trägt der Steuerpflichtige nämlich insoweit unverändert das Risiko der rechtzeitigen Übermittlung. Ungeachtet eher theoretischer Fälle der bewusst bzw. willkürlich verzögerten oder unterlassenen Weiterleitung, die gegebenenfalls über § 110 AO lösbar sind (vgl. BVerfG in BStBl II 2002, 835 zu solchen Fällen „willkürlichen, offenkundig nachlässigen und nachgewiesenen Fehlverhaltens“; vgl. auch Klein/Rätke, § 357 AO, Rz. 21 und Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 357 AO Rn. 2), lassen sich die praxistypischeren Fälle, zu denen der vorliegende Streitfall zu rechnen ist, über die „Unschädlichkeit“ gemäß § 357 Abs. 2 Satz 4 AO in angemessener Weise lösen.
59 
bb) Da das Finanzamt Y den Einspruch der Klägerin vor Ablauf der Einspruchsfrist, nämlich am letzten Tag vor Fristablauf am 4. Dezember 2013 an das zuständige beklagte Finanzamt übermittelt hat, blieb die Anbringung beim unzuständigen Finanzamt nach alledem im Streitfall zu Gunsten der Klägerin gemäß § 357 Abs. 2 Satz 4 AO unschädlich. Auf die Frage, wie die Vorschrift zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 110 AO) im Lichte des Art. 19 Abs. 4 GG mit Blick auf den konkreten Einzelfall andernfalls auszulegen wäre, muss nicht mehr eingegangen werden. Dies gilt auch für die vom Finanzamt zitierten Entscheidungen des BGH und des BFH.
60 
cc) Offenbleiben kann ferner die Frage, ob und gegebenenfalls welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, dass in der Rechtsbehelfsbelehrung des mit der Klage angegriffenen Nachforderungsbescheids vom 29. Oktober 2013 aufgrund eines Versehens des beklagten Finanzamts noch nicht auf die durch § 357 Abs. 1 Satz 1 AO in seiner seit dem 1. August 2013 gültigen Fassung nunmehr auch gesetzlich ausdrücklich eröffnete Möglichkeit, den Einspruch auf elektronischem Wege einzureichen (vgl. BFH-Urteile in BStBl II 2015, 790 und vom 18. Juni 2015 IV R 18/13, BFH/NV 2015, 1349), hingewiesen worden war (vgl. Gerichtsakte Bl. 33 R. unten).
61 
Die Rechtsbehelfsbelehrung muss dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz Rechnung tragen (vgl. nur BFH-Urteil vom 20. November 2013 X R 2/12, BStBl II 2014, 236 mit Verweis auf das BFH-Urteil vom 7. März 2006 X R 18/05, BStBl II 2006, 455 und Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG sowie auf Art. 19 Abs. 4 GG). In der bisherigen Rechtsprechung wurde eine Wiedergabe des Gesetzeswortlauts in der Rechtsbehelfsbelehrung für hinreichend und ein expliziter Hinweis auf die Möglichkeit der elektronischen Einlegung zur Vermeidung einer unrichtigen Belehrung nicht für erforderlich erachtet (vgl. die Entscheidungen des BFH vom 2. Februar 2010 III B 20/09, BFH/NV 2010, 830, vom 12. Oktober 2012 III B 66/12, BFH/NV 2013, 177, vom 12. Dezember 2012 I B 127/12, BStBl II 2013, 272, in BStBl II 2014, 236, vom 5. März 2014 VIII R 51/12, BFH/NV 2014, 1010, vom 18. März 2014 VIII R 33/12, BStBl II 2014, 922, vom 28. April 2015 VI R 65/13, BFH/NV 2015, 1074, in BFH/NV 2015, 1349 und vom 10. November 2016 X B 85/16, BFH/NV 2017, 261). Vor diesem Hintergrund wird nunmehr allerdings die Auffassung vertreten, dass es infolge der seit dem 1. August 2013 in § 357 Abs. 1 Satz 1 AO normierten Möglichkeit elektronischer Einspruchseinlegung erforderlich sein dürfte, hierauf in der Rechtsbehelfsbelehrung hinzuweisen (so Szymczak, eKomm, § 356 AO, Rz. 8 mit weiteren Nachweisen; vgl. a.a.O. auch § 366 AO, Rz. 4 zu der bislang noch etwas anders liegenden Frage der Rechtsbehelfsbelehrung in der Einspruchsentscheidung hinsichtlich einer Klage zum Finanzgericht, vgl. in diesem Kontext Leipold in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 55 FGO, Rz. 34a, Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 356 AO, Rn. 7 und Siegers in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 356 AO, Rn. 33 sowie das Urteil des VG Oldenburg vom 11. Januar 2016 11 A 892/15, juris).
62 
Soweit der BFH sich mit diesem Problem bisher befasst hat, hat er jedoch an der früheren Rechtsprechung festgehalten (vgl. Beschluss des VII. BFH-Senats vom 18. Januar 2017 VII B 158/16, BFH/NV 2017, 603; vgl. auch die Urteile des FG Berlin-Brandenburg vom 3. Juli 2014 10 K 10238/13, EFG 2014, 1893, des FG Hamburg vom 19. Mai 2016 2 K 138/15, juris - die betreffende Nichtzulassungsbeschwerde hat der VII. BFH-Senat durch Beschluss vom 13. Oktober 2016 VII B 93/16 als unzulässig verworfen - und vom 27. Februar 2017 6 K 141/16, EFG 2017, 1062; vgl. auch das frühere Urteil des VIII. BFH-Senats in BFH/NV 2014, 1010, in dem mangels Entscheidungserheblichkeit noch offen gelassen werden konnte, ob sich aufgrund der mit Wirkung ab 1. August 2013 durch das Gesetz zur Förderung der elektronischen Verwaltung sowie zur Änderung weiterer Vorschriften vom 25. Juli 2013 (BGBl I 2013, 2749) eingeführten Neufassung des § 357 Abs. 1 Satz 1 AO für danach erteilte Rechtsbehelfsbelehrungen etwas anderes ergebe).
63 
dd) Gleichfalls dahinstehen kann die Frage, ob die Klägerin sich als Aktiengesellschaft schweizerischen Rechts auf den Anspruch auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG berufen kann (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Juli 2011 1 BvR 1916/09, BVerfGE 129, 78 zur erweiternden Auslegung des Art. 19 Abs. 3 GG bzw. zur Erstreckung der Grundrechtsberechtigung auf juristische Personen aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union aufgrund des Anwendungsvorrangs der unionsrechtlichen Grundfreiheiten; vgl. ergänzend zum steuerlichen Diskriminierungsverbot im Verhältnis zur Schweiz das zu Art. 25 Abs. 3 DBA-Schweiz 1971/1992 ergangene BFH-Urteil vom 8. September 2010 I R 6/09, BStBl II 2013, 186). Der Senat geht davon aus, dass die Klägerin sich als Kapitalgesellschaft eines Drittstaats auf Art. 19 Abs. 4 GG ebenso wie auch auf andere grundrechtsgleiche Verfahrensrechte wie diejenigen auf den gesetzlichen Richter und das rechtliche Gehör berufen kann (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und Art. 103 Abs. 1 GG; vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. Mai 1967 1 BvR 578/63, BVerfGE 21, 362 und Urteil vom 12. März 2003 1 BvR 330/96, BVerfGE 107, 299; vgl. auch den stattgebenden Kammerbeschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. Februar 2008 1 BvR 2327/07, NJW 2008, 2167).
64 
2. Der von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung gestellte Antrag ist nicht nur bezüglich des Mitarbeiterfests 2008, sondern auch im Hinblick auf das Mitarbeiterfest 2011 begründet, ohne dass dem (ersten) Hilfsantrag des Finanzamts nachgegangen werden müsste. Der Senat ist davon überzeugt, dass bei der Aufteilung der Gesamtkosten des Mitarbeiterfests (Dividend) von mindestens 596 Personen (Divisor) auszugehen ist mit der Folge, dass der Wert des Quotienten höchstens 109,87 EUR und damit weniger als 110 EUR beträgt. Einer genaueren Festlegung des Senats bedarf es aufgrund der somit jedenfalls zu bejahenden Unterschreitung der 110-EUR-Freigrenze nicht.
65 
a) Zeitlich noch nicht anwendbar ist im vorliegenden Streitfall die zum 1. Januar 2015 in Kraft getretene Vorschrift des § 19 Abs. 1 Nr. 1a EStG, in welcher der Begriff der Betriebsveranstaltung als Veranstaltung auf betrieblicher Ebene mit gesellschaftlichem Charakter definiert wird (Satz 1). Für die bei einem solchem Anlass vom Arbeitgeber an den Arbeitnehmer und dessen Begleitpersonen erfolgenden Zuwendungen (vgl. dazu die Legaldefinition in Satz 2) gilt nunmehr gemäß Satz 3 ein Freibetrag von 110 EUR je Betriebsveranstaltung (maximal zwei pro Jahr, Satz 4) und teilnehmendem Arbeitnehmer (zu dem von § 8 Abs. 2 EStG abweichenden Wertansatz vgl. Satz 5).
66 
b) Die für den Streitfall maßgeblichen früheren Regeln wurden noch vor Inkrafttreten einer gesetzlichen Bestimmung entwickelt. Arbeitslohn liegt danach dann nicht vor, wenn die Arbeitnehmer durch Sachzuwendungen des Arbeitgebers bereichert werden, der Arbeitgeber jedoch mit seinen Leistungen ganz überwiegend ein eigenbetriebliches Interesse verfolgt (vgl. BFH-Urteile vom 22. Oktober 1976 VI R 26/74, BStBl II 1977, 99, vom 17. September 1982 VI R 75/79, BStBl II 1983, 39, vom 21. Januar 2010 VI R 2/08, BStBl II 2010, 639, vom 21. Januar 2010 VI R 51/08, BStBl II 2010, 700 und vom 16. Mai 2013 VI R 7/11, BStBl II 2015, 189, VI R 94/10, BStBl II 2015, 186, VI R 93/10, BFH/NV 2014, 14, VI R 95/10, BFH/NV 2014, 16, VI R 96/10, BFH/NV 2014, 18 jeweils mit weiteren Nachweisen). Nach ständiger Rechtsprechung konnten auch Zuwendungen des Arbeitgebers aus Anlass von Betriebsveranstaltungen (Veranstaltungen auf betrieblicher Ebene mit gesellschaftlichem Charakter, bei denen die Teilnahme grundsätzlich allen Betriebsangehörigen offensteht) im ganz überwiegend eigenbetrieblichen Interesse des Arbeitgebers liegen (Förderung des Kontakts der Arbeitnehmer untereinander und Verbesserung des Betriebsklimas). Die Teilnahme von Familienangehörigen und Gästen wurde als unschädlich angesehen (BFH-Urteil in BStBl II 2015, 189). Insbesondere zur Wahrung einer einheitlichen Rechtsanwendung hatte der BFH typisierend festgelegt, ab wann den teilnehmenden Arbeitnehmern geldwerte Vorteile von solchem Eigengewicht zugewendet werden, dass von einem ganz überwiegend eigenbetrieblichen Interesse des Arbeitgebers nicht mehr ausgegangen werden kann. Danach waren bei Überschreiten einer Freigrenze von 110 EUR die Zuwendungen des Arbeitgebers in vollem Umfang als steuerpflichtiger Arbeitslohn zu qualifizieren (ständige Rechtsprechung, z.B. Urteil vom 12. Dezember 2012 VI R 79/10, BFH/NV 2013, 637 mit weiteren Nachweisen). Die Bewertung der Leistungen war nach § 8 Abs. 2 Satz 1 EStG zu bestimmen, wobei grundsätzlich nicht zu beanstanden war, den Wert der den Arbeitnehmern anlässlich einer Betriebsveranstaltung zugewandten Leistungen anhand der Kosten zu schätzen, die der Arbeitgeber dafür seinerseits aufgewendet hat, und zu gleichen Teilen sämtlichen Teilnehmern zuzurechnen; aufzuteilen war der Gesamtbetrag hierbei auch auf Familienangehörige und Gäste, die den Arbeitnehmer bei der Betriebsveranstaltung begleitet haben (vgl. BFH-Urteile in BFH/NV 2013, 637 und in BStBl II 2015, 189, d.h. keine Zurechnung der Aufwendungen für die Familienangehörigen an den betreffenden Arbeitnehmer; früher noch anders gesehen im BFH-Urteil vom 25. Mai 1992 VI R 85/90, BStBl II 1992, 655;vgl. nunmehr § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a Satz 5 EStG).
67 
c) Nach der früheren BFH-Rechtsprechung galt also - anders als heute nach § 19 Abs. 1 Nr. 1a EStG - kein Freibetrag, sondern eine bloße Freigrenze, bei deren Überschreiten der volle Betrag (nicht nur der 110 EUR übersteigende Betrag) als steuerpflichtig zu behandeln war. Aus diesem Grund streiten die Beteiligten darüber, ob der Betrag je Teilnehmer von 110 EUR beim Mitarbeiterfest 2011 überschritten wurde oder nicht. Lediglich beim Mitarbeiterfest 2008 ist die Unterschreitung der 110-EUR-Freigrenze unstreitig.
68 
Die zwischen den Beteiligten zunächst unstreitigen Gesamtkosten für das Mitarbeiterfest 2011 beliefen sich auf 65.480,01 EUR (Dividend). Fraglich ist hier sodann primär der Teiler (Divisor). Aufgrund der von der Klägerin vorgelegten Listen ist der erkennende Senat in dem zwischen den Beteiligten unstreitigen Ausgangspunkt gleichfalls davon überzeugt, dass 592 Mitarbeiter als Teilnehmer des Mitarbeiterfests Berücksichtigung finden können. Darüber hinaus ist der erkennende Senat nach Gesamtwürdigung aller Einzelfallumstände auch davon überzeugt, dass unter den weiteren Anwesenden (wie etwa Künstler, Eventmanager, Fotograf, Busfahrer u.a.) mindestens vier weitere Personen bei der personalen Kostenaufteilung in dem Sinne als Teilnehmer zu berücksichtigen sind, dass sie als den Divisor erhöhend zu qualifizieren sind (vgl. die vom Caterer abgerechneten 618 Portionen).
69 
Ausgehend davon gelangt der Senat durch Division zu einem rechnerischen geldwerten Vorteil von maximal 109,87 EUR pro Mitarbeiter (Quotient aus den Gesamtkosten von 65.480,01 EUR geteilt durch den Divisor von mindestens 596). Die Freigrenze von 110 EUR wurde damit zur Überzeugung des Senats jedenfalls unterschritten. Auf alle anderen denkbaren, die 110-EUR-Freigrenze betreffenden Fragen bzw. Details, z.B. die Einwendungen der Klägerin betreffend die zu berücksichtigenden Gesamtkosten, muss der Senat hiernach nicht mehr eingehen. Hingewiesen sei an dieser Stelle lediglich noch darauf, dass der Senat erwogen hat, ob das nachlässige Umgehen der Klägerin bzw. ihrer Prozessbevollmächtigten mit der Aufforderung des Gerichts zur Vorlage aller noch verfügbaren, das Mitarbeiterfest 2011 betreffenden Unterlagen (vgl. Gerichtsakte Bl. 119, 129, 149) seiner zu Gunsten der Klägerin erfolgten Überzeugungsbildung entgegensteht. Diese Frage hat der erkennende Senat nach umfassender Gesamtwürdigung aller Umstände im Ergebnis verneint. Das sorglose (Nicht)Reagieren der prozessbevollmächtigten Kanzlei auf die wiederholte Aufforderung des Gerichts hat sich somit im Ergebnis nicht zu Ungunsten der Klägerin ausgewirkt.
70 
d) Der Hilfsantrag des Finanzamts, „hilfsweise Beweis zu erheben über die Anzahl der Teilnehmer am Mitarbeiterfest 2011“, ist unzureichend substantiiert, da er jedenfalls kein konkretes Beweismittel für das beschriebene Beweisthema benennt. Eine Beweiserhebung etwa durch die Vernehmung von Zeugen (welcher?) drängt sich für den Senat insofern nicht auf. Gemäß § 82 FGO in Verbindung mit § 373 der Zivilprozessordnung (ZPO) wird der Zeugenbeweis durch die Benennung der Zeugen und die Bezeichnung der Tatsachen, über welche die Vernehmung der Zeugen stattfinden soll, angetreten. Schon an der Benennung eines konkreten Zeugen fehlt es, ebenso wenig sind aus der Sicht des erkennenden Senats andere geeignete und für die Würdigung erforderliche Beweismittel ersichtlich. Auf die Frage, ob das Finanzamt mit seinem Antrag das Beweisthema in hinreichender Weise substantiiert hat oder der Antrag vielmehr als bloßer Beweisermittlungsantrag zu qualifizieren ist, kommt es nicht mehr an (vgl. zur Substantiierung des Beweisthemas den BFH-Beschluss vom 7. Juli 2016 III B 39/16, BFH/NV 2016, 1731 mit weiteren Nachweisen).
71 
3. a) Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO, der Zuziehungsbeschluss auf § 139 Abs. 3 Satz 3 FGO. Soweit die Klägerin ihren Antrag in der mündlichen Verhandlung um ca. 1% eingeschränkt hat, führt dies angesichts der Geringfügigkeit nicht zu einer anteiligen Kostentragung (vgl. § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO).
72 
b) Die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils im Kostenpunkt folgt aus § 151 FGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 709, 711 ZPO.
73 
4. a) Die Revisionszulassung beruht auf § 115 Abs. 2 FGO. Der Senat misst der für das Urteil entscheidungserheblichen Auslegung des § 357 Abs. 2 Satz 4 AO und insbesondere dem Tatbestandsmerkmal „übermittelt wird“ grundsätzliche Bedeutung bei und weicht mit seiner Auslegung von finanzgerichtlichen Entscheidungen, in denen die sich stellende Auslegungsproblematik indes nicht näher thematisiert wurde, und von der wohl herrschenden, wenn auch nicht vertieft begründeten Meinung im Schrifttum ab.
74 
b) Für den Fall, dass der BFH das Merkmal „übermittelt wird“ abweichend vom vorliegenden erstinstanzlichen Urteil nicht im Sinne der Übermittlungshandlung, sondern im Sinne des Übermittlungserfolgs auslegen sollte, dürfte sich der Streitfall ferner zur Fortbildung des Rechts bzw. zur verfassungsrechtlichen Klärung der Auslegung des § 110 AO vor dem Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG eignen (vgl. zur Relevanz des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG im Kontext des § 110 AO den stattgebenden Kammerbeschluss der 3. Kammer des Ersten Senats des BVerfG in BStBl II 2002, 835; vgl. hierzu ferner das Protokoll zum Erörterungstermin vom 13. September 2016, Gerichtsakte Bl. 109 ff.).
75 
c) Gleichfalls potenziell klärungsfähig ist im Streitfall die rechtsgrundsätzliche Frage, ob die Möglichkeit der elektronischen Einspruchseinlegung nach ihrer Aufnahme in das Gesetz (vgl. § 357 Abs. 1 Satz 1 AO) nunmehr auch ein notwendiger Bestandteil der Rechtsbehelfsbelehrung ist und bei fehlendem Hinweis darauf eine unrichtige Rechtsbehelfsbelehrung im Sinne des § 356 Abs. 2 AO vorliegt. Wäre diese Frage zu bejahen, würde auch dies der vorliegenden Klage zum Erfolg verhelfen.
76 
d) Angemerkt sei schließlich noch, dass die in der BFH-Rechtsprechung vertretene 110-EUR-Freigrenze und deren Anwendung durch das Tatgericht auf den Einzelfall für sich genommen nicht die Zulassung der Revision begründen könnten, zumal sie das zum Jahresende 2014 ausgelaufene frühere Recht vor Inkrafttreten des neuen § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a EStG betreffen.

Gründe

 
30 
Die zulässige Klage ist begründet. Entgegen der Auffassung des Finanzamts ist die Klage nicht schon deshalb unbegründet, weil die Klägerin einerseits die Einspruchsfrist versäumt hat und ihr andererseits Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gewährt werden kann. Vielmehr blieb die Anbringung des Einspruchs bei dem örtlich unzuständigen Finanzamt Y nach § 357 Abs. 2 Satz 4 AO verfahrensrechtlich unschädlich, weil er dem beklagten Finanzamt als der zuständigen Behörde noch vor Ablauf der Einspruchsfrist im Sinne der Vorschrift übermittelt wurde; auf die Frage der Wiedereinsetzung gemäß § 110 AO kommt es nicht mehr an (1). Materiell ist der von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung gestellte Antrag nach Maßgabe der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur sog. 110-EUR-Freigrenze bei Betriebsveranstaltungen in vollem Umfang begründet (2).
31 
1. a) Die für den Streitfall relevanten Rechtsgrundsätze sind in weiten Teilen geklärt, nach Auffassung des erkennenden Senats nicht jedoch in (mindestens) einem für die Entscheidung erheblichen Punkt, nämlich der Auslegung des § 357 Abs. 2 Satz 4 AO.
32 
aa) Gemäß § 355 Abs. 1 Satz 1 AO ist der Einspruch innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts einzulegen. Ein schriftlicher Verwaltungsakt, der durch die Post übermittelt wird, gilt nach § 122 Abs. 2 AO als bekannt gegeben bei einer Übermittlung im Inland am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post (Nr. 1) und bei einer Übermittlung im Ausland einen Monat nach der Aufgabe zur Post (Nr. 2), außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsakts und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen.
33 
Die Monatsfrist für die Einspruchseinlegung beginnt nach § 356 Abs. 1 Satz 1 AO nur, wenn der Beteiligte über den Einspruch und die Finanzbehörde, bei der er einzulegen ist, deren Sitz und die einzuhaltende Frist in der für den Verwaltungsakt verwendeten Form belehrt worden ist. Ist die Belehrung unterblieben oder unrichtig erteilt, so ist die Einlegung des Einspruchs nur binnen eines Jahres seit Bekanntgabe des Verwaltungsakts zulässig, es sei denn, dass die Einlegung vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war oder schriftlich oder elektronisch darüber belehrt wurde, dass ein Einspruch nicht gegeben sei (§ 356 Abs. 1 Satz 2 AO).
34 
Weitere Verfahrensvorschriften zur Einlegung des Einspruchs sind in § 357 AO normiert. Der Einspruch ist schriftlich oder elektronisch einzureichen oder zur Niederschrift zu erklären (Satz 1). Es genügt, wenn aus dem Einspruch hervorgeht, wer ihn eingelegt hat (Satz 2), eine unrichtige Bezeichnung des Einspruchs schadet nicht (Satz 3, früher Satz 4). Die in § 357 Abs. 1 Satz 3 AO in ihrer bis zum 31. Dezember 2016 gültigen Fassung noch erwähnte Zulässigkeit der Einspruchseinlegung durch Telegramm wurde durch das Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens vom 18. Juli 2016 (BGBl I S. 1679) mit Wirkung ab dem 1. Januar 2017 aufgehoben (vgl. zum betreffenden Gesetzentwurf BTDrucks 18/7457, S. 91 zu Nr. 45, wonach Telegramme in der Verwaltungspraxis ihre praktische Bedeutung verloren haben dürften und daher auf die bisherige ohnehin lediglich klarstellende Aussage, dass auch eine Einspruchseinlegung durch Telegramm zulässig sei, verzichtet werden könne).
35 
Durch § 357 Abs. 1 Satz 1 AO in seiner seit dem 1. August 2013 gültigen Fassung wird im Gesetz ausdrücklich die Möglichkeit eröffnet, den Einspruch auf elektronischem Wege einzureichen (vgl. dazu BFH-Urteil vom 13. Mai 2015 III R 26/14, BStBl II 2015, 790). Die explizite Erwähnung der elektronischen Einlegung wurde durch das Gesetz zur Förderung der elektronischen Verwaltung sowie zur Änderung weiterer Vorschriften vom 25. Juli 2013 (BGBl I S. 2749) eingeführt. In der Begründung zum diesbezüglichen Gesetzentwurf (BTDrucks 17/11473, S. 52 zu Nr. 4) wird zu § 357 Abs. 1 Satz 2 AO erläutert, die Neufassung berücksichtige nunmehr auch im Wortlaut der Vorschrift die Möglichkeit der elektronischen Einspruchseinlegung. Die Ergänzung in § 357 Abs. 1 Satz 1 („oder elektronisch“) stelle klar, dass unter der Voraussetzung der Zugangseröffnung (§ 87a Abs. 1 AO) ein Einspruch auch elektronisch ohne qualifizierte elektronische Signatur eingelegt werden könne. Eine Rechtsänderung sei hiermit nicht verbunden, da es im Geltungsbereich der AO bereits der Erlasslage entsprochen habe, dass der Einspruch auch elektronisch ohne qualifizierte elektronische Signatur eingelegt werden könne (Hinweis auf Nummer 1 Satz 2 des damaligen AEAO zu § 357 AO). Die bisherige Erlasslage zur AO habe sich bewährt und werde daher kodifiziert.
36 
Nach § 357 Abs. 2 Satz 1 AO ist der Einspruch im Normalfall bei der Behörde anzubringen, deren Verwaltungsakt angefochten wird oder bei der ein Antrag auf Erlass eines Verwaltungsakts gestellt worden ist. Sonderfälle werden in § 357 Abs. 2 Sätze 2 und 3 AO geregelt. Ein Einspruch, der sich gegen die Feststellung von Besteuerungsgrundlagen oder gegen die Festsetzung eines Steuermessbetrags richtet, kann auch bei der zur Erteilung des Steuerbescheids zuständigen Behörde angebracht werden (Satz 2). Ein Einspruch, der sich gegen einen Verwaltungsakt richtet, den eine Behörde auf Grund gesetzlicher Vorschrift für die zuständige Finanzbehörde erlassen hat, kann auch bei der zuständigen Finanzbehörde angebracht werden (Satz 3). Die schriftliche oder elektronische Anbringung bei einer anderen Behörde ist gemäß § 357 Abs. 2 Satz 4 AO unschädlich, wenn der Einspruch vor Ablauf der Einspruchsfrist einer der Behörden übermittelt wird, bei der er nach den Sätzen 1 bis 3 angebracht werden kann.
37 
Unter den in § 110 AO genannten Voraussetzungen ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Über den Antrag auf Wiedereinsetzung entscheidet die Finanzbehörde, die über die versäumte Handlung zu befinden hat.
38 
bb) Nach der Rechtsprechung des BVerfG gebietet die Gewährleistung des effektiven Rechtsschutzes durch Art. 19 Abs. 4 GG eine Auslegung und Anwendung der die Einlegung von Rechtsbehelfen regelnden Vorschriften, die die Beschreitung des eröffneten Rechtswegs nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren (vgl. dazu den stattgebenden Kammerbeschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 2. September 2002 1 BvR 476/01, BStBl II 2002, 835 mit Verweis auf BVerfGE 77, 275 <284>; 78, 88 <99>, den Nichtannahmebeschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG vom 23. Juni 2000 1 BvR 830/00, NVwZ 2000, 1163 und den stattgebenden Kammerbeschluss der 3. Kammer des Ersten Senats des BVerfG vom 31. Juli 2001 1 BvR 1061/00, NVwZ 2001, 1392; vgl. auch das dem in BStBl II 2002, 835 veröffentlichten Beschluss des BVerfG vorgehende Urteil des VII. BFH-Senats vom 19. Dezember 2000 VII R 7/99, BStBl II 2001, 158 und das diesem Beschluss nachfolgende Urteil des VII. BFH-Senats vom 22. Oktober 2002 VII R 53/02, juris). Dem Richter ist es verwehrt, durch übermäßig strenge Handhabung verfahrensrechtlicher Vorschriften den Anspruch auf gerichtliche Durchsetzung des materiellen Rechts unzumutbar zu verkürzen (vgl. BVerfGE 84, 366 <369 f.> und BVerfG in BStBl II 2002, 835). Dies hat der Richter auch bei der Prüfung, ob Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist, zu berücksichtigen, weshalb die Anforderungen an das Vorliegen der Voraussetzungen für die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach den hierfür maßgeblichen Vorschriften nicht überspannt werden dürfen (vgl. BVerfG in BStBl II 2002, 835). Im Zweifel verdient diejenige Interpretation eines Gesetzes den Vorzug, die dem Bürger den Zugang zu den Gerichten eröffnet (vgl. BVerfGE 15, 275 <281 f.> und BVerfG in BStBl II 2002, 835).bb) Nach der Rechtsprechung des BVerfG gebietet die Gewährleistung des effektiven Rechtsschutzes durch Art. 19 Abs. 4 GG eine Auslegung und Anwendung der die Einlegung von Rechtsbehelfen regelnden Vorschriften, die die Beschreitung des eröffneten Rechtswegs nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren (vgl. dazu den stattgebenden Kammerbeschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 2. September 2002 1 BvR 476/01, BStBl II 2002, 835 mit Verweis auf BVerfGE 77, 275 <284>; 78, 88 <99>, den Nichtannahmebeschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG vom 23. Juni 2000 1 BvR 830/00, NVwZ 2000, 1163 und den stattgebenden Kammerbeschluss der 3. Kammer des Ersten Senats des BVerfG vom 31. Juli 2001 1 BvR 1061/00, NVwZ 2001, 1392; vgl. auch das dem in BStBl II 2002, 835 veröffentlichten Beschluss des BVerfG vorgehende Urteil des VII. BFH-Senats vom 19. Dezember 2000 VII R 7/99, BStBl II 2001, 158 und das diesem Beschluss nachfolgende Urteil des VII. BFH-Senats vom 22. Oktober 2002 VII R 53/02, juris). Dem Richter ist es verwehrt, durch übermäßig strenge Handhabung verfahrensrechtlicher Vorschriften den Anspruch auf gerichtliche Durchsetzung des materiellen Rechts unzumutbar zu verkürzen (vgl. BVerfGE 84, 366 <369 f.> und BVerfG in BStBl II 2002, 835). Dies hat der Richter auch bei der Prüfung, ob Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist, zu berücksichtigen, weshalb die Anforderungen an das Vorliegen der Voraussetzungen für die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach den hierfür maßgeblichen Vorschriften nicht überspannt werden dürfen (vgl. BVerfG in BStBl II 2002, 835). Im Zweifel verdient diejenige Interpretation eines Gesetzes den Vorzug, die dem Bürger den Zugang zu den Gerichten eröffnet (vgl. BVerfGE 15, 275 <281 f.> und BVerfG in BStBl II 2002, 835).
39 
cc) Die Finanzverwaltung hat den stattgebenden Kammerbeschluss des BVerfG vom 2. September 2002 (BStBl II 2002, 835) in die Verwaltungsanweisungen zur Anwendung der Abgabenordnung übernommen. Ziffer 2 des AEAO zu § 357 AO lautet:
40 
„Nach § 357 Abs. 2 Satz 4 AO genügt die Einlegung des Einspruchs bei einer unzuständigen Behörde, sofern der Einspruch innerhalb der Einspruchsfrist einer der Behörden übermittelt wird, bei der er nach § 357 Abs. 2 Sätze 1 bis 3 AO angebracht werden kann; der Steuerpflichtige trägt jedoch das Risiko der rechtzeitigen Übermittlung. Kann eine Behörde leicht und einwandfrei erkennen, dass sie für einen bei ihr eingegangenen Einspruch nicht und welche Finanzbehörde zuständig ist, hat sie diesen Einspruch unverzüglich an die zuständige Finanzbehörde weiterzuleiten. Geschieht dies nicht und wird dadurch die Einspruchsfrist versäumt, kommt Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 110 AO) in Betracht (BVerfG-Beschluss vom 2.9.2002, 1 BvR 476/01, BStBl II S. 835).“
41 
b) Ausgehend von diesen Maßstäben ist die Klage hinsichtlich des in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrags in vollem Umfang begründet. Der Senat gelangt zu der Stattgabe deshalb, weil er die Anbringung des Einspruchs beim unzuständigen Finanzamt Y unter den Umständen des Streitfalls (unzweifelhafte Weiterleitung bzw. Absendung durch das Finanzamt Y am letzten Tag der Einspruchsfrist) gemäß § 357 Abs. 2 Satz 4 AO als unschädlich beurteilt (aa). Die Frage, ob der Klägerin andernfalls - nämlich bei angenommener Verfristung ihres Einspruchs und trotz ihres insoweit nicht in Abrede zu stellenden Verschuldens - unter den gegebenen besonderen Umständen des Einzelfalls gemäß § 110 AO in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG aus verfassungsrechtlichen Gründen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren wäre, kann dahinstehen (bb), auch auf weitere Fragen kommt es nicht mehr an (cc und dd). Die 110-EUR-Freigrenze wurde nach der Überzeugung des erkennenden Senats beim Mitarbeiterfest 2011 eingehalten (näher dazu unten 2).
42 
aa) Aufgrund der am letzten Tag der Einspruchsfrist von der Zeugin vorgenommenen Übermittlung des Einspruchsschreibens an das zuständige beklagte Finanzamt wurde die Einspruchsfrist gemäß der „Unschädlichkeitsklausel“ des § 357 Abs. 2 Satz 4 AO gewahrt. Übermittelt wird ein Einspruch vom unzuständigen an das zuständige Finanzamt nach Wortlaut, Sinn und Zweck und vor dem Hintergrund der im Grundgesetz verankerten Garantie des effektiven Rechtsschutzes nicht erst im Zeitpunkt des Übermittlungserfolgs (Eingang beim zuständigen Finanzamt), sondern bereits im Zeitpunkt der Vornahme der Übermittlungshandlung (Absenden durch das unzuständige Finanzamt an das zuständige Finanzamt).
43 
(1) Der Nachforderungsbescheid vom 29. Oktober 2013 wurde ausweislich der Akten des beklagten Finanzamts von diesem am Dienstag, den 29. Oktober 2013 (Datum des Bescheids) abgesandt. Die Einspruchsfrist beträgt im Streitfall einen Monat und lief am 4. Dezember 2013 ab.
44 
In der Rechtsprechung des BFH ist für den Bereich des Steuerrechts seit dem Urteil vom 14. Oktober 2003 IX R 68/98 (BStBl II 2003, 898) anerkannt, dass die Dreitagesfrist nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO in den Fällen des § 108 Abs. 3 AO verlängert wird (vgl. BFH-Beschluss vom 5. Mai 2014 III B 85/13, BFH/NV 2014, 1186, mit Hinweis auf die BFH-Urteile vom 4. November 2003 IX R 4/01, BFH/NV 2004, 159, vom 17. Dezember 2003 I R 4/03, BFH/NV 2004, 758, vom 6. Oktober 2004 IX R 60/03, BFH/NV 2005, 327, vom 11. März 2004 VII R 13/03, BFH/NV 2004, 1065, und vom 19. November 2009 IV R 89/06, BFH/NV 2010, 818 sowie die BFH-Beschlüsse vom 30. November 2006 XI B 13/06, BFH/NV 2007, 389 und vom 5. August 2011 III B 76/11, BFH/NV 2011, 1845).
45 
Die Beteiligten gehen hiernach in zutreffender Weise davon aus, dass die Frist für die Einlegung des Einspruchs erst am 4. Dezember 2013 ablief. Wegen des Feiertags am 1. November 2013 (Freitag), dem dritten Tag nach der Aufgabe zur Post, und wegen des Wochenendes vom 2./3. November 2013 war Tag der Bekanntgabe gemäß §§ 122 Abs. 2 Nr. 1, 108 Abs. 3 AO erst der Montag, der 4. November 2013. Aufgrund des Inlandspostfachs der Klägerin waren die Voraussetzungen einer Auslandsbekanntgabe (§ 122 Abs. 2 Nr. 2 AO) trotz der Auslandsansässigkeit der Klägerin nicht erfüllt. Da die Klägerin auch keinen späteren tatsächlichen Zugang dargelegt hat (vgl. § 122 Abs. 2 AO), endete die einmonatige Einspruchsfrist ausgehend vom Fristbeginn am Dienstag, den 5. November 2013 0:00 Uhr gemäß § 355 Abs. 1 AO in Verbindung mit den §§ 122 Abs. 2 Nr. 1, 108 Abs. 1, 3 AO und den §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) am Mittwoch, den 4. Dezember 2013, 24:00 Uhr.
46 
(2) Der versehentlich an den falschen Adressaten gerichtete Einspruch ging zwar schon am Freitag, den 29. November 2013 beim unzuständigen Finanzamt Y ein, ferner ging auch die Einspruchsbegründung ebenfalls noch innerhalb der Monatsfrist am Mittwoch, den 4. Dezember 2013 beim unzuständigen Finanzamt Y ein. Dies allein vermag die Einspruchsfrist nach § 357 Abs. 2 AO jedoch nicht zu wahren. Denn beim Finanzamt Y handelt es sich weder um die erlassende Behörde im Sinne des § 357 Abs. 2 Satz 1 AO, deren Bescheid die Klägerin angefochten hat, noch konnte die Klägerin ihr Einspruchsschreiben vom 28. November 2013 gemäß § 357 Abs. 2 Sätze 2 und 3 AO beim Finanzamt Y anbringen. Die Anbringung war vielmehr nur beim beklagten Finanzamt möglich.
47 
Von entscheidender Bedeutung für die Wahrung der Einspruchsfrist ist daher § 357 Abs. 2 Satz 4 AO. Danach ist die schriftliche oder elektronische Anbringung bei einer anderen Behörde dann unschädlich, wenn der Einspruch vor Ablauf der Einspruchsfrist einer der Behörden übermittelt wird, bei der er nach den Sätzen 1 bis 3 angebracht werden kann. Im Streitfall hat das unzuständige Finanzamt Y das Einspruchsschreiben am 4. Dezember 2013 und damit noch vor Ablauf der Einspruchsfrist an das zuständige beklagte Finanzamt übermittelt.
48 
Der erkennende Senat übersieht nicht, dass das Prädikat des Konditionalsatzes („übermittelt wird“) in der finanzgerichtlichen Rechtsprechung und im steuerrechtlichen Schrifttum bisher, wenn es überhaupt interpretiert wurde, im Sinne des Zeitpunkts des Zugangs des Einspruchsschreibens bei der zuständigen Behörde verstanden wurde (vgl. das Urteil des FG Hamburg vom 5. Mai 2006 2 K 92/05, juris, in dem die Auslegungsfrage in einem Fall mit Eingang des Einspruchs bei der zuständigen Finanzbehörde einen Tag nach Ablauf der Einspruchsfrist trotz Entscheidungserheblichkeit nicht behandelt wurde und die Norm des § 357 Abs. 2 Satz 4 AO unerwähnt geblieben ist; vgl. auch das Urteil des FG München vom 19. Oktober 2005 1 K 2894/05, juris und aus dem Schrifttum Bartone in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 357 AO, Rn. 41, Klein/Rätke, AO, 13. Aufl. 2016, § 357 Rz. 21, Keß in Schwarz/Pahlke, AO, § 357 Rz. 64 und Szymczak in Koch/Scholtz, AO, 5. Aufl. 1996, § 357 Rn. 11; etwas unklarer Szymczak, eKomm, § 357 AO, Rz. 11: „unschädlich, wenn diese Behörde den Einspruch bis zum Ablauf der Einspruchsfrist an die zuständige Finanzbehörde … weiterleitet. Im Gegensatz zu den Fällen des § 357 Abs. 2 Satz 2 und 3 AO trägt somit der Einspruchsführer das Risiko der rechtzeitigen Weiterleitung.“; mit Blick auf die Fallkonstellation des vorliegenden Streitfalls ebenfalls nicht ganz klar Siegers in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 357 AO, Rn. 38, wo ausgeführt wird, wenn der Einspruch innerhalb der Einspruchsfrist von der unzuständigen Behörde an eine der Behörden, bei denen ein Einspruch fristwahrend angebracht werden kann, gelange, wahre dies die Rechtsbehelfsfrist „nicht nur dann, wenn der Rechtsbehelf vor Fristablauf der zur Entscheidung berufenen Behörde zugeht, sondern auch, wenn er der Finanzbehörde, deren VA angefochten wird bzw. von der der Erlass eines VA begehrt wird, oder einer „Notadresse“ übermittelt wird (Absatz 2 Satz 4)“). Festzustellen ist zudem, dass im Schrifttum nicht selten nur der Gesetzeswortlaut des § 357 Abs. 2 Satz 4 AO wiedergegeben wird (vgl. zum Beispiel Hardtke in Kühn/von Wedelstädt, AO/FGO, 20. Auflage 2011, § 357 AO, Rn. 11, Hettler, Das außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren nach der Abgabenordnung, 1999, S. 71, Koenig/Cöster, AO, § 357 Rn. 26 und Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 357 AO, Rn. 26). Hinzu kommt, dass es in den meisten Fällen, die veröffentlichten Gerichtsentscheidungen zugrunde lagen, anders als in den vorstehend zitierten Urteilen des FG Hamburg und des FG München nicht auf die Frage ankam, ob der Einspruch der Einspruch innerhalb der Einspruchsfrist von der unzuständigen Behörde abgesandt worden war oder aber bereits bei der zuständigen Behörde angekommen war.
49 
(3) Nach Auffassung des erkennenden Senats hat das unzuständige Finanzamt Y den Einspruch im Streitfall im Sinne des Gesetzes bereits am 4. Dezember 2013 an das zuständige beklagte Finanzamt „übermittelt“. Übermittelt wird ein Einspruch nämlich nicht erst bei Eintritt des Übermittlungserfolgs (Eingang bei der zuständigen Behörde), sondern nach Wortlaut, Historie, Systematik und Zweck der Vorschrift sowie jedenfalls bei verfassungskonformer Auslegung bereits bei Vornahme der Übermittlungshandlung (Absendung durch die unzuständige Behörde).
50 
(a) Bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals „übermittelt wird“ ist wie bei jeder Auslegung einer gesetzlichen Vorschrift zunächst vom Wortlaut der Norm auszugehen. Übermitteln bedeutet nach dem Wortlautverständnis des Senats „bewirken, dass Informationen zu jemandem gelangen“. Im Duden Online-Wörterbuch wird die Bedeutung von „übermitteln“ wie folgt beschrieben: „(mithilfe von etwas) zukommen, an jemanden gelangen lassen; (als Mittler) überbringen“. Der Wortlaut erscheint im Hinblick auf die Frage, ob in § 357 Abs. 2 Satz 4 AO die Übermittlungshandlung oder aber der Übermittlungserfolg in Bezug genommen werden soll, in dem Sinne nicht ganz eindeutig, dass die Grenzen des Wortlauts wohl beide Auslegungsvarianten einschließen. Gleichwohl tendiert der erkennende Senat nach dem Wortlaut der Vorschrift zu dem Verständnis, dass ein Einspruch bereits dann übermittelt wird, wenn er von der weiterleitenden Behörde abgesandt wird, d.h. die Übermittlungshandlung vollzogen wird.
51 
(b) Die Historie des § 357 Abs. 2 Satz 4 AO führt gleichfalls zu keinem ganz eindeutigen Ergebnis. Erwähnenswert erscheint insofern § 249 Abs. 3 der Reichsabgabenordnung (RAO). Die Sätze 4 und 5 dieser Vorschrift lauteten: „Das Rechtsmittel ist in den Fällen der Sätze 2 und 3 der zuständigen Stelle zu übermitteln. Die schriftliche Anbringung bei einer anderen Behörde ist unschädlich, wenn das Rechtsmittel rechtzeitig der zur Entscheidung berufenen Stelle oder einer für eine frühere Rechtsstufe zuständigen Behörde übermittelt wird.“. Das Tatbestandsmerkmal „übermittelt wird“ war in § 249 Abs. 3 Satz 5 RAO ebenso enthalten wie in § 357 Abs. 2 Satz 4 AO, so dass sich schon damals das hier zu behandelnde Auslegungsproblem stellte. Verglichen mit „vor Ablauf der Einspruchsfrist“ noch etwas unpräziser gefasst war das Tatbestandsmerkmal „rechtzeitig“, ohne dass ein Bedeutungsunterschied bestanden hätte.
52 
§ 249 Abs. 3 Satz 4 RAO wurde sodann in die Abgabenordnung 1977 übernommen. § 357 Abs. 2 Satz 4 AO 1977 in seiner Fassung bis zum 31. Dezember 1995 lautete: „Der Rechtsbehelf ist in den Fällen der Sätze 2 und 3 der zuständigen Finanzbehörde zu übermitteln.“ Die frühere Fassung des Satzes 4 (§ 249 Abs. 3 RAO und § 357 Abs. 2 AO 1977) deutet eher auf eine Auslegung des Übermittelns im Sinne des Weiterleitens bzw. der Übermittlungshandlung hin (vgl. Keßin Schwarz/Pahlke, AO, § 357 Rz. 3 zum gestrichenen § 357 Abs. 2 S. 4 AO a.F., „wonach der bei dem FA des Folgebescheids eingelegte Rechtsbehelf gegen einen Grundlagenbescheid an die zuständige Finanzbehörde weiterzuleiten war“). Der Satz 4 des § 357 Abs. 2 AO 1977 wurde allerdings mit Wirkung ab dem 1. Januar 1996 aus dem Gesetz genommen, so dass der vorherige Satz 5 an dessen Stelle trat (vgl. Gesetz zur einkommensteuerlichen Entlastung von Grenzpendlern und anderen beschränkt steuerpflichtigen natürlichen Personen und zur Änderung anderer gesetzlicher Vorschriften - Grenzpendlergesetz - vom 24. Juni 1994, BGBl I S. 1395 <1400, 1405>; vgl. dazu BTDrucks 12/7427, S. 32 und 12/6959, S. 124 und 130, wo die Änderungen der §§ 355, 357 AO als „redaktionelle Änderungen“ beschrieben wurden).
53 
(c) Zu einem klareren Auslegungsergebnis führt demgegenüber die Systematik des Gesetzes (zum Begriff des Übermittelns vgl. die §§ 72a, 80a, 87a, 87b, 87d, 93a, 93c, 117, 117a, 117b, 117c, 122, 123, 138a, 139b, 150, 175b, 344, 383b AO) und vor allem die Systematik der §§ 355, 357 AO. Sie spricht für die Auslegung von „vor Ablauf der Einspruchsfrist … übermittelt wird“ im Sinne der Vornahme der Übermittlungshandlung durch die unzuständige Behörde vor Ablauf der Einspruchsfrist, ungeachtet des Zeitpunkts des späteren Eingangs des weitergeleiteten Einspruchs bei der zuständigen Behörde. Denn andernfalls entbehrte § 357 Abs. 2 Satz 4 AO insofern einer Regelungsnotwendigkeit, als der fristgemäße Eingang des Einspruchsschreibens bei der zuständigen Behörde schon nach der Grundnorm des § 355 Abs. 1 AO unproblematisch ist. Warum das Gesetz für einen ohnehin unproblematischen Fall ausdrücklich gesondert anordnen sollte, dass es „unschädlich“ ist, wenn der weitergeleitete Einspruch vor Ablauf der Einspruchsfrist bei der zuständigen Behörde eingeht, würde sich im Normgefüge nicht erschließen. Dass ein innerhalb einer gesetzlichen Frist bei der zutreffenden Instanz eingehender Rechtsbehelf im Hinblick auf die Einhaltung der Rechtsbehelfsfrist „unschädlich“ ist, bedürfte keiner Regelung, weil sich dies denknotwendig von selbst versteht. Wäre „übermittelt wird“ also im Sinne des Eintritts des Übermittlungserfolgs auszulegen, würde § 357 Abs. 2 Satz 4 AO ohne Grund eines eigenständigen Regelungsbereichs beraubt, den er nach dem Wortlaut der Vorschrift haben kann und nach seinem Zweck unter Berücksichtigung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz auch haben sollte.
