Urteil vom Finanzgericht des Landes Sachsen-Anhalt (1. Senat) - 1 K 1312/12

Tenor

Die Einspruchsentscheidung vom 14. November 2012 wird aufgehoben.

Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren wird für notwendig erklärt.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Einspruchsentscheidung isoliert aufzuheben ist, weil der Einspruch zu Unrecht als unzulässig verworfen wurde.

2

Am 10. September 2012, einem Montag, erließ der Beklagte den Einkommensteuerbescheid 2010. Am Montag, dem 15. Oktober 2012, ging beim Beklagten ein Fax ein, mit welchem der Prozessbevollmächtigte gegen den Bescheid Einspruch eingelegt hat. Das Schreiben ist wie folgt adressiert:

3

Persönlich

Herrn Vorsteher W…

Finanzamt S…“

(Anschrift des Finanzamtes)

4

Entsprechend den Regelungen in der Geschäftsordnung für die Finanzämter
(FAGO 2010) vom 16. November 2010 (BStBl I 2010, 1315) wurde das Schreiben dem bezeichneten Empfänger zugeleitet und erreichte diesen am Folgetag. Der Empfänger vermerkte als Eingangsdatum den 16. Oktober 2012.

5

Mit Einspruchsentscheidung vom 14. November 2012 verwarf der Beklagte den Einspruch als unzulässig. Er begründete dies damit, dass nach den Regelungen der FAGO 3.1 Abs. 5 Eingänge mit dem Vermerk „persönlich“ dem Empfänger zugeleitet würden und der Eingang in der Behörde davon abhinge, wann dieser das Schreiben in den Geschäftsgang geben würde, denn erst in dem Moment, in dem der Empfänger erkenne, dass es sich um eine dienstliche Sache handele, verließe das Schriftstück „seine private Sphäre“. Dass es hierdurch zu Fristversäumnissen kommen könne, sei dem Prozessbevollmächtigten auch bekannt, da er bereits mehrfach hierauf hingewiesen worden sei. Wiedereinsetzungsgründe seien nicht vorgetragen und nicht ersichtlich.

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Dagegen haben die Kläger am 17. Dezember 2012 Klage erhoben.

7

Sie meinen, der rechtzeitige Eingang des Schreibens sei unstreitig und das übrige Vorbringen des Beklagten unbeachtlich.

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Die Kläger beantragen, die Einspruchsentscheidung aufzuheben und Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand zu gewähren.

9

Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

10

Der Beklagte meint unter Verweis auf seine Ausführungen in der Einspruchsentscheidung, er habe nicht zugestanden, dass der Einspruch innerhalb der Einspruchsfrist beim ihm eingegangen sei, sondern nur ausgeführt, dass das Fax am 15. Oktober 2012 beim ihm ausgedruckt worden sei. Der Sachverhalt sei vergleichbar mit einer Email, bei der der Einspruch erst dann zugegangen sei, wenn das Finanzamt die Email öffnen/lesen könne. Durch die hier gewählte Adressierung sei das Schreiben zunächst der persönlichen Sphäre des Vorstehers zuzurechnen; erst nach dem Zugang beim Vorsteher und Übergeben in den Geschäftsgang könne das Finanzamt Kenntnis erlangen. Selbst wenn die Regelungen der FAGO amtsinterne seien, würden diese von der Rspr. durchaus beachtet (Hinweis auf BStBl II 2005, 880). Ein Wiedereinsetzungsantrag sei nicht gestellt und Wiedereinsetzungsgründe in der Frist des § 110 Abs. 2 Abgabenordnung (AO) nicht vorgebracht worden.

11

Die Beteiligten haben auf mündliche Verhandlung verzichtet und ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch den Einzelrichter erklärt, der Kläger mit Schriftsatz vom 17. Dezember 2012 und der Beklagte mit Schriftsatz vom 7. Januar 2013.

12

Dem Gericht haben die Einkommensteuer- und die Rechtsbehelfsakten vorgelegen.

