Urteil vom Finanzgericht des Landes Sachsen-Anhalt (3. Senat) - 3 K 1042/11

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten sich über die Rechtmäßigkeit der Festsetzung von Nachzahlungszinsen zur Umsatzsteuer für 2004 bis 2007 für den Verzinsungszeitraum 1. April 2006 (Umsatzsteuer 2004), 1. April 2007 (Umsatzsteuer 2005), 1. April 2008 (Umsatzsteuer 2006) sowie 1. April 2009 (Umsatzsteuer 2007) bis jeweils 29. April 2010.

2

Die Klägerin wurde mit Gesellschaftsvertrag vom 1. Juni 1990 gegründet. Gegenstand des Unternehmens ist ausweislich der Eintragungen im Handelsregister die Entwicklung, Herstellung, der Vertrieb von Förderanlagen und Baugruppen aller Art im Bereich Umwelttechnik. Die Klägerin vertreibt weltweit verschiedene Recyclingmaschinen.

3

Die Maschinen werden in der Regel über Zwischenhändler verkauft. Die Leistungsbeziehungen zwischen der Klägerin, den Händlern und dem Endkunden sind häufig im Rahmen eines Reihengeschäftes gestaltet.

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Der Beklagte führte bei der Klägerin in der Zeit vom 6. Oktober 2009 bis Ende 2010 eine steuerliche Betriebsprüfung für die bereits unter dem Vorbehalt der Nachprüfung veranlagten Jahre 2004 bis 2007 durch. Der Zwischenbericht der Betriebsprüfung datiert auf den 1. April 2010. Die Betriebsprüfung kam zu dem Ergebnis, dass der Klägerin in den Streitjahren 2004 bis 2007 bei bestimmten Reihengeschäften mit ausländischen Händlern die ruhende Lieferung zuzuordnen sei und daher keine Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 1 Buchst. a i.V.m. § 6 Umsatzsteuergesetz (UStG) oder nach § 4 Nr. 1 die i.V.m. § 6a UStG in Anspruch genommen werden könne. Die insoweit bisher von der Klägerin als steuerfrei behandelten und erklärten Lieferungen seien umsatzsteuerpflichtig.

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In Auswertung des Betriebsprüfungsberichtes erließ der Beklagte am 26. April 2010 gemäß § 164 Abs. 2 Abgabenordnung (AO) geänderte Bescheide über Umsatzsteuer für die Jahre 2004 bis 2007, in denen er die Steuer entsprechend heraufsetzte. Gleichzeitig erließ der Beklagte mit den Umsatzsteuerbescheiden verbundene Bescheide über Zinsen zur Umsatzsteuer für die Jahre 2004 bis 2007.

6

In den Bescheiden vom 26. April 2010 berechnete der Beklagte die Nachzahlungszinsen zur Umsatzsteuer für die Jahre 2004 bis 2007 wie folgt:

7

2004: 

590.350,00 €

vom 1.04.2006
bis 29.04.2010 =  

48 Monate x 0,5 v.H. =

   141.684,00 €

2005: 

620.850,00 €

vom 1.04.2007
bis 29.04.2010=

36 Monate x 0,5 v.H. =

111.753,00 €

2006: 

891.600,00 €    

vom 1.04.2008
bis 29.04.2010=

24 Monate x 0,5 v.H. =

106.992,00 €

2007: 

1.084.250,00 €

vom 1.04.2009
bis 29.04.2010=

12 Monate x 0,5 v.H. =

65.055,00 €

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Mit Schreiben vom 28. Mai 2010 legte die Klägerin sowohl gegen die Umsatzsteuerbescheide für 2004 bis 2007 vom 26. April 2010 als auch gegen die Bescheide über die Festsetzung von Zinsen zur Umsatzsteuer für 2004 bis 2007 vom 26. April 2010 Einspruch ein.

9

Zur Begründung führte sie aus, dass sie die Feststellungen der Betriebsprüfung umgehend in berichtigten Rechnungen an die ausländischen Händler umgesetzt habe. Die betreffenden Rechnungen im Prüfungszeitraum seien pro Jahr korrigiert worden. Die jeweilige Korrekturmeldung (Gutschrift) enthalte eine Anlage mit detaillierten Angaben der betreffenden Rechnungen und die neuen Rechnungen seien mit gesondertem Ausweis deutscher Umsatzsteuer erteilt worden. Die korrigierten Rechnungen seien in der Umsatzsteuervoranmeldung für April 2010 berücksichtigt worden. Die Leistungsempfänger (Händler) hätten bei dem Bundeszentralamt für Steuern Anträge auf Vergütung der deutschen Vorsteuer gestellt. In diesem Zusammenhang sei zudem die Abtretung des Vergütungsanspruches der Händler an den Beklagten zwecks Verrechnung mit den Umsatzsteuernachzahlungen für die Jahre 2004 bis 2007 gestellt worden. Aus diesem Grund sei der Klägerin die technische Stundung hinsichtlich der betreffenden Umsatzsteuerzahlungen gewährt worden.