54 
Die Existenz des § 357 Abs. 2 Satz 4 AO ergibt nur dann einen wirklichen Sinn, wenn für das Tatbestandsmerkmal „übermittelt wird“ genügt, dass der falsch angebrachte Einspruch von der unzuständigen Behörde, die ihn erhalten hat, im Sinne des Auf-den-Weg-Bringens bzw. des Absendens „weitergeleitet wird“. Zweck des § 357 Abs. 2 Satz 4 AO ist es, den sich an eine nach dem Gesetz (§ 357 Abs. 2 Sätze 1 bis 3 AO) ungeeignete Behörde wendenden Steuerpflichtigen unter bestimmten Voraussetzungen von den Folgen der Verfristung seines Einspruchs zu verschonen. Dies ist im Normkontext der §§ 355 ff., 110 AO insbesondere auch vor dem Hintergrund des Umstands zu sehen, dass einem - entgegen einer zutreffenden Rechtsbehelfsbelehrung (vgl. andernfalls § 356 Abs. 2 AO) - bei einer unzuständigen Behörde angebrachten Einspruch regelmäßig ein Sorgfaltsverstoß des Einspruchsführers zugrunde liegt mit der Folge, dass selbst bei leichter Fahrlässigkeit ein die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand grundsätzlich sperrendes Verschulden im Sinne des § 110 AO gegeben ist (vgl. dazu nur den BVerfG-Beschluss in BStBl II 2002, 835).
55 
(d) Im Rahmen der systematisch-teleologischen Auslegung des § 357 Abs. 2 Satz 4 AO ist schließlich ein Aspekt zu bedenken, der im vorliegenden Streitfall besonders deutlich wird und der sich anhand dessen sehr gut beschreiben lässt. Dieser Aspekt betrifft die Frage, wie die unzuständige Behörde, die ihre eigene Unzuständigkeit erkannt hat und zugleich positive Kenntnis von der zuständigen Behörde, dem Vorliegen eines Einspruchs und dessen Fristgebundenheit hat, mit diesem Wissen umgeht. Dies wiederum betrifft vor allen Dingen die Frage, wie sie ihrer durch Verwaltungsanweisung (vgl. AEAO zu § 357 AO, Ziff. 2) festgelegten Verpflichtung zur unverzüglichen Weiterleitung des Einspruchs nachkommt. Angesichts der erheblich divergierenden Konsequenzen der Fristwahrung einerseits bzw. der Fristversäumnis andererseits kann es für betroffene Einspruchsführer hierauf entscheidend ankommen. Legt man „übermittelt wird“ im Sinne der Übermittlungshandlung aus, so genügt für die Steuerpflichtigen das unverzügliche „Ob der Weiterleitung“, auf das „Wie der Weiterleitung“ (per Briefpost bzw. per Behördenkurier oder - gemessen an der vom Finanzamt angeführten höchstrichterlichen Rechtsprechung des BFH und des BGH möglicherweise überobligationsmäßig - per Fax bzw. per E-Mail mit pdf-Anlage) kommt es für die Unschädlichkeit im Sinne des § 357 Abs. 2 Satz 4 AO nicht mehr an. Eben dies erscheint im Interesse der Gleichmäßigkeit der Besteuerung (vgl. § 85 Satz 1 AO und Art. 3 Abs. 1 GG) aus rechtlichen wie auch aus praktischen Gründen vorzugswürdig. Ansonsten nämlich würde in Fällen wie dem vorliegenden nur ein „glücklicher“ Steuerpflichtiger von der Unschädlichkeit gemäß § 357 Abs. 2 Satz 4 AO profitieren können, bei dem die unzuständige Finanzbehörde möglicherweise überobligationsmäßig, wenn auch im Interesse effektiven Rechtsschutzes handelnd, bewirkt, dass der fehlerhaft angebrachte Einspruch beschleunigt und bei Bedarf sogar taggleich in den Machtbereich der zuständigen Behörde gelangt. Sinnvollerweise sollte es auf derartiges im Leben eher zufällig verteiltes Glück oder Pech eines Steuerpflichtigen im Interesse der Gleichmäßigkeit der Besteuerung nicht ankommen.
56 
(e) Für die hier vertretene Auslegung spricht hilfsweise auch das Argument verfassungskonformer Auslegung. Wie in den oben dargelegten Rechtsgrundsätzen ausgeführt, verdient nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 19 Abs. 4 GG im Zweifel diejenige Interpretation eines Gesetzes den Vorzug, die dem Bürger den Zugang zu den Gerichten eröffnet (vgl. BVerfGE 15, 275 <281 f.> und BVerfG in BStBl II 2002, 835). Ginge man also davon aus, dass die Auslegung des Tatbestandsmerkmals „übermittelt wird“ Zweifeln begegnet, spräche die Auslegung des § 357 Abs. 2 Satz 4 AO im Lichte des in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantierten Gebots effektiven Rechtsschutzes dafür, derjenigen Auslegung den Vorzug zu geben, die zur Fristwahrung und damit zur Zulässigkeit eines eingelegten Rechtsbehelfs führt.
57 
(f) Wertungsmäßig spricht auch die ihrerseits im Interesse effektiven Rechtsschutzes stehende Vorschrift des § 89 AO für das vom Senat als vorzugswürdig angesehene Auslegungsergebnis. Danach „soll“ die Finanzbehörde die Stellung von Anträgen oder die Berichtigung von Erklärungen oder Anträgen anregen, wenn diese offensichtlich nur versehentlich oder aus Unkenntnis unterblieben oder unrichtig abgegeben oder gestellt worden sind. Eine Finanzbehörde, die - wie hier - ihre eigene Unzuständigkeit erkannt hat, positive Kenntnis von der zuständigen Behörde, dem Vorliegen eines Einspruchs und dessen Fristgebundenheit hat, könnte den Einspruchsführer eines falsch angebrachten Einspruchs bei bekannten Kontaktdaten - wie etwa im vorliegenden Streitfall aus dem Einspruchsschreiben ersichtlich - auf diversen einfachen Wegen (beispielsweise per Telefon, Fax oder E-Mail), wenn auch möglicherweise überobligationsmäßig, über das erkennbare und erkannte Versehen informieren und so die Möglichkeit einer taggleichen Einspruchsanbringung bei der zuständigen Finanzbehörde durch den Einspruchsführer selbst eröffnen. In der finanzgerichtlichen Praxis ist indes zu beobachten, dass es erheblich wahrscheinlicher ist, dass - wie im Streitfall geschehen - Finanzbeamte eines Finanzamts telefonisch oder per E-Mail Finanzbeamte eines anderen Finanzamts kontaktieren, als dass sie auf eben diesem Weg mit Steuerpflichtigen oder ihren steuerlichen Beratern in Kontakt treten. Ausnahmen mögen auch hier die Regel bestätigen, von der ausgehend sich der erkennende Senat allerdings in seinem Auslegungsergebnis bestärkt sieht. Denn es erscheint sachlich nicht gerechtfertigt, Steuerpflichtige je nach der dem grundrechtlich geschützten Anspruch auf effektiven Rechtsschutzes dienenden „Kontaktfreudigkeit“ der im Einzelfall handelnden Finanzbeamten unterschiedlich zu behandeln. Durch die hier vertretene Auslegung des § 357 Abs. 2 Satz 4 AO wird eine wünschenswerte und auch aus verfassungsrechtlichen Gründen vorzugswürdige Gleichbehandlung bewirkt.
58 
(g) Erwähnt sei an dieser Stelle schließlich noch, dass die Auffassung des erkennenden Senats nicht im Widerspruch zu der Aussage steht, dass der Steuerpflichtige das Risiko der rechtzeitigen Übermittlung trägt (vgl. AEAO zu § 357 AO, Ziffer 2, Hardtke in Kühn/von Wedelstädt, AO/FGO, 20. Auflage 2011, § 357 AO, Rn. 11, Hettler, a.a.O., S. 71, Koenig/Cöster, AO, § 357 Rn. 26 und Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 357 AO, Rn. 26). Bei der Auslegung als „Bewirken der Übermittlung durch Weiterleitung“ bzw. als „Vornahme der Übermittlungshandlung“ trägt der Steuerpflichtige nämlich insoweit unverändert das Risiko der rechtzeitigen Übermittlung. Ungeachtet eher theoretischer Fälle der bewusst bzw. willkürlich verzögerten oder unterlassenen Weiterleitung, die gegebenenfalls über § 110 AO lösbar sind (vgl. BVerfG in BStBl II 2002, 835 zu solchen Fällen „willkürlichen, offenkundig nachlässigen und nachgewiesenen Fehlverhaltens“; vgl. auch Klein/Rätke, § 357 AO, Rz. 21 und Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 357 AO Rn. 2), lassen sich die praxistypischeren Fälle, zu denen der vorliegende Streitfall zu rechnen ist, über die „Unschädlichkeit“ gemäß § 357 Abs. 2 Satz 4 AO in angemessener Weise lösen.