Entscheidungsgründe

13

I. Die Entscheidung ergeht durch den Einzelrichter ohne mündliche Verhandlung, § 79a Abs. 3 und 4, § 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung (FGO).

14

II. Die zulässige Klage ist begründet. Die angefochtene Einspruchsentscheidung wird aufgehoben, denn sie ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten, § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO.

15

Die Einspruchsentscheidung vom 14. November 2012 ist aufzuheben, denn es wurde zulässiger Weise ausdrücklich nur die isolierte Aufhebung der Einspruchsentscheidung beantragt, weil der Einspruch zu Unrecht als unzulässig zurückgewiesen worden ist (vgl. Seer, in: Tipke/Kruse, § 44 FGO, Rz. 17).

16

Der Einspruch ist rechtzeitig eingegangen, denn Fristablauf war - unstreitig - der 15. Oktober 2012. Das an diesem Tag beim Beklagten eingegangene Fax ist auch nicht wegen der Adressierung persönlich an den Vorsteher und wegen der Regelungen in der FAGO erst am nächsten Tag und damit nach Fristablauf eingegangen.

17

Die Einspruchsfrist beträgt gemäß § 355 Abs. 1 Satz 1 AO einen Monat. Sie gilt als gewahrt, wenn die Einspruchsschrift der Empfangsbehörde i.S.d. § 357 Abs. 2 AO bis zum Ende der Frist zugegangen ist. Der Gesetzeswortlaut ist eindeutig. Entscheidend ist der Eingang bei der Empfangsbehörde i.S.d. § 357 Abs. 2 AO. Diese ist zweifellos der Beklagte, dessen Bescheid hier angefochten wird.

18

Unerheblich ist hingegen, ob auf dem Einspruchsschreiben ein - zuständiger oder unzuständiger - Bearbeiter oder auch der Vorsteher des Finanzamtes - ggf. auch unter Beifügung des Zusatzes „persönlich“ - als Adressat aufgeführt ist. Denn die Geschäftsordnung für die Finanzämter regelt die Grundsätze der Organisation bei den Finanzämtern im Anschluss an das Gesetz über die Finanzverwaltung (vgl. zum Zweck 1.1 FAGO). Rechtsfolgen im Verhältnis zu den Steuerpflichtigen ergeben sich hieraus nicht.

19

Es kann dahinstehen, ob, wie der Beklagte meint, in der Rspr. durchaus die FAGO beachtet wird. Soweit er hier Bezug nimmt auf den Beschluss des BFH vom 12. September 2005, BFHE 210, 227, BStBl II 2005, 880, ist zunächst festzustellen, dass die vom BFH entschiedene und die hier anhängige Streitsache keinerlei Gemeinsamkeiten besitzen. Im Übrigen ist es zwar denkbar, dass bei Verstößen gegen die FAGO durch deren Adressaten gegenüber diesen nachteilige Schlüsse gezogen werden können, nicht aber gegenüber Dritten, für die das Regelwerk nicht gemacht ist, wie den Steuerpflichtigen.

20

Zudem ist die Argumentation wenig nachvollziehbar, es handele sich vor Weiterleitung des Einspruchsschreibens in den Geschäftsgang um einen der persönlichen Sphäre des Vorstehers zuzuordnenden Vorgang. Die Adressierung an den Vorsteher „persönlich“ mag dazu dienen, dass der Vorsteher auf die Angelegenheit hingewiesen werden soll. Darüber hinaus ist dem Schreiben nirgends zu entnehmen, dass Herr W. hier in seiner „persönlichen Sphäre“ angesprochen sein soll.

21

Das Schreiben ist zweifelsfrei als Rechtsbehelf und damit als „dienstlich“ zu erkennen. Adressiert ist es an den Vorsteher des Finanzamtes unter der Adresse des Finanzamtes. In dieser Funktion wird der Vorsteher am Tag des Einganges des Einspruchsschreibens einen Vertreter gehabt haben.

22

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1, § 139 Abs. 3 Satz 3 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 151 Abs. 3 FGO i.V.m. § 708 Nr. 10, 711 Satz 1, 2 ZPO.


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