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Im Ergebnis seien die Zinsbescheide bereits deshalb rechtswidrig, weil die Festsetzung der Zinsen nicht mehr von dem Gesetzeszweck des § 233a AO gedeckt sei. Dieser Vorschrift liege der Zweck zu Grunde, einen Liquiditätsvorteil abzuschöpfen, den der Steuerpflichtige durch eine spätere Festsetzung der Steuer erziele. Die Klägerin habe aber einen derartigen Liquiditätsvorteil nicht erzielt, denn sie habe in den ursprünglichen Rechnungen über die Maschinenlieferungen keinerlei Umsatzsteuer ausgewiesen und diese somit auch nicht als Teil des Kaufpreises vereinnahmt. Vielmehr habe sie selbst erst durch korrigierte Rechnungen gegenüber den Händlern die Umsatzsteuer als Teil des zivilrechtlichen Kaufpreises nachträglich vereinnahmt und auch an das Finanzamt entrichtet. Zwar genüge es nach dem Gesetzeszweck des § 233a Abs. 1 AO, dass der Steuerpflichtige keinen tatsächlichen, sondern nur einen möglichen Zinsvorteil durch die spätere Festsetzung innehabe. Die Klägerin habe aber auch keine solche abstrakte Möglichkeit gehabt, einen Liquiditätsvorteil zu erzielen. Denn die ursprünglichen Rechnungen enthielten ausschließlich den mit den Händlern vereinnahmten Nettokaufpreis für die jeweilige Maschine. Weiteres Geld habe die Klägerin nicht erhalten. Vor der Rechnungskorrektur habe für die Klägerin auch keine Möglichkeit bestanden, weiteres Geld von den Händlern mit der Begründung einzufordern, diese hätten noch Umsatzsteuer als Teil des zivilrechtlichen Bruttokaufpreises zu zahlen. Die jeweiligen Händler hätten dies, wie jeder andere Unternehmer, davon abhängig gemacht, zuvor korrigierte Rechnungen zu erhalten, in denen die Umsatzsteuer ausgewiesen sei. Sowohl die Klägerin als auch die Händler seien übereinstimmend davon ausgegangen, dass die Maschinenlieferungen umsatzsteuerfrei seien. Da im Ergebnis der Zweck des § 233a AO darin bestehe, Liquiditätsvorteile abzuschöpfen, sei die Vorschrift im Wege der teleologischen Reduktion dahingehend auszulegen, dass Zinsen nur dann festzusetzen seien, wenn ein solcher Liquiditätsvorteil auf Seiten des Steuerpflichtigen bestanden habe oder möglich sei. Beides sei im Falle der Klägerin nicht gegeben so dass die angefochtenen Zinsbescheide rechtswidrig seien.

11

Dies ergebe sich auch bereits aus dem Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben, der bei einer dem Gesetzeszweck widersprechenden Festsetzung von Zinsen verletzt sei.

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Bei der Verzinsung von Umsatzsteuer gemäß § 233a AO liege zudem ein Verstoß gegen Art. 33 Abs. 1 sowie Art. 12 Abs. 3 Buchst. a der für den fraglichen Zeitraum maßgeblichen 6. EG-Richtlinie vor. Denn zum einen stellten die Zinsen auf die Umsatzsteuer eine gemäß diesen Vorschriften nicht zulässige Zusatzsteuer dar. Zum anderen verstoße die Verzinsung auch gegen die von der 6. EG-Richtlinie vorgegebene Belastungsneutralität auf Ebene des Unternehmers. Obwohl die Klägerin die Umsatzsteuer erst im Jahr 2010 in Rechnung gestellt habe und sogleich abgeführt habe und obwohl der Händler den Vorsteuerabzug bei früherer Rechnungsstellung auch zu einem früheren Zeitpunkt hätte vollumfänglich geltend machen können, werden Zinsen auf die Umsatzsteuer erhoben. Diesen Zinsen ständen keine auf die Vorsteuer entfallenden Zinsen in entsprechender Höhe gegenüber. Aufgrund des Anwendungsvorrangs des EG Rechtes als höherrangigem Recht sei daher vorliegend § 233a AO nicht anzuwenden. Denn bei einem Verstoß einer nationalen Vorschrift gegen EG-Recht bestehe, anders als bei der Verfassungswidrigkeit einer Vorschrift, keine alleinige Prüfungs- und Verwerfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts. Vielmehr hätten die nationalen Behörden und Gerichte die EG-Rechtswidrigkeit der nationalen Vorschrift selbst durch Nichtanwendung der dem EG- Recht entgegenstehenden nationalen Vorschrift zu beseitigen.

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Hinzu komme, dass die Zinsfestsetzung gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der sich sowohl aus der 6. EG-Richtlinie als auch aus den Art. 1 Abs. 3 sowie Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) ergebe, verstoße. Auch aus diesem Grund sei die Zinsfestsetzung ersatzlos aufzuheben. Denn die Festsetzung der Zinsen gegenüber der Klägerin genüge bereits deshalb nicht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, weil sie schon nicht geeignet sei, Ziel und Zweck der nationalen Vorschrift zu erreichen. Der Sinn und Zweck des § 233a AO bestehe darin, einen tatsächlichen oder möglichen Liquiditätsvorteil des Steuerpflichtigen abzuschöpfen. Da ein derartiger Vorteil aber auf Seiten der Klägerin nicht bestanden habe, könne der Zweck der Vorschrift durch die Festsetzung von Zinsen nicht erreicht werden. Die Festsetzung sei aber auch deshalb nicht verhältnismäßig, da sie nicht angemessen sei. Denn die Anwendung der Nichterfüllung einer Verpflichtung, hier die unterstellt nicht rechtzeitige Erklärung und Abführung der Umsatzsteuer aus den Maschinenlieferungen, müsse in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere des Verstoßes stehen. Dieses sei bei der Festsetzung der Zinsen gegenüber der Klägerin nicht beachtet worden. Es sei zu berücksichtigen, dass auf dem Gebiet der Umsatzsteuer der liefernde Unternehmer letztlich als Steuereinnehmer für Rechnung des Staates tätig sei. Er schulde die Umsatzsteuer, obwohl diese als indirekte Steuer vom Endverbraucher zu tragen sei. Dem sei durch Verteilung des Risikos eines Steuerausfalls Rechnung zu tragen, wobei die Risikoverteilung dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen müsse. Die Umstände, dass der liefernde Unternehmer gutgläubig sei und dass er alle ihm zu Gebote stehenden zumutbaren Maßnahmen ergriffen habe, seien daher gewichtige Kriterien im Rahmen der Feststellung, ob der leistende Unternehmer nachträglich von der Finanzverwaltung herangezogen werden könne. Vorliegend sei eine Bösgläubigkeit der Klägerin nicht anzunehmen. Dies ergebe sich daraus, dass die Rechtslage bezüglich der Umsatzsteuerpflichtigkeit der Maschinenlieferungen im Rahmen des Reihengeschäftes nicht eindeutig gewesen sei. Wie sich bereits aus dem Betriebsprüfungsbericht ergebe, erbringe die Klägerin verschiedenste Geschäfte über ausländische Händler, deren umsatzsteuerliche Beurteilung aufgrund diverser Besonderheiten, wie z.B. Ver- oder Bearbeitung der Ware, Zwischenlagerung der Ware, Einschaltung von Finanzierungs- und Leasinggesellschaften sowie gebrochene Lieferungen, schwierig sei. Oftmals werden Lieferungen an ausländische Händler erbracht, bei denen der Spediteur durch den jeweiligen Händler oder die Klägerin beauftragt werde. In einer Vielzahl von Fällen sei daher eine Ausfuhr bzw. eine innergemeinschaftliche Lieferung und somit eine Umsatzsteuerbefreiung für die Klägerin tatsächlich gegeben. Dagegen sei in einigen Fällen die Rechtslage hinsichtlich der umsatzsteuerlichen Beurteilung aufgrund der unterschiedlichen Ausgestaltung der Geschäftsvorfälle nicht eindeutig. In dem Reihengeschäft mit der B und der C. ging die Klägerin zunächst davon aus, dass wie üblich der Händler, d.h. die B den Spediteur beauftrage. Aufgrund besserer Lieferbedingungen habe aber letztlich der Kunde, d.h. die C., den Spediteur beauftragt, ohne dass die Klägerin hierüber Kenntnis erlangt habe. Die Klägerin sei auch davon ausgegangen, dass die Beauftragung des Spediteurs und damit die Zuordnung der bewegten Lieferung in dieser Fallkonstellation nicht von ausschlaggebender Bedeutung sei, da die Ware zunächst im Hafen von Z zwischengelagert worden sei und damit eine gebrochene Lieferung vorliege. Wie aus dem Betriebsprüfungsbericht hervorgehe, sei in dem Reihengeschäft mit der B in einer Vielzahl von Fällen die Steuerbefreiung auch tatsächlich zu gewähren. Dieses gelte sowohl in der Leistungsbeziehung mit dem Endkunden D als auch mit der C., da die Klägerin selbst den Spediteur mit dem Transport der Ware beauftragt und die erforderlichen Buch und Belegnachweise erbracht habe. Ähnlich komplex sowohl hinsichtlich des Sachverhaltes als auch hinsichtlich der Rechtslage seien die betreffenden Reihengeschäfte mit der E und dem niederländischen Händler F, die von der Klägerin trotz der erforderlichen Sorgfalt nicht als Reihengeschäfte erkannt worden seien. In der Regel habe die Klägerin aber eine korrekte Beurteilung der Geschäftsvorfälle vorgenommen und zudem auch aufgrund der verschiedenen Fallvarianten Vorsorge getragen, die Vielzahl von Reihengeschäften durch abteilungsübergreifende Abstimmungen und Rücksprachen umsatzsteuerlich korrekt darzustellen. Dass sich dennoch manche der rechtlichen Beurteilungen als unzutreffend herausgestellt hätten, sei damit unter dem Maßstab der im Geschäftsverkehr anzulegenden erforderlichen Sorgfalt aufgrund der dargelegten bestätigten Schwierigkeiten und der Komplexität der Sach- und Rechtslage nicht vorwerfbar. Zudem habe die Klägerin insbesondere dafür Sorge getragen, dass die für die steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferungen bzw. für die Ausfuhrlieferungen erforderlichen Buch und Belegnachweise in Y vorgelegen hätten.

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Die Klägerin selbst habe auch zu keinem Zeitpunkt das Umsatzsteueraufkommen gefährdet, da sie für den streitbefangenen Zeitraum ausschließlich Rechnungen ohne Umsatzsteuerausweis ausgestellt habe. Dem Umstand, dass die Klägerin keinerlei Umsatzsteuer abgeführt habe, stehe somit gegenüber, dass die betreffenden Händler als Leistungsempfänger auch keinerlei Vorsteuer geltend machen konnten, da sie über keine entsprechenden Rechnungen mit Umsatzsteuerausweis verfügt hätten. Es fehle daher für die Anwendung des § 233a AO nicht nur am Liquiditätsvorteil der Klägerin. Es liege vielmehr auch keinerlei Gefährdung des Steueraufkommens und kein Zinsschaden des Fiskus vor. Es werde auch darauf hingewiesen, dass in dem vom EuGH entschiedenen Fall Netto Supermarkt GmbH & Co. KG (EuGH-Urteil vom 21. Februar 2008 C-271/06) die Nichterhebung der Umsatzsteuer in Betracht gekommen sei, obwohl anders als im Falle der Klägerin, dem Fiskus ein finanzieller Nachteil wegen des vollen Ausfalls der Umsatzsteuer entstanden sei. Demgemäß gebiete es der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Falle der Klägerin erst recht, Zinsen nicht festzusetzen. Denn zum einen handele es sich nicht um die Umsatzsteuer selbst, sondern „nur“ um Nebenleistungen. Zum anderen sei die Umsatzsteuer gar nicht ausgefallen, sondern sei vollumfänglich entrichtet worden.

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Im Ergebnis ergebe sich aus dem Umstand, dass der Gesetzeszweck des § 233a AO durch die Zinsfestsetzung nicht erreicht werden könne, keinerlei Gefährdung des Steueraufkommens bestanden habe, der Fiskus keinen Zinsnachteil erlitten habe und zudem die Klägerin gutgläubig gewesen sei, dass die angefochtene Zinsfestsetzungen nicht verhältnismäßig und daher aufzuheben seien. Es sei darüber hinaus zu beachten, dass, wie der BFH mit Urteil vom 30. Juli 2008 (V R 7/03) entschieden habe, die Umsatzsteuerfreiheit einer Ausfuhrlieferung nicht versagt werden dürfe, wenn der liefernde Unternehmer bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmannes nicht habe erkennen können, dass die Voraussetzungen für die Umsatzsteuerfreiheit nicht vorliegen. Wenn dieses aber sogar für die Umsatzsteuer selbst gelte, dann müsse es erst recht für Zinsen gelten, die nur eine Nebenleistung zur Umsatzsteuer darstellen. Hilfsweise werde ein Erlass der streitbefangenen Zinsen aus Billigkeitsgründen gemäß § 227 AO beantragt.

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Der Beklagte wies die Einsprüche gegen die Umsatzsteuerbescheide für 2004 bis 2007 mit Einspruchsentscheidung vom 22. Juli 2010 als unbegründet zurück. Hiergegen hat die Klägerin keine Klage erhoben.

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Den von der Klägerin mit der Einspruchsbegründung hilfsweise gem. § 227 AO gestellten Erlassantrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom  24. August 2011 ab. Der hiergegen gerichtete Einspruch hatte keinen Erfolg. Die Einspruchsentscheidung, mit der der Einspruch als unbegründet zurückgewiesen wurde, datiert auf den 08. Dezember 2011. Über die hiergegen am 23. Dezember 2011 bei Gericht eingegangene Klage (3 K 1526/11) hat das Gericht noch nicht entschieden.

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Mit Einspruchsentscheidung vom 3. August 2011, einem Mittwoch, wies der Beklagte auch die Einsprüche gegen die Bescheide über die Festsetzung von Zinsen zur Umsatzsteuer für 2004 bis 2007 als unbegründet zurück. Er führte aus, dass eine Steuernachforderung gemäß § 233a Abs. 1 AO zu verzinsen sei. Die Verzinsung solle einen Ausgleich dafür schaffen, dass die Steuern trotz des gleichen gesetzlichen Entstehungszeitpunktes, aus welchen Gründen auch immer, zu unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und erhoben werden. Die Verzinsung sei gesetzlich vorgeschrieben und stehe nicht im Ermessen der Finanzbehörde. Sie soll mögliche Zinsvorteile des Schuldners bzw. Zinsnachteile des Gläubigers ausgleichen, ohne dass es auf eine konkrete Berechnung der tatsächlich eingetretenen Zinsvor- und Nachteile ankomme. Sinn und Zweck sei nicht nur die Abschöpfung von Liquiditätsvorteile auf Seiten des Steuerpflichtigen. Die Verzinsung solle auch Liquiditätsnachteile auf Seiten des Steuergläubigers ausgleichen. Dieses gelte auch für die Fälle, in denen dem Steuerpflichtigen tatsächlich keine Zinsvorteile erwachsen seien.

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Auch eine abweichende Festsetzung aus Billigkeitsgründen nach § 163 AO könne nicht erfolgen, auch wenn sie mit der Entscheidung über die Steuerfestsetzung gemäß § 163 Satz 3 AO verbunden werden könne. Zwar finde die Vorschrift nach § 239 Abs. 1 Satz 1 AO auch für Zinsen Anwendung, jedoch seien keine sachlichen Billigkeitsgründe gegeben, die eine abweichende Festsetzung rechtfertigen würden. So widerspreche die Zinsfestsetzung insbesondere nicht dem Gesetzeszweck des § 233a AO. So sei es zur Annahme eines Liquiditätsvorteils insbesondere nicht notwendig, dass die Klägerin auch tatsächlich Umsatzsteuer vereinnahmt habe, die sie dem Finanzamt hätte vorenthalten können. Entscheidend sei, dass die Steuer auf Lieferungen und sonstige Leistungen mit Ablauf des Voranmeldungszeitraumes entstanden sei, in dem die Lieferung oder Leistung ausgeführt wurde. Der Zinslauf habe damit gemäß § 233a Abs. 2 Satz 1 AO 15 Monate nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden sei, begonnen und habe erst mit Bekanntgabe der geänderten Steuerfestsetzung am 29. April 2010 geendet.

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Auch ein Verstoß gegen die 6. EG-Richtlinie liege nicht vor. Der vorliegende Sachverhalt sei insoweit nicht mit den von der Klägerin genannten Fällen vergleichbar. Auch dort sei noch zu prüfen, ob die dortige Klägerin, die G, alles nur Erdenkliche getan habe, wenn letztlich auch erfolglos, um einen Umsatzsteuerbetrug auszuschließen. Dieses sei jedenfalls vorliegend nicht erkennbar, denn die Klägerin habe die zutreffende umsatzsteuerliche Einordnung der Reihengeschäfte erkennen können. Es sei zwar unbestritten, dass es sich bei Reihengeschäften um umsatzsteuerlich komplizierte Sachverhalte handele. Es sei aber keineswegs so, dass die Rechtslage unklar war oder sei. Nach Kenntnis des gesamten Sachverhaltes sei durchaus zu bestimmen, welche Lieferung im Reihengeschäft die ruhende und welche die bewegte und damit steuerfreie Lieferung sei. Die Ausführungen der Klägerin, dass die zuständigen Mitarbeiter im Vertrieb und in der Finanzbuchhaltung nicht davon ausgegangen seien, dass die Beauftragung des Spediteurs durch den Kunden keine Auswirkung auf die umsatzsteuerliche Beurteilung haben könne, entschuldige die unrichtige Behandlung der Umsätze nicht. Gerade weil gemäß den Ausführungen der Klägerin regelmäßige Schulungen durchgeführt worden seien, hätten die Mitarbeiter bei der Beurteilung der veränderten Lieferkette sensibler sein müssen. Dem Betriebsprüfer sei es nach Kenntnis des gesamten Sachverhaltes ohne weiteres möglich gewesen, die betreffenden Geschäftsvorfälle zu erkennen und zu bewerten. Dieses wäre für die Klägerin gegebenenfalls unter Einschaltung eines Steuerberaters auch möglich gewesen. Sie hätte die Möglichkeit gehabt, nach Kenntnis von der Beauftragung des Spediteurs durch den Kunden, die Umsätze richtig zu beurteilen und dann die entsprechenden Umsatzsteuervoranmeldungen zu berichtigen und entsprechend berichtigte Ausgangsrechnungen auszustellen.

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Ein Verstoß gegen Treu und Glauben liege ebenfalls nicht vor. Ein solcher Verstoß werde ohnehin von der Klägerin lediglich behauptet. Insbesondere in den Besprechungen zur Abwicklung der entstandenen Umsatzsteuerzahllast am Ende der Betriebsprüfung sei keine Zusage erteilt worden, dass die Zinsen nicht erhoben oder erlassen werden würden.

