Urteil vom Finanzgericht Düsseldorf - 15 K 88/09 Kg
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
1
G r ü n d e :
2Die Klägerin ist polnische Staatsangehörige. Sie lebt seit August 2005 in Deutschland und ist hier selbständig tätig (Frachtvermittlung). Ihr Ehemann lebt und arbeitet in Polen. Für ihren Sohn "G", geb. am "..." Februar 1999, bezog die Klägerin seit August 2005 Kindergeld. Für ihren zweiten Sohn "K", geb. am "..." Juni 2006, beantragte die Klägerin im Dezember 2006 ebenfalls Kindergeld. Ausweislich einer vorgelegten Bescheinigung der ZUS (Sozialversicherungsanstalt in Polen) vom 22. Juni 2007 war die Klägerin zur verpflichtenden Gemeinschaftsversicherung gemeldet.
3Mit auf § 70 Abs. 3 EStG gestütztem Bescheid vom 9. August 2007 hob die Beklagte die Festsetzung des Kindergeldes für den Sohn "G" ab September 2007 auf, weil eine Pflichtversicherung bei der ZUS bestehe. Die Entscheidung über den Kindergeldanspruch für "K" stellte sie zunächst zurück, weil widersprüchliche Angaben zur Tätigkeit des Kindesvaters vorlägen (selbständig oder nichtselbständig). Im Verfahren über den gegen den Aufhebungsbescheid gerichteten Einspruch erhielt die Beklagte auf Anfrage am 8. August 2008 die weitere Auskunft der ZUS, dass die Klägerin als Mitglied der Familie ihres Mannes im Sozialversicherungssystem angemeldet worden sei. Daraufhin wies die Beklagte den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 11. Dezember 2008 als unbegründet zurück. Die Klägerin unterliege, weil sie über ihren Ehemann in Polen pflichtversichert sei, den polnischen Rechtsvorschriften. Damit scheide ein Anspruch auf deutsches Kindergeld aus.
4Die Klägerin verfolgt ihr Begehren mit der Klage weiter.
5Im Verlauf des Klageverfahrens ist die für den Zeitraum ab September 2007 eingeholte Bescheinigung E 411 vom 11. August 2008 eingegangen. Unter Ziffer 6.2. ist angekreuzt, dass im Zeitraum 1. September 2007 bis 31. Dezember 2008 kein Antrag auf Familienleistungen gestellt worden sei; die Alternativangabe, dass kein Anspruch auf Familienleistungen in Polen bestanden habe, ist nicht angekreuzt.
6Die Klägerin hält die Geltendmachung des Kindergeldanspruchs aufrecht. Nach den hier maßgeblichen Vorschriften der §§ 62 ff. EStG sei die Frage der Sozialversicherungspflicht unerheblich. Ebenso fehle es an den verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für eine Aufhebungsentscheidung nach § 70 Abs. 3 EStG, weil die Beklagte die Pflichtversicherung zunächst gar nicht erfragt habe.
7Die Klägerin beantragt,
8die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 9. August 2007 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 11. Dezember 2008 zu verpflichten, Kindergeld für die beiden Kinder "G" und "K" für die Zeit ab September 2007 zu gewähren.
9Die Beklagte beantragt,
10die Klage abzuweisen.
11Die Beklagte nimmt Bezug auf die Gründe der Einspruchsentscheidung und ergänzt, auch eine Prüfung der Kollisionsnormen der Art. 13 bis 17 der Verordnung (EWG) 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (im Folgenden: VO Nr. 1408/71) scheide angesichts der Pflichtversicherung der Klägerin über ihren Ehemann in Polen aus. Nach dem Inhalt der zwischenzeitlich vorliegenden Bescheinigung E 411 sei der Kindergeldanspruch zusätzlich deshalb zu versagen, weil – für den Fall einer entsprechenden Antragstellung – die Klägerin polnische Familienleistungen erhalten hätte; damit sei gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ein etwaiger konkurrierender deutscher Kindergeldanspruch ausgeschlossen.
12Hinsichtlich der Einzelheiten zum Sachverhalt und zum Klagevorbringen der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der dem Gericht vorgelegten Kindergeldakten Bezug genommen.
13Das Gericht entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung, § 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung –FGO-.
14Die Klage ist unbegründet.
15Die angefochtene Aufhebung der Kindergeldgewährung für den Sohn "G" und die Ablehnung der Kindergeldgewährung für den Sohn "K" sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten, §§ 100 Abs. 1 Satz 1, 101 Satz 1 FGO.
16Die Klägerin ist anspruchsberechtigt nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes –EStG-; sie hat unstreitig ihren Wohnsitz im Inland.
17Die beiden minderjährigen Kinder der Klägerin sind gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 EStG steuerlich berücksichtigungsfähig. Dass sie im streitbefangenen Zeitraum nicht in Deutschland lebten, sondern in Polen, ist nach § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG für die Zeit seit Mai 2004 unmaßgeblich, weil Polen seitdem Mitglied der Europäischen Union (EU) ist.
18Ob der tatbestandsmäßig dem Grunde nach vorliegende Kindergeldanspruch nach dem EStG hier durch das europäische Gemeinschaftsrecht ausgeschlossen ist, kann vorliegend dahinstehen; der geltend gemachte inländische Kindergeldanspruch kann der Klägerin jedenfalls nicht zugesprochen werden.
19Das Kindergeld unterfällt zwar dem sachlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71. Beim Kindergeld handelt es sich um eine Familienleistung i. S. von Art. 4 Abs. 1 Buchst. h dieser Verordnung (Urteil des Bundesverfassungsgerichts –BVerfG- vom 8. Juni 2004 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 412, Bundesgesetzblatt –BGBl- I 2004, 2570).
20Deren Art. 13 ff. bestimmen, welche Rechtsvorschriften auf innerhalb der Europäischen Union zu- und abwandernde Erwerbstätige anzuwenden sind. Die Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 bezwecken damit, dass die Betroffenen grundsätzlich nur dem System der sozialen Sicherheit eines einzigen Mitgliedstaats unterliegen, um eine Kumulierung anwendbarer Rechtsvorschriften und der sich daraus möglicherweise ergebenden Schwierigkeiten zu vermeiden (Urteile des Europäischen Gerichtshofs –EuGH- vom 20. Mai 2008, C – 352/06, Bosmann, Höchstrichterliche Rechtsprechung –HFR- 2008, 877; vom 14. Oktober 2010 C-16/09, Schwemmer, Amtsblatt der Europäischen Union 2010, Nr. C 346, 8 Rz. 40; des BFH vom 7. April 2011 III R 89/08, juris).
21Unter welchen Voraussetzungen ein Arbeitnehmer oder ein Selbständiger dem persönlichen Anwendungsbereich der Verordnung unterfällt und welche Rechtsfolgen sich je nach Fallkonstellation ergeben, ist in der Rechtsprechung der Finanzgerichte umstritten und höchstrichterlich noch nicht geklärt.
22Die VO gilt grundsätzlich auch für Selbständige (Art. 1 Buchstabe a, Art. 2 und Art. 73 der VO Nr. 1408/71), die gegen mindestens ein Risiko der Sozialversicherung versichert sind. Die Mitgliedstaaten haben aber in Anhang I zu der VO den persönlichen Geltungsbereich für Selbständige i.S. von Art. 1 Buchst. a der VO näher geregelt. In Anhang I Teil I unter E Buchstabe b) wird ausgeführt, dass wenn ein deutscher Träger für die Gewährung der Familienleistungen zuständig ist, als Selbständiger nur gilt, wer eine Tätigkeit als Selbständiger ausübt und in einer Versicherung der selbständig Erwerbstätigen für den Fall des Alters versicherungs- und beitragspflichtig ist oder in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherungspflichtig ist.
23Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin nicht. Im streitigen Zeitraum unterlag die Klägerin nicht der deutschen Sozialversicherung; insbesondere erfüllte sie als Frachtvermittlerin nicht die Voraussetzungen des § 2 des Sozialgesetzbuches – Sechstes Buch – (SGB VI). Nach eigenen Angaben war sie nicht in Deutschland, sondern – wie auch die vorgelegten Bescheinigungen bestätigen - über ihren Ehemann in Polen sozialversichert.
24Teilweise wird die Ansicht vertreten, dass die Regelung in Anhang I Teil I den allgemeinen persönlichen Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 ausschließt. Besteht keine inländische Sozialversicherungspflicht, ergibt sich nach dieser Auffassung bereits daraus die Anwendung des deutschen Kindergeldrechts; mangels Anwendbarkeit der VO kommt ein Ausschluss des inländischen Kindergeldanspruchs nicht in Betracht (Urteile des Hessischen FG vom 23. Mai 2007 3 K 3143/06, Entscheidungen der Finanzgerichte –EFG- 2007, 1527; FG Köln vom 21. Januar 2009 14 K 2020/08, EFG 2009, 848; FG Münster vom 30. November 2009 8 K 2866/08 Kg, EFG 2010, 731; FG Düsseldorf vom 11. Januar 2010 7 K 4616/08 Kg, Rev. BFH III R 83/10, juris; des FG Baden-Württemberg vom 18. November 2008 4 K 4293/08, Rev. BFH III R 96/08, juris; und vom 31. Januar 2011 12 K 928/07, Rev. BFH III R 10/11, juris; vgl. auch Urteil des BFH vom 13. August 2002 VIII R 54/00, BFHE 200, 204, BStBl II 2002, 869: Auch der Generalstaatsanwalt hat festgestellt, dass Arbeitnehmern und Selbständigen das Recht auf Export der deutschen Familienleistungen nur dann gewährt wird, wenn der Berufstätige der Solidargemeinschaft des deutschen Sozialversicherungssystems angehört). Folgt man dieser Ansicht, beurteilt sich die vorliegende Klage nach deutschem Kindergeldrecht.
25Teilweise wird dagegen die Auffassung vertreten, dass die Vorschrift in Anhang I Teil I lediglich eine Einschränkung ihres persönlichen Anwendungsbereichs hinsichtlich der Familienleistungen darstelle und insoweit die Frage, welche Rechtsvorschriften nach den Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 anzuwenden sind, vorrangig zu prüfen sei (Urteile des FG Düsseldorf Urteil 22. Dezember 2008 10 K 404/08 Kg, EFG 2009, 497, Rev. BFH III R 5/09; vom 16. März 2010 10 K 1829/09 Kg, Rev. BFH III R 27/10, juris; vom 27. April 2010 10 K 3402/08 Kg, Rev. BFH III R 38/10, juris). Auch diese Ansicht kommt hier für den vorliegenden Sachverhalt zu der Anwendbarkeit deutschen Rechts. Denn nach Art. 13 Abs. 2 Buchstabe b) der VO Nr. 1408/71 gilt bei Selbständigen das Recht des Tätigkeitsstaats, mithin hier das Recht Deutschlands.
26Nach abweichender Auffassung ist indes der Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 bereits dann eröffnet, wenn der Antragsteller überhaupt – sei es in Deutschland oder im Ausland – der Sozialversicherung angehört hat. Er unterliegt dann gemäß dem Ausschließlichkeitsgrundsatz in Art. 13 Abs. 1 Satz 1 der VO Nr. 1408/71 den Rechtsvorschriften desjenigen Mitgliedstaates, dessen System der sozialen Sicherheit er angehört (Urteile des FG Düsseldorf vom 24. September 2010 16 K 4953/08 Kg, Rev. BFH III R 61/10, juris; vom 5. Oktober 2010 16 K 3718/08 Kg, juris). Nach diesen Grundsätzen würde die Klägerin dem polnischen Recht unterliegen (Folge: Geltend gemachter Anspruch auf deutsches Kindergeld kommt nicht in Betracht).
27Nach der vorstehend zuletzt dargelegten Rechtsansicht ist die Klage somit bereits deshalb unbegründet, weil nicht – wie beantragt - deutsches Kindergeldrecht gilt, sondern polnisches Recht maßgebend ist. Der geltend gemachte deutsche Kindergeldanspruch ergäbe sich auch nicht aus den Gründen des Urteils des EuGH in der Rechtssache Bosmann (Urteil vom 20. Mai 2008, C – 352/06, HFR 2008, 877; keine Anwendungsbestimmung zugunsten des nationalen Rechts, vgl. hierzu im einzelnen die Urteile des FG Düsseldorf vom 27. April 2010 10 K 3402/08 Kg Rev. BFH III R 38/10, juris; vom 24. September 2010 16 K 4953/08 Kg, Rev. BFH III R 61/10, juris). Aber auch nach den anderen Auffassungen führt die Klage nicht zum Erfolg. Denn bei fehlender Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts (sondern Anwendung deutschen Rechts) beurteilt sich die Kollision zwischen inländischem Kindergeldanspruch und Anspruch auf polnische Familienleistungen nach der Vorschrift des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG. Danach wird Kindergeld nicht gezahlt, wenn für das Kind im Ausland dem Kindergeld vergleichbare Leistungen gewährt werden oder bei entsprechender Antragstellung hätten gewährt werden müssen.
28Ein Bezug derartiger Leistungen (polnische Familienleistungen) hat vorliegend im Zeitraum ab September 2007 zwar nicht vorgelegen. Indes steht nach den Gesamtumständen, insbesondere der vorliegenden Bescheinigung E 411 vom 11. August 2008, unter Berücksichtigung des Vorbringens beider Beteiligten für den Senat hinreichend sicher fest, dass eine entsprechende Leistung allein an einem fehlenden Antrag gescheitert ist. Die Klägerin war seit August 2005 in Polen leistungsberechtigt gewesen. Für eine Änderung der insoweit maßgeblichen Verhältnisse in Polