Beschluss vom Finanzgericht des Landes Sachsen-Anhalt (4. Senat) - 4 V 905/16

Tenor

Die Vollziehung des Bescheides über die Festsetzung von Hinterziehungszinsen vom 15. März 2016 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 23. August 2016 wird bis zum Ablauf eines Monats nach Abschluss des Verfahrens 4 K 903/16 ausgesetzt.

Die Kosten des Verfahrens hat die Antragsgegnerin zu tragen.

Tatbestand

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I. Die Antragstellerin bezog für ihre am 17. September 1994 geborene Tochter B Kindergeld. Am 18. August 2015 teilte sie der Antragsgegnerin telefonisch mit, dass B ihre Berufsausbildung abgebrochen habe. Im Anschluss an die Geburt eines eigenen Kindes am 21. Oktober 2014 habe sie sich für ein Jahr in Elternzeit befunden. In der im September 2015 bei der Antragsgegnerin eingegangenen "Erklärung zum Ausbildungsverhältnis" bestätigt der Ausbildungsbetrieb, dass das Ausbildungsverhältnis am 4. April 2013 beendet worden sei. Die Erklärung enthält an dieser Stelle den handschriftlichen Zusatz "wurde Kindergeldstelle mitgeteilt".

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Daraufhin hob die Antragsgegnerin die Kindergeldfestsetzung mit Bescheid vom 16. Oktober 2015 ab Mai 2013 auf und forderte das danach überzahlte Kindergeld für die Zeit von Mai 2013 bis Juli 2015 i.H.v. 5833 EUR von der Antragstellerin zurück. Dieser Bescheid ist bestandskräftig.

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Weil die Antragstellerin nach Ansicht der Antragsgegnerin ihre Mitwirkungspflicht verletzt habe und deshalb hinsichtlich des Rückforderungsbetrages eine Steuerhinterziehung vorliege, setzte sie mit Bescheid vom 15. März 2016 Hinterziehungszinsen i.H.v. 420 EUR fest.

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Dagegen hat die Antragstellerin Einspruch eingelegt, zu dessen Begründung sie unter anderem ausführte, sie sei – nach einem Eintrag in ihren Unterlagen – ihrer Mitteilungspflicht bereits im April 2013 nachgekommen und habe die Antragsgegnerin schriftlich darüber informiert, dass B die Ausbildung aufgrund ihrer Schwangerschaft habe vorzeitig beenden müssen.

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Nachdem ihr Einspruch als unbegründet zurückgewiesen worden war, hat die Antragstellerin zum Aktenzeichen 4 K 903/16 Klage erhoben, über die noch nicht entschieden worden ist, und im vorliegenden Verfahren die Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Bescheide beantragt, nachdem die Antragsgegnerin einen entsprechenden Antrag abgelehnt hatte.

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Zur Begründung macht die Antragstellerin im Wesentlichen geltend, sie habe allenfalls leichtfertig, aber nicht vorsätzlich gehandelt.

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Die Antragsgegnerin hält den Antrag für unbegründet. Sie ist der Ansicht, die Antragstellerin könne sich nicht auf mangelnde Kenntnis der Rechtslage berufen, weil ihr das Merkblatt zum Kindergeld übersandt worden sei, dem ursprünglichen Festsetzungsbescheid der Hinweis zu entnehmen gewesen sei, dass alle für die Festsetzung des Kindergeldes erheblichen Änderungen umgehend mitzuteilen seien und ein Verstoß gegen diese Pflichten den Tatbestand einer Ordnungswidrigkeit oder Straftat erfüllen könne. Außerdem habe sie mit ihrer Unterschrift unter einer Veränderungsmitteilung vom 5. November 2013 versichert, dass ihr bekannt sei, dass sie alle Änderungen, die für den Anspruch auf Kindergeld von Bedeutung seien, unverzüglich der Familienkasse mitzuteilen habe. Die Antragstellerin habe mithin ihre Mitteilungs-/Berichtigungspflicht und die wesentlichen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Kindergeld gekannt, so dass sie die Folgen ihres Tuns (Nichtstuns) zumindest billigend in Kauf genommen habe.

Entscheidungsgründe

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II. Der Antrag ist begründet.

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Die Aussetzung der Vollziehung soll gemäß § 69 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 zweiter Halbsatz Finanzgerichtsordnung (FGO) erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.

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Ernstliche Zweifel liegen vor, wenn die Prüfung ergibt, dass neben den für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige, gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zu Tage treten, die Unsicherheit oder Unentschiedenheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheiten in der Beurteilung von Tatsachen bewirken. Da durch die Aussetzung der Vollziehung der Antragstellerin nur ein vorläufiger Rechtsschutz zu Teil werden soll, beschränkt sich das Verfahren auf eine summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage und die Verwertung der dem Gericht vorliegenden Beweismittel. Bei der notwendigen Abwägung der im Einzelfall entscheidungsrelevanten Umstände und Gründe sind ferner die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels zu berücksichtigen (ständige Rechtsprechung, vgl. Koch in Gräber, Finanzgerichtsordnung, 8. Auflage 2015, Rdnr. 160 ff zu § 69).

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Derartige Zweifel bestehen im Streitfall.

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Gemäß § 235 Abs. 1 Satz 1 Abgabenordnung (AO) sind (nur) hinterzogene Steuern zu verzinsen. Die Festsetzung von Hinterziehungszinsen erfordert mithin das Vorliegen einer vollendeten Steuerhinterziehung (§§ 370, 373 AO). Es müssen sowohl der objektive als auch der subjektive Tatbestand erfüllt sein.

13

Im Streitfall kommt alleine eine Steuerhinterziehung im Sinne von § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO in Betracht. Nach dieser Vorschrift wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis lässt und dadurch Steuern verkürzt oder für sich oder einen anderen nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt.

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§ 370 AO erfasst gemäß Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 1 auch Steuervergütungen und damit das Kindergeld, das gemäß § 31 Satz 3 Einkommensteuergesetz (EStG) als Steuervergütung gezahlt wird. Zu den Finanzbehörden gehören gemäß § 6 Abs. 2 Nr. 6 AO auch die Familienkassen.

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Es ist bereits zweifelhaft, ob der objektive Tatbestand einer Steuerhinterziehung nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO im Streitfall erfüllt ist. Zwar stellt der Abbruch der Berufsausbildung durch die Tochter der Antragstellerin und die anschließende Elternzeit eine für den Bezug des Kindergeldes und damit auch steuerlich erhebliche Tatsache dar. Auch hat die Antragstellerin einen nicht gerechtfertigten Steuervorteil erlangt, weil ihr das Kindergeld über den Zeitpunkt des Abbruchs der Berufsausbildung ihrer Tochter B hinaus weiterhin belassen wurde (§ 370 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 AO). Möglicherweise ist die Antragstellerin aber ihrer Verpflichtung als Bezieherin von Kindergeld gemäß § 68 Abs. 1 Satz 1 EStG, Änderungen in den Verhältnissen, die für den Bezug von Kindergeld erheblich sind, unverzüglich mitzuteilen, bereits im April 2013 und damit rechtzeitig nachgekommen.

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Zweifelhaft ist aber auch, ob der subjektive Tatbestand einer Steuerhinterziehung im Streitfall erfüllt ist. Dafür müsste die Antragstellerin die erforderliche Mitteilung über den Abbruch der Berufsausbildung und die anschließende Elternzeit zumindest mit bedingtem Vorsatz unterlassen haben.

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Denn der Tatbestand der Steuerhinterziehung kann gemäß § 15 Strafgesetzbuch (StGB) nur vorsätzlich begangen werden, weil § 370 AO die Strafbarkeit der fahrlässigen Begehung nicht anordnet. Zwar wird die fahrlässige Begehungsweise durch § 378 AO als Ordnungswidrigkeit geahndet, wenn eine Steuerverkürzung leichtfertig begangen wird; dies genügt jedoch – wie bereits dargelegt – für die Festsetzung von Hinterziehungszinsen nicht.