59 
bb) Da das Finanzamt Y den Einspruch der Klägerin vor Ablauf der Einspruchsfrist, nämlich am letzten Tag vor Fristablauf am 4. Dezember 2013 an das zuständige beklagte Finanzamt übermittelt hat, blieb die Anbringung beim unzuständigen Finanzamt nach alledem im Streitfall zu Gunsten der Klägerin gemäß § 357 Abs. 2 Satz 4 AO unschädlich. Auf die Frage, wie die Vorschrift zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 110 AO) im Lichte des Art. 19 Abs. 4 GG mit Blick auf den konkreten Einzelfall andernfalls auszulegen wäre, muss nicht mehr eingegangen werden. Dies gilt auch für die vom Finanzamt zitierten Entscheidungen des BGH und des BFH.
60 
cc) Offenbleiben kann ferner die Frage, ob und gegebenenfalls welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, dass in der Rechtsbehelfsbelehrung des mit der Klage angegriffenen Nachforderungsbescheids vom 29. Oktober 2013 aufgrund eines Versehens des beklagten Finanzamts noch nicht auf die durch § 357 Abs. 1 Satz 1 AO in seiner seit dem 1. August 2013 gültigen Fassung nunmehr auch gesetzlich ausdrücklich eröffnete Möglichkeit, den Einspruch auf elektronischem Wege einzureichen (vgl. BFH-Urteile in BStBl II 2015, 790 und vom 18. Juni 2015 IV R 18/13, BFH/NV 2015, 1349), hingewiesen worden war (vgl. Gerichtsakte Bl. 33 R. unten).
61 
Die Rechtsbehelfsbelehrung muss dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz Rechnung tragen (vgl. nur BFH-Urteil vom 20. November 2013 X R 2/12, BStBl II 2014, 236 mit Verweis auf das BFH-Urteil vom 7. März 2006 X R 18/05, BStBl II 2006, 455 und Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG sowie auf Art. 19 Abs. 4 GG). In der bisherigen Rechtsprechung wurde eine Wiedergabe des Gesetzeswortlauts in der Rechtsbehelfsbelehrung für hinreichend und ein expliziter Hinweis auf die Möglichkeit der elektronischen Einlegung zur Vermeidung einer unrichtigen Belehrung nicht für erforderlich erachtet (vgl. die Entscheidungen des BFH vom 2. Februar 2010 III B 20/09, BFH/NV 2010, 830, vom 12. Oktober 2012 III B 66/12, BFH/NV 2013, 177, vom 12. Dezember 2012 I B 127/12, BStBl II 2013, 272, in BStBl II 2014, 236, vom 5. März 2014 VIII R 51/12, BFH/NV 2014, 1010, vom 18. März 2014 VIII R 33/12, BStBl II 2014, 922, vom 28. April 2015 VI R 65/13, BFH/NV 2015, 1074, in BFH/NV 2015, 1349 und vom 10. November 2016 X B 85/16, BFH/NV 2017, 261). Vor diesem Hintergrund wird nunmehr allerdings die Auffassung vertreten, dass es infolge der seit dem 1. August 2013 in § 357 Abs. 1 Satz 1 AO normierten Möglichkeit elektronischer Einspruchseinlegung erforderlich sein dürfte, hierauf in der Rechtsbehelfsbelehrung hinzuweisen (so Szymczak, eKomm, § 356 AO, Rz. 8 mit weiteren Nachweisen; vgl. a.a.O. auch § 366 AO, Rz. 4 zu der bislang noch etwas anders liegenden Frage der Rechtsbehelfsbelehrung in der Einspruchsentscheidung hinsichtlich einer Klage zum Finanzgericht, vgl. in diesem Kontext Leipold in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 55 FGO, Rz. 34a, Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 356 AO, Rn. 7 und Siegers in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 356 AO, Rn. 33 sowie das Urteil des VG Oldenburg vom 11. Januar 2016 11 A 892/15, juris).
62 
Soweit der BFH sich mit diesem Problem bisher befasst hat, hat er jedoch an der früheren Rechtsprechung festgehalten (vgl. Beschluss des VII. BFH-Senats vom 18. Januar 2017 VII B 158/16, BFH/NV 2017, 603; vgl. auch die Urteile des FG Berlin-Brandenburg vom 3. Juli 2014 10 K 10238/13, EFG 2014, 1893, des FG Hamburg vom 19. Mai 2016 2 K 138/15, juris - die betreffende Nichtzulassungsbeschwerde hat der VII. BFH-Senat durch Beschluss vom 13. Oktober 2016 VII B 93/16 als unzulässig verworfen - und vom 27. Februar 2017 6 K 141/16, EFG 2017, 1062; vgl. auch das frühere Urteil des VIII. BFH-Senats in BFH/NV 2014, 1010, in dem mangels Entscheidungserheblichkeit noch offen gelassen werden konnte, ob sich aufgrund der mit Wirkung ab 1. August 2013 durch das Gesetz zur Förderung der elektronischen Verwaltung sowie zur Änderung weiterer Vorschriften vom 25. Juli 2013 (BGBl I 2013, 2749) eingeführten Neufassung des § 357 Abs. 1 Satz 1 AO für danach erteilte Rechtsbehelfsbelehrungen etwas anderes ergebe).
63 
dd) Gleichfalls dahinstehen kann die Frage, ob die Klägerin sich als Aktiengesellschaft schweizerischen Rechts auf den Anspruch auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG berufen kann (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Juli 2011 1 BvR 1916/09, BVerfGE 129, 78 zur erweiternden Auslegung des Art. 19 Abs. 3 GG bzw. zur Erstreckung der Grundrechtsberechtigung auf juristische Personen aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union aufgrund des Anwendungsvorrangs der unionsrechtlichen Grundfreiheiten; vgl. ergänzend zum steuerlichen Diskriminierungsverbot im Verhältnis zur Schweiz das zu Art. 25 Abs. 3 DBA-Schweiz 1971/1992 ergangene BFH-Urteil vom 8. September 2010 I R 6/09, BStBl II 2013, 186). Der Senat geht davon aus, dass die Klägerin sich als Kapitalgesellschaft eines Drittstaats auf Art. 19 Abs. 4 GG ebenso wie auch auf andere grundrechtsgleiche Verfahrensrechte wie diejenigen auf den gesetzlichen Richter und das rechtliche Gehör berufen kann (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und Art. 103 Abs. 1 GG; vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. Mai 1967 1 BvR 578/63, BVerfGE 21, 362 und Urteil vom 12. März 2003 1 BvR 330/96, BVerfGE 107, 299; vgl. auch den stattgebenden Kammerbeschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. Februar 2008 1 BvR 2327/07, NJW 2008, 2167).
64 
2. Der von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung gestellte Antrag ist nicht nur bezüglich des Mitarbeiterfests 2008, sondern auch im Hinblick auf das Mitarbeiterfest 2011 begründet, ohne dass dem (ersten) Hilfsantrag des Finanzamts nachgegangen werden müsste. Der Senat ist davon überzeugt, dass bei der Aufteilung der Gesamtkosten des Mitarbeiterfests (Dividend) von mindestens 596 Personen (Divisor) auszugehen ist mit der Folge, dass der Wert des Quotienten höchstens 109,87 EUR und damit weniger als 110 EUR beträgt. Einer genaueren Festlegung des Senats bedarf es aufgrund der somit jedenfalls zu bejahenden Unterschreitung der 110-EUR-Freigrenze nicht.
65 
a) Zeitlich noch nicht anwendbar ist im vorliegenden Streitfall die zum 1. Januar 2015 in Kraft getretene Vorschrift des § 19 Abs. 1 Nr. 1a EStG, in welcher der Begriff der Betriebsveranstaltung als Veranstaltung auf betrieblicher Ebene mit gesellschaftlichem Charakter definiert wird (Satz 1). Für die bei einem solchem Anlass vom Arbeitgeber an den Arbeitnehmer und dessen Begleitpersonen erfolgenden Zuwendungen (vgl. dazu die Legaldefinition in Satz 2) gilt nunmehr gemäß Satz 3 ein Freibetrag von 110 EUR je Betriebsveranstaltung (maximal zwei pro Jahr, Satz 4) und teilnehmendem Arbeitnehmer (zu dem von § 8 Abs. 2 EStG abweichenden Wertansatz vgl. Satz 5).
66 
b) Die für den Streitfall maßgeblichen früheren Regeln wurden noch vor Inkrafttreten einer gesetzlichen Bestimmung entwickelt. Arbeitslohn liegt danach dann nicht vor, wenn die Arbeitnehmer durch Sachzuwendungen des Arbeitgebers bereichert werden, der Arbeitgeber jedoch mit seinen Leistungen ganz überwiegend ein eigenbetriebliches Interesse verfolgt (vgl. BFH-Urteile vom 22. Oktober 1976 VI R 26/74, BStBl II 1977, 99, vom 17. September 1982 VI R 75/79, BStBl II 1983, 39, vom 21. Januar 2010 VI R 2/08, BStBl II 2010, 639, vom 21. Januar 2010 VI R 51/08, BStBl II 2010, 700 und vom 16. Mai 2013 VI R 7/11, BStBl II 2015, 189, VI R 94/10, BStBl II 2015, 186, VI R 93/10, BFH/NV 2014, 14, VI R 95/10, BFH/NV 2014, 16, VI R 96/10, BFH/NV 2014, 18 jeweils mit weiteren Nachweisen). Nach ständiger Rechtsprechung konnten auch Zuwendungen des Arbeitgebers aus Anlass von Betriebsveranstaltungen (Veranstaltungen auf betrieblicher Ebene mit gesellschaftlichem Charakter, bei denen die Teilnahme grundsätzlich allen Betriebsangehörigen offensteht) im ganz überwiegend eigenbetrieblichen Interesse des Arbeitgebers liegen (Förderung des Kontakts der Arbeitnehmer untereinander und Verbesserung des Betriebsklimas). Die Teilnahme von Familienangehörigen und Gästen wurde als unschädlich angesehen (BFH-Urteil in BStBl II 2015, 189). Insbesondere zur Wahrung einer einheitlichen Rechtsanwendung hatte der BFH typisierend festgelegt, ab wann den teilnehmenden Arbeitnehmern geldwerte Vorteile von solchem Eigengewicht zugewendet werden, dass von einem ganz überwiegend eigenbetrieblichen Interesse des Arbeitgebers nicht mehr ausgegangen werden kann. Danach waren bei Überschreiten einer Freigrenze von 110 EUR die Zuwendungen des Arbeitgebers in vollem Umfang als steuerpflichtiger Arbeitslohn zu qualifizieren (ständige Rechtsprechung, z.B. Urteil vom 12. Dezember 2012 VI R 79/10, BFH/NV 2013, 637 mit weiteren Nachweisen). Die Bewertung der Leistungen war nach § 8 Abs. 2 Satz 1 EStG zu bestimmen, wobei grundsätzlich nicht zu beanstanden war, den Wert der den Arbeitnehmern anlässlich einer Betriebsveranstaltung zugewandten Leistungen anhand der Kosten zu schätzen, die der Arbeitgeber dafür seinerseits aufgewendet hat, und zu gleichen Teilen sämtlichen Teilnehmern zuzurechnen; aufzuteilen war der Gesamtbetrag hierbei auch auf Familienangehörige und Gäste, die den Arbeitnehmer bei der Betriebsveranstaltung begleitet haben (vgl. BFH-Urteile in BFH/NV 2013, 637 und in BStBl II 2015, 189, d.h. keine Zurechnung der Aufwendungen für die Familienangehörigen an den betreffenden Arbeitnehmer; früher noch anders gesehen im BFH-Urteil vom 25. Mai 1992 VI R 85/90, BStBl II 1992, 655;vgl. nunmehr § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a Satz 5 EStG).
67 
c) Nach der früheren BFH-Rechtsprechung galt also - anders als heute nach § 19 Abs. 1 Nr. 1a EStG - kein Freibetrag, sondern eine bloße Freigrenze, bei deren Überschreiten der volle Betrag (nicht nur der 110 EUR übersteigende Betrag) als steuerpflichtig zu behandeln war. Aus diesem Grund streiten die Beteiligten darüber, ob der Betrag je Teilnehmer von 110 EUR beim Mitarbeiterfest 2011 überschritten wurde oder nicht. Lediglich beim Mitarbeiterfest 2008 ist die Unterschreitung der 110-EUR-Freigrenze unstreitig.
68 
Die zwischen den Beteiligten zunächst unstreitigen Gesamtkosten für das Mitarbeiterfest 2011 beliefen sich auf 65.480,01 EUR (Dividend). Fraglich ist hier sodann primär der Teiler (Divisor). Aufgrund der von der Klägerin vorgelegten Listen ist der erkennende Senat in dem zwischen den Beteiligten unstreitigen Ausgangspunkt gleichfalls davon überzeugt, dass 592 Mitarbeiter als Teilnehmer des Mitarbeiterfests Berücksichtigung finden können. Darüber hinaus ist der erkennende Senat nach Gesamtwürdigung aller Einzelfallumstände auch davon überzeugt, dass unter den weiteren Anwesenden (wie etwa Künstler, Eventmanager, Fotograf, Busfahrer u.a.) mindestens vier weitere Personen bei der personalen Kostenaufteilung in dem Sinne als Teilnehmer zu berücksichtigen sind, dass sie als den Divisor erhöhend zu qualifizieren sind (vgl. die vom Caterer abgerechneten 618 Portionen).
69 
Ausgehend davon gelangt der Senat durch Division zu einem rechnerischen geldwerten Vorteil von maximal 109,87 EUR pro Mitarbeiter (Quotient aus den Gesamtkosten von 65.480,01 EUR geteilt durch den Divisor von mindestens 596). Die Freigrenze von 110 EUR wurde damit zur Überzeugung des Senats jedenfalls unterschritten. Auf alle anderen denkbaren, die 110-EUR-Freigrenze betreffenden Fragen bzw. Details, z.B. die Einwendungen der Klägerin betreffend die zu berücksichtigenden Gesamtkosten, muss der Senat hiernach nicht mehr eingehen. Hingewiesen sei an dieser Stelle lediglich noch darauf, dass der Senat erwogen hat, ob das nachlässige Umgehen der Klägerin bzw. ihrer Prozessbevollmächtigten mit der Aufforderung des Gerichts zur Vorlage aller noch verfügbaren, das Mitarbeiterfest 2011 betreffenden Unterlagen (vgl. Gerichtsakte Bl. 119, 129, 149) seiner zu Gunsten der Klägerin erfolgten Überzeugungsbildung entgegensteht. Diese Frage hat der erkennende Senat nach umfassender Gesamtwürdigung aller Umstände im Ergebnis verneint. Das sorglose (Nicht)Reagieren der prozessbevollmächtigten Kanzlei auf die wiederholte Aufforderung des Gerichts hat sich somit im Ergebnis nicht zu Ungunsten der Klägerin ausgewirkt.
70 
d) Der Hilfsantrag des Finanzamts, „hilfsweise Beweis zu erheben über die Anzahl der Teilnehmer am Mitarbeiterfest 2011“, ist unzureichend substantiiert, da er jedenfalls kein konkretes Beweismittel für das beschriebene Beweisthema benennt. Eine Beweiserhebung etwa durch die Vernehmung von Zeugen (welcher?) drängt sich für den Senat insofern nicht auf. Gemäß § 82 FGO in Verbindung mit § 373 der Zivilprozessordnung (ZPO) wird der Zeugenbeweis durch die Benennung der Zeugen und die Bezeichnung der Tatsachen, über welche die Vernehmung der Zeugen stattfinden soll, angetreten. Schon an der Benennung eines konkreten Zeugen fehlt es, ebenso wenig sind aus der Sicht des erkennenden Senats andere geeignete und für die Würdigung erforderliche Beweismittel ersichtlich. Auf die Frage, ob das Finanzamt mit seinem Antrag das Beweisthema in hinreichender Weise substantiiert hat oder der Antrag vielmehr als bloßer Beweisermittlungsantrag zu qualifizieren ist, kommt es nicht mehr an (vgl. zur Substantiierung des Beweisthemas den BFH-Beschluss vom 7. Juli 2016 III B 39/16, BFH/NV 2016, 1731 mit weiteren Nachweisen).
71 
3. a) Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO, der Zuziehungsbeschluss auf § 139 Abs. 3 Satz 3 FGO. Soweit die Klägerin ihren Antrag in der mündlichen Verhandlung um ca. 1% eingeschränkt hat, führt dies angesichts der Geringfügigkeit nicht zu einer anteiligen Kostentragung (vgl. § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO).
72 
b) Die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils im Kostenpunkt folgt aus § 151 FGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 709, 711 ZPO.
73 
4. a) Die Revisionszulassung beruht auf § 115 Abs. 2 FGO. Der Senat misst der für das Urteil entscheidungserheblichen Auslegung des § 357 Abs. 2 Satz 4 AO und insbesondere dem Tatbestandsmerkmal „übermittelt wird“ grundsätzliche Bedeutung bei und weicht mit seiner Auslegung von finanzgerichtlichen Entscheidungen, in denen die sich stellende Auslegungsproblematik indes nicht näher thematisiert wurde, und von der wohl herrschenden, wenn auch nicht vertieft begründeten Meinung im Schrifttum ab.
74 
b) Für den Fall, dass der BFH das Merkmal „übermittelt wird“ abweichend vom vorliegenden erstinstanzlichen Urteil nicht im Sinne der Übermittlungshandlung, sondern im Sinne des Übermittlungserfolgs auslegen sollte, dürfte sich der Streitfall ferner zur Fortbildung des Rechts bzw. zur verfassungsrechtlichen Klärung der Auslegung des § 110 AO vor dem Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG eignen (vgl. zur Relevanz des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG im Kontext des § 110 AO den stattgebenden Kammerbeschluss der 3. Kammer des Ersten Senats des BVerfG in BStBl II 2002, 835; vgl. hierzu ferner das Protokoll zum Erörterungstermin vom 13. September 2016, Gerichtsakte Bl. 109 ff.).
75 
c) Gleichfalls potenziell klärungsfähig ist im Streitfall die rechtsgrundsätzliche Frage, ob die Möglichkeit der elektronischen Einspruchseinlegung nach ihrer Aufnahme in das Gesetz (vgl. § 357 Abs. 1 Satz 1 AO) nunmehr auch ein notwendiger Bestandteil der Rechtsbehelfsbelehrung ist und bei fehlendem Hinweis darauf eine unrichtige Rechtsbehelfsbelehrung im Sinne des § 356 Abs. 2 AO vorliegt. Wäre diese Frage zu bejahen, würde auch dies der vorliegenden Klage zum Erfolg verhelfen.
76 
d) Angemerkt sei schließlich noch, dass die in der BFH-Rechtsprechung vertretene 110-EUR-Freigrenze und deren Anwendung durch das Tatgericht auf den Einzelfall für sich genommen nicht die Zulassung der Revision begründen könnten, zumal sie das zum Jahresende 2014 ausgelaufene frühere Recht vor Inkrafttreten des neuen § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a EStG betreffen.

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