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Die hiergegen gerichtete Klage ist bei Gericht am 7. September 2011 eingegangen.

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Zur Begründung ihrer Klage wiederholt die Klägerin im Wesentlichen Ihren Vortrag aus dem Einspruchsverfahren.

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Die Klägerin beantragt,
die Bescheide über Zinsen zur Umsatzsteuer für 2004, 2005 2006 und 2007 vom 26. April 2010 und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung vom 3. August 2011 ersatzlos aufzuheben.

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Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

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Er trägt vor, dass die Klagebegründung der Einspruchsbegründung vom 16. Juni 2010 entspreche, so dass er zur Vermeidung von Wiederholungen zur Klageerwiderung auf die Ausführungen in der Einspruchsentscheidung vom 3. August 2011 verweise.

Entscheidungsgründe

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1. Die Klage ist unbegründet.

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Die Bescheide über Zinsen zur Umsatzsteuer für 2004, 2005 2006 und 2007 vom 26. April 2010 sowie die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung vom 3. August 2011 sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 Finanzgerichtsordnung –FGO–).

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a) Nach Maßgabe des § 233a AO sind die streitgegenständlichen Bescheide, auch hinsichtlich der Höhe der festgesetzten Beträge, rechtmäßig.

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aa) Führt die Festsetzung der Umsatzsteuer zu einem Unterschiedsbetrag – resultierend aus der festgesetzten Steuer, vermindert um die anzurechnenden Steuerabzugsbeträge sowie um die bis zum Beginn des Zinslaufs festgesetzten Vorauszahlungen (§ 233a Abs. 3 Satz 1 AO) – ist dieser unabhängig davon, zu wessen Gunsten er ausfällt, nach § 233a Abs. 1 Satz 1 AO zu verzinsen. Der Zinslauf beginnt grundsätzlich 15 Monate nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist (§ 233a Abs. 2 Satz 1 AO) und endet mit Ablauf des Tages, an dem die Steuerfestsetzung wirksam wird. Wird die Steuerfestsetzung – wie im Streitfall – geändert, ist gemäß § 233a Abs. 5 AO eine bisherige Zinsfestsetzung zu ändern. Falls bisher (wie im Streitfall) keine Zinsfestsetzung erfolgt ist, ist nach der Korrektur der Steuerfestsetzung nach den Grundsätzen des § 233a Abs. 5 AO eine Zinsfestsetzung erstmals vorzunehmen (BFH-Urteil vom 18. Mai 2005 VIII R 100/02, BFHE 210, 1, BStBl II 2005, 735; BFH-Beschluss vom 30. August 2010 VIII B 66/10, BFH/NV 2011, 1825). Maßgebend für die Zinsberechnung ist der Unterschiedsbetrag zwischen der festgesetzten Steuer und der vorher festgesetzten Steuer, jeweils vermindert um die anzurechnenden Steuerabzugsbeträge und um die anzurechnende Körperschaftsteuer (§ 233a Abs. 5 Satz 2 AO). Durch § 238 Abs. 1 Satz 1 AO wird der Zinssatz typisierend auf 0,5 v.H. pro Monat festgelegt.

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bb) Die Verzinsung ist wegen ihres typisierenden Charakters unabhängig von einem Verschulden des Finanzamts oder des Steuerpflichtigen; sie ist durch ihre Abschöpfungswirkung gekennzeichnet. Zweck der Regelungen in § 233a AO ist es, einen Ausgleich dafür zu schaffen, dass die Steuern bei den einzelnen Steuerpflichtigen zu unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und fällig werden (Begründung zum Gesetzentwurf, BTDrucks 11/2157, 194). Liquiditätsvorteile, die dem Steuerpflichtigen oder dem Fiskus aus dem verspäteten Erlass eines Steuerbescheides objektiv oder typischerweise entstanden sind, sollen mit Hilfe der sog. Vollverzinsung ausgeglichen werden. Ob die möglichen Zinsvorteile tatsächlich gezogen worden sind, ist für die Festsetzung grundsätzlich unbeachtlich (vgl. BFH-Urteile vom 16. November 2005 X R 3/04, BStBl II 2006, 155; vom 19. März 1997 I R 7/96, BStBl II 1997, 446 m.w.N.). Der Gesetzgeber hat im Interesse der Praktikabilität und der Verwaltungsvereinfachung den auszugleichenden Zinsvorteil und -nachteil typisierend auf 0,5 v.H. pro Monat festgesetzt. Daraus folgt, dass es auf den im Einzelfall vom Steuerpflichtigen konkret erzielten bzw. vom Steuergläubiger erlittenen Zinsvorteil oder -nachteil nicht ankommen soll (vgl. BFH-Urteil vom 20. September 1995 X R 86/94, BFHE 178, 555, BStBl II 1996, 53). Der konkrete Zinsvorteil oder -nachteil soll für den Einzelfall nicht ermittelt werden müssen. In vielen Fällen wäre eine solche Ermittlung auch gar nicht möglich, weil es von subjektiven Entscheidungen des Steuerpflichtigen abhängt, in welcher Weise er Steuernachzahlungen finanziert bzw. das noch nicht zu Steuerzahlungen benötigte Kapital verwendet. Ebenso wenig soll es darauf ankommen, welcher Zinsnachteil im konkreten Einzelfall dem Steuergläubiger entsteht und inwieweit Zinsvorteil und -nachteil voneinander abweichen (BFH-Urteil vom 19. März 1997 I R 7/96, BFHE 182, 293, BStBl II 1997, 446).

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Weil die Entstehung des Zinsanspruchs dem Grunde und der Höhe nach gemäß dem durch die Gesetzesbegründung (BTDrucks 11/2157, S. 194) bestätigten Wortsinn, dem Zusammenhang und dem Zweck des Gesetzes eindeutig unabhängig von der konkreten Einzelfallsituation geregelt ist und allein vom Eintritt objektiver Daten (Fristablauf i.S. des § 233a Abs. 2 AO; Unterschiedsbetrag i.S. des § 233a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 3 AO) abhängt, sind für die Anwendung des § 233a AO die Ursachen und Begleitumstände im Einzelfall grundsätzlich unbeachtlich (BFH-Beschluss vom 2. August 2005 X B 139/04, juris). Prinzipiell ist ein Verschulden irrelevant, und zwar auf beiden Seiten des Steuerschuldverhältnisses (s. BFH-Entscheidungen vom 15. April 1999 V R 63/97, BFH/NV 1999, 1392, und vom 30. November 2000 V B 169/00, BFH/NV 2001, 656, 657 einerseits, sowie vom 4. November 1996 I B 67/96, BFH/NV 1997, 458, und vom 3. Mai 2000 II B 124/99, BFH/NV 2000, 1441, 1442 andererseits). Die Rechtsprechung hat es jedenfalls auf Ebene der Festsetzung der Zinsen als unerheblich angesehen, ob der – typisierend vom Gesetz unterstellte – Zinsvorteil des Steuerpflichtigen auf einer verzögerten Einreichung der Steuererklärung durch den Steuerpflichtigen oder einer verzögerten Bearbeitung durch das Finanzamt beruht (BFH-Beschluss vom 3. Mai 2000 II B 124/99, BFH/NV 2000, 1441).

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Unter Berücksichtigung des o.g. Gesetzeswecks und des klaren unmissverständlichen Wortlautes des § 233a AO ist eine Auslegungsbedürftigkeit des Gesetzes für den Senat auf der Ebene des Festsetzungsverfahrens nicht zu erkennen. Die Vorschrift ist hinreichend klar und nicht weiter auslegungsbedürftig. Ob der Gesetzeszweck ggf. bei der Überprüfung der im Parallelverfahren zu beurteilenden Billigkeitsmaßnahme weiter zu berücksichtigen ist, kann für das vorliegende Verfahren dahingestellt bleiben.

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cc) An die Vorgaben des § 233a AO hat der Beklagte sich bei der Zinsfestsetzung gehalten. Insoweit hat auch die Klägerin keine Einwände vorgebracht. Die Berechnung der Zinsen ist zutreffend erfolgt.

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dd) Auch die in § 238 Abs. 1 AO festgelegte Zinshöhe von 0,5 v.H. pro Monat, die Beklagte der Berechnung der Zinsen zu Grunde gelegt hat, begegnet trotz der seit mehreren Jahren hiervon stark abweichenden Marktzinsen für Geldanlagen keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.

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Dieses gilt nach Rechtsprechung des BFH jedenfalls für Verzinsungszeiträume bis 2013 (vgl. BFH-Beschluss vom 19. Februar 2016 X S 38/15, BFH/NV 2016, 940). Mit Nichtannahmebeschluss vom 3. September 2009  1 BvR 2539/07 (BFH/NV 2009, 2115, dort unter III.1.b bb) hat das BVerfG entschieden, dass der durch den Gesetzgeber im Interesse der Praktikabilität und der Verwaltungsvereinfachung typisierend auf 0,5 v.H. pro Monat festgesetzte Zinssatz, der immerhin zugunsten wie zulasten des Steuerpflichtigen gilt, rechtsstaatlich unbedenklich ist und keinen Verstoß gegen das aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Übermaßverbot darstellt. Es entspricht gerade der Absicht des Gesetzgebers, dass der konkrete Zinsvorteil oder -nachteil für den Einzelfall nicht ermittelt werden muss. Entsprechend haben sowohl der I. Senat des BFH (Urteil vom 20. April 2011 I R 80/10, BFH/NV 2011, 1654, unter II.2.) als auch der IX. Senat des BFH (Urteil vom 1. Juli 2014 IX R 31/13, BFHE 246, 193, BStBl II 2014, 925, dort unter II.2.a bis c; bestätigt durch Urteil vom 14. April 2015 IX R 5/14, BFHE 250, 483, BStBl II 2015, 986) entschieden. Der IX. Senat hatte für einen Zinszeitraum bis zum Jahre 2011 sinngemäß näher ausgeführt, dass es zwar unter praktischen Gesichtspunkten unter Einsatz moderner EDV durchaus denkbar sei, eine Anpassung der Zinshöhe an den jeweiligen Marktzinssatz oder an den Basiszinssatz i.S. des § 247 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) vorzunehmen, dass aber weitere Gesichtspunkte existieren, die die grundsätzliche Abkopplung von diesen beiden Zinsfüßen rechtfertigen und den geltenden Zinssatz von 6 v.H. nicht als so hoch erscheinen lassen, wie er auf den ersten Blick scheint. So wäre es unangemessen, als Vergleichsmaßstab lediglich den jeweils aktuellen Zinssatz für Geldanlagen heranzuziehen, da sowohl die bei der Verwendung von Kapital erzielbaren als auch bei der Finanzierung von Steuernachzahlungen aufzubringenden Zinsen bzw. Renditen von individuellen Finanzierungsentscheidungen des Steuerpflichtigen abhängig sind. Das bedeutet, dass bei einer Beurteilung des gesetzlichen Zinssatzes anhand der Marktverhältnisse einerseits die üblichen Zinssätze etwa für Dispositionskredite und andere unbesicherte Konsumentenkredite, andererseits die Renditemöglichkeiten von Anlageformen außerhalb der reinen Geldanlage zu berücksichtigen sind. Die Abkopplung des gesetzlichen Zinssatzes von dem individuellen Zinsvorteil oder -nachteil ist letztlich ein grundlegendes Prinzip, das nicht von dem Zeitraum abhängt, um den es geht. Es zeigt vielmehr, dass der gesetzliche Zinssatz grundsätzlich auch und gerade gerechtfertigt ist, wenn er signifikant von dem Marktzins abweicht, der seinerseits die tatsächlichen Zinsvorteile oder -nachteile prägt. Eine einschneidende Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse, die so weit ginge, dass selbst bei Einbeziehung der für den Kreditnehmer ungünstigsten Sollzinssätze namentlich bei unbesicherten Kreditformen oder Dispositionskrediten bzw. der für den Vermögensanleger günstigsten Renditen ein Zinsfuß von 6 v.H. p.a. gänzlich markt- und realitätsfremd erschiene, ist nicht zu erkennen.

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b) Eine Rechtswidrigkeit der Zinsfestsetzungen ergibt sich auch nicht unter Heranziehung der von der Klägerin dargestellten Grundsätze aus Treu und Glauben.

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aa) Das Finanzamt ist grundsätzlich verpflichtet, die nach dem Gesetz entstandenen Steuer- und Zinsansprüche geltend zu machen. Ausnahmsweise kann es aber nach dem allgemein gültigen Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) an der Geltendmachung und Durchsetzung entstandener Ansprüche gehindert sein (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 18. April 1991 V R 67/86, BFH/NV 1992, 217 m.w.N.; vom 18. Dezember 1991 X R 38/90, BFHE 167, 1, BStBl II 1992, 504; vom 9. August 1989 I R 181/85, BFHE 158, 31, BStBl II 1989, 990). Welche Anforderungen der Grundsatz von Treu und Glauben an die Beteiligten eines Steuerrechtsverhältnisses stellt, ist jeweils anhand der Umstände des Einzelfalles zu entscheiden. Im Allgemeinen wird die Ausübung eines Rechts oder die Geltendmachung eines Anspruchs als rechtsmissbräuchlich zu beurteilen sein, wenn der Berechtigte diese durch ein gesetz-, sitten- oder vertragswidriges, d.h. unredliches Verhalten erworben hat. Auf den Grundsatz von Treu und Glauben kann sich aber nur der Beteiligte berufen, dem aus dem schuldhaften Verhalten des anderen ein Nachteil entsteht oder zu entstehen droht. Zieht derjenige, der sich auf Gesetz- oder Pflichtverletzungen eines anderen beruft, aus der Gesetz- oder Pflichtverletzung nur Vorteile, so ist es aus dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben nicht zu beanstanden, wenn der andere aufgrund entsprechender vertraglicher oder gesetzlicher Rechtsgrundlage die Herausgabe dieses Vorteils verlangt (vgl. BFH-Urteil vom 8. September 1993 I R 30/93, BFHE 172, 304, BStBl II 1994, 81, m.w.N.). Der Grundsatz von Treu und Glauben steht einer Festsetzung von Nachforderungszinsen grundsätzlich auch dann nicht entgegen, wenn dem Finanzamt bei der Bearbeitung einer Steuererklärung Fehler unterlaufen sind (vgl. BFH-Beschlüsse vom 3. Mai 2000 II B 124/99, BFH/NV 2000, 1441; vom 30. Oktober 2001 X B 147/01, BFH/NV 2002, 505 und vom 2. August 2005 X B 139/04, juris).

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bb) Derartige Umstände, die zu Gunsten der Klägerin im Hinblick auf die Nichtfestsetzung von Nachzahlungszinsen einen Vertrauenstatbestand begründen könnten, wie etwa eine schuldhaft verzögerte Bearbeitung der Steuererklärung, sind nicht ersichtlich. Der Beklagte hatte die Umsatzsteuer für die Streitjahre zunächst erklärungsgemäß unter dem Vorbehalt der Nachprüfung festgesetzt. Einen Hinweis darauf, dass eine Zinsfestsetzung auch bei späteren Änderungen nicht erfolgen werde, ist nicht ersichtlich. Im Hinblick auf die Festsetzungen der Grundlagenbescheide (Umsatzsteuerbescheide für 2004 bis 2007) unter dem Vorbehalt der Nachprüfung und der damit verbundenen erleichterten Änderbarkeit der Bescheide konnte die Klägerin auch gerade nicht davon ausgehen, dass eine spätere Änderung mit der gesetzlichen Folge der Festsetzung von Nachzahlungszinsen nicht erfolgen werde.

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c) Zwar ist nach der Rechtsprechung des BFH für einen Ausgleich in Form einer Verzinsung der Steuernachforderung kein Raum, wenn zweifelsfrei feststeht, dass ein Steuerpflichtiger durch die verspätete Steuerfestsetzung keinen Vorteil erlangt hatte (vgl. BFH-Urteile vom 11. Juli 1996 V R 18/95, BFHE 180, 524, BStBl II 1997, 259; vom 12. April 2000 XI R 21/97 in BFH/NV 2000, 1178). Diese Umstände sind hingegen bei der Frage einer möglichen Billigkeitsmaßnahme und nicht auf der Ebene des Festsetzungsverfahrens zu berücksichtigen. Festgesetzte Nachzahlungszinsen sind dann ggf. wegen sachlicher Unbilligkeit zu erlassen (BFH-Beschluss vom 30. Oktober 2001  X B 147/01,  juris). Allgemein ist eine Unbilligkeit aus sachlichen Gründen dann anzunehmen, wenn ein Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis zwar nach dem gesetzlichen Tatbestand besteht, seine Geltendmachung aber mit dem Zweck des Gesetzes nicht zu rechtfertigen ist (BFH-Urteil vom 16. November 2005 X R 3/04, BStBl II 2005, 155; BFH-Beschluss vom 26. Juli 2006 VI B 134/05, BFH/NV 2006, 2029). In diese Richtung geht die überwiegende Argumentation der Klägerin, die vorträgt, dass sie auf Grund der erst nach Rechnungskorrektur erfolgten Vereinnahmung der Umsatzsteuer einen Liquiditätsvorteil nicht gehabt habe. Über den Erlass ist aber vorliegend nicht zu entscheiden. Im Rahmen des Festsetzungsverfahrens muss daher ein etwaiger nicht vorhandener Liquiditätsvorteil auf Grund der gesetzlich vorgesehenen Typisierung unberücksichtigt bleiben.

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Es kommt daher im Ergebnis auf Ebene der Festsetzung nicht darauf an, ob die Klägerin tatsächlich, wie sie es darstellt, keinen Vorteil aus der erst späteren Festsetzung gezogen hat oder nicht. Anders als die Klägerin vorträgt, hat sie hingegen einen Teil der abzuführenden Umsatzsteuer bereits ursprünglich als Teil der (geringeren) Gegenleistung vereinnahmt und diesen Teil jedenfalls nicht abgeführt. Hierin ist, auch wenn es für die Entscheidung nicht darauf ankommt, jedenfalls ein Vorteil der Klägerin zu sehen. Denn gem. § 10 Abs. 1 UStG wird der Umsatz bei Lieferungen und Leistungen nach dem Entgelt bemessen, wobei Entgelt alles ist, was der Leistungsempfänger aufwendet, um die Leistung zu enthalten, jedoch abzüglich der Umsatzsteuer.

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d) Auch unter Berücksichtigung des EuGH-Urteils vom 15. September 2016 in der Rechtssache Senatex (C-518/14, MwStR 2016, 792) ergibt sich nach Auffassung des Senats keine Rechtswidrigkeit der Zinsfestsetzungen.

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Zunächst betrifft das Urteil mit der Besteuerung des Leistungsempfängers, der im Besitz einer nachträglich korrigierten Rechnung war, einen anderen, mit dem vorliegenden Fall lediglich „spiegelbildlich“ vergleichbaren Fall. Der dortige Leistungsempfänger sollte nach Auffassung des Finanzamtes wegen formeller Mängel der den Vorsteuerabzug begründenden Eingangsrechnungen (es fehlten die Steuernummer bzw. die Umsatzsteuer-Identifikationsnummer des Leistenden) trotz während der Betriebsprüfung vorgelegter korrigierter Rechnungen Nachzahlungszinsen wegen fehlender Rückwirkung der Rechnungsberichtigungen zahlen. Diese Auffassung wurde vom EuGH nicht geteilt. Hiernach sind Art. 176, Art. 178 Buchst. a, Art. 179 und Art. 226 Nr. 3 der ab dem 1. Januar 2007 geltenden Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gesamte Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL) dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach der Berichtigung einer Rechnung in Bezug auf eine zwingende Angabe, nämlich der Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer, keine Rückwirkung zukommt, so dass das Recht auf Vorsteuerabzug in Bezug auf die berichtigte Rechnung nicht für das Jahr ausgeübt werden kann, in dem diese Rechnung ursprünglich ausgestellt wurde, sondern für das Jahr, in dem sie berichtigt wurde. In Rn. 37 des o.g. Urteils führt der EuGH aus, dass durch die Regelung über den Vorsteuerabzug  der Unternehmer vollständig von der im Rahmen aller seiner wirtschaftlichen Tätigkeiten geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuerentlastet werden soll. Eine nationale Regelung, nach der Nachzahlungszinsen auf die vor einer Berichtigung der ursprünglich ausgestellten Rechnung als geschuldet angesehenen Mehrwertsteuerbeträge zu entrichten sind, belegt diese wirtschaftlichen Tätigkeiten jedoch mit einer aus der Mehrwertsteuer resultierenden Belastung, obwohl das gemeinsame Mehrwertsteuersystem die Neutralität dieser Steuer garantiert.

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Ob auch beim Leistenden, bei dem für die Entstehung der Umsatzsteuer weder die Erstellung einer Rechnung noch formelle Rechnungsangaben von Bedeutung sind, der Neutralitätsgrundsatz durch die Festsetzung von Nachzahlungszinsen verletzt sein kann, wenn feststeht, dass, wie vorliegend, der Leistungsempfänger in der Vergangenheit gerade keinen Vorsteuerabzug aus den fraglichen Rechnungen (mangels ausgewiesener Umsatzsteuer) geltend gemacht hat, hat der EuGH nicht entschieden. Auch hat der EuGH nicht darüber befunden, ob der Grundsatz der Neutralität der Umsatzsteuer bei der Festsetzung von Nachzahlungszinsen gewahrt ist, wenn es durch den rückwirkenden Vorsteuerabzug auf Seiten des Leistungsempfängers zur Festsetzung von Guthabenzinsen kommt, sich damit Nachzahlungs- und Guthabenzinsen gegenüber stehen.

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Im Ergebnis können diese Fragen aber nach Auffassung des Senats für das vorliegende Verfahren offen bleiben. Ob die Zinsfestsetzung auch gegenüber dem Leistenden ggf. dem Neutralitätsgrundsatz widerspricht, kann nur einer Entscheidung im Billigkeitsverfahren vorbehalten bleiben, da es der gesetzlich vorgesehen Typisierung des Festsetzungsverfahrens widersprechen würde, bereits bei der Festsetzung zu prüfen, ob und ggf. in welcher Höhe der Leistungsempfänger einen Vorsteuerabzug geltend gemacht hat bzw. dieses rückwirkend könnte, was ggf. zu einer mit der Zinsfestsetzung gegenüber dem Leistenden korrespondierenden Zinsfestsetzung zu Gunsten des Leistungsempfängers führen würde. Andererseits wäre es ggf. unbillig, die Festsetzung von Nachzahlungszinsen gegenüber dem Leistenden davon abhängig zu machen, gegenüber wem er die Leistungen ausführt (ggf. einer nicht zum Vorsteuerabzug berechtigten Person) und wie diese sich steuerlich verhalten hat. Diese Frage bleibt jedoch einer Entscheidung im parallelen Verfahren wegen Ablehnung des Erlasses der Zinsen gem. § 227 AO vorbehalten. Dass die Herstellung der Neutralität der Umsatzsteuer im Billigkeitsverfahren erfolgen kann, ist höchstrichterlich zu § 14 Abs. 3 UStG a.F. entschieden (BFH-Urteil vom 17. Mai 2001 V R 77/99, BFHE 194, 552, BStBl II 2004, 370).

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2. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

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3. Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung im Hinblick auf die Auswirkungen des EuGH-Urteils vom 15. September 2016 (C-518/14 –Senatex–) auf die hier streitgegenständliche „spiegelbildliche Situation“ der Festsetzung von Nachzahlungszinsen gegenüber dem rechnungskorrigierenden Leistenden zuzulassen.


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