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Eine vorsätzliche Begehung in Form des – hier allein in Betracht kommenden – bedingten Vorsatzes setzt voraus, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt und damit in der Weise einverstanden ist, dass er die Tatbestandsverwirklichung billigend in Kauf nimmt oder sich um des erstrebten Zieles willen wenigstens mit ihr abfindet, mag ihm auch der Erfolgseintritt an sich unerwünscht sein. Davon abzugrenzen ist die bewusste Fahrlässigkeit, bei der der Täter mit der als möglich erkannten Tatbestandsverwirklichung nicht einverstanden ist und ernsthaft – nicht nur vage – darauf vertraut, der tatbestandliche Erfolg werde schon nicht eintreten. Da beide Schuldformen im Grenzbereich eng beieinanderliegen, müssen für die Annahme eines bedingten Vorsatzes die Merkmale der inneren Tatseite grundsätzlich umfassend geprüft und durch tatsächliche Feststellungen belegt werden. Ausführliche – nicht nur formelhafte – Feststellungen zum subjektiven Tatbestand sind namentlich dann erforderlich, wenn sich aufgrund der Schilderung des äußeren Sachverhalts nicht von selbst versteht, dass der Täter vorsätzlich gehandelt hat (Kammergericht Berlin -KG-, Beschluss vom 14. Dezember 2016 – (4) 121 Ss 175/16 (205/16) –, Rn. 19, juris m.w.N.).

19

Bei § 370 Abs. 1 AO muss sich der Vorsatz auf den nicht gerechtfertigten Steuervorteil und den Zurechnungszusammenhang erstrecken. Der Täter muss den Sinn des Tatbestandsmerkmals und des darunter zu subsumierenden Verhaltens zutreffend erfassen. Für die Annahme eines bedingten Vorsatzes ist zwar nicht erforderlich, dass der Täter den Steueranspruch dem Grunde oder der Höhe nach sicher kennt oder gar Kenntnis von der genauen Abgabenart und der steuerlichen Anspruchsnorm hat. Ausreichend, aber auch erforderlich ist vielmehr, dass er den Steueranspruch für möglich hält und die Finanzbehörde dennoch über die Besteuerungsgrundlagen in Unkenntnis lässt. Aufgrund der tatbestandlichen Besonderheiten des § 370 AO kommt dem Wissenselement entscheidende Bedeutung für das Vorliegen des bedingten Vorsatzes zu. Insbesondere kann derjenige, der Tatsachen gänzlich verschweigt, durchaus auch von deren Unerheblichkeit ausgehen (KG, Beschluss vom 14. Dezember 2016 – (4) 121 Ss 175/16 (205/16) –, Rn. 20, juris m.w.N.).

20

Bei dem Unterlassungsdelikt des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO muss der Täter ernsthaft für möglich halten und billigen, dass die Finanzbehörde keine Kenntnis von den steuerlich erheblichen Tatsachen hat, er die Aufklärung gleichwohl unterlässt und dadurch als Taterfolg eine Steuerverkürzung oder ein ungerechtfertigter Steuervorteil eintritt. Ferner muss sich der Vorsatz auf die tatsächlichen Umstände erstrecken, die die steuerliche Erklärungspflicht begründen. Hat der Täter die Steuererheblichkeit des eigenen Verhaltens erfasst, wird er in aller Regel auch ernsthaft für möglich halten, dass ihn die vorbezeichnete Rechtspflicht trifft. Auch ist dem Staatsbürger im Allgemeinen bekannt, dass eine Anzeigepflicht gegenüber den Finanzbehörden besteht, wenn die Voraussetzungen für eine gewährte Steuervergünstigung nachträglich weggefallen sind. Wer dagegen etwas vergisst oder wegen Unkenntnis der Steuerrechtslage erst gar nicht an die Abgabe einer Erklärung denkt, unterlässt nicht vorsätzlich, sondern gegebenenfalls nur fahrlässig (KG, Beschluss vom 14. Dezember 2016 – (4) 121 Ss 175/16 (205/16) –, Rn. 21, juris)

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Für die vorstehend dargelegten Voraussetzungen einer bedingt vorsätzlichen Verwirklichung des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO sind durch die Antragsgegnerin bislang keinerlei Feststellungen getroffen worden.

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Da die Antragstellerin den Vorwurf der Steuerhinterziehung bestreitet, sind die von der Antragsgegnerin vorgetragenen Indizien nicht hinreichend, das Gegenteil als erwiesen anzusehen und der Antragstellerin vorzuwerfen, sie habe es vorsätzlich unterlassen, der Familienkasse den Abbruch der Berufsausbildung ihrer Tochter B und die anschließende Elternzeit mitzuteilen.

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Eine ausdrückliche und konkrete Belehrung der Antragstellerin, diese Sachverhalte mitzuteilen, ist nicht aktenkundig.

24

Die Antragstellerin hat zwar den ursprünglichen Kindergeldantrag im Februar 1997 unterschrieben und damit bestätigt, dass ihr bekannt sei, dass sie alle Änderungen, die für den Anspruch auf Kindergeld von Bedeutung seien, unverzüglich dem "Arbeitsamt – Familienkasse –" mitzuteilen habe. Außerdem hat sie bestätigt, das Merkblatt über Kindergeld erhalten und von seinem Inhalt Kenntnis genommen zu haben. In dem der Antragstellerin damals möglicherweise überlassenen "Kindergeld-Merkblatt 1996" in der Fassung vom 28. Juni 1996 (BStBl I 1996, 1073) wird unter 3.1 im dritten Absatz der Umstand, dass das Kind die Ausbildung wegen Erkrankung oder Mutterschaft vorübergehend unterbricht, als für den Bezug des Kindergeldes grundsätzlich unschädlich bezeichnet, nicht jedoch die Zeiten eines Bezuges von Erziehungsgeld bzw. eines Erziehungsurlaubs.

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Auch wenn die Antragstellerin mit ihrer Unterschrift unter dem Kindergeldantrag bestätigt hat, dieses Merkblatt erhalten zu haben, steht indes nicht fest, ob dies den Tatsachen entspricht. Ein Vermerk eines Mitarbeiters der damals zuständigen Familienkasse über die Aushändigung dieses Merkblatts befindet sich jedenfalls nicht in der Akte. Dass die Antragstellerin in der Folgezeit ein Merkblatt über Kindergeld erhalten hätte, ist den vorliegenden Akten nicht zu entnehmen.

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Selbst wenn sie aber ein Merkblatt erhalten haben sollte, steht damit noch nicht fest, dass sie den Abschnitt über Erkrankung oder Mutterschaft gelesen und richtig verstanden hat. Auch insoweit hat sie zwar mit ihrer Unterschrift bescheinigt, vom Inhalt des Merkblatts Kenntnis genommen zu haben. Dieses Merkblatt hat jedoch einen erheblichen Umfang, angesichts dessen es nicht allzu fernliegend erscheint, dass es von den Kindergeldberechtigten nicht von vorne bis hinten gelesen wird und auch die Antragstellerin dies unterlassen hat (ebenso Niedersächsisches Finanzgericht, Urteil vom 24. Juli 2014 – 1 K 102/13 –, Rn. 77, juris).

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Bei dieser Sachlage ist der beschließende Senat jedenfalls im summarischen Verfahren der Aussetzung der Vollziehung nicht davon überzeugt, dass die Antragstellerin es für möglich gehalten, gebilligt oder in Kauf genommen hat, die Familienkasse über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis zu lassen.

28

Hinzu kommt, dass die Antragstellerin bereits im Verwaltungsverfahren mehrfach vorgetragen hat, die Antragsgegnerin über den Abbruch der Berufsausbildung ihrer Tochter B unterrichtet zu haben.

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Die fehlenden Feststellungen werden im Verfahren der Hauptsache nachzuholen sein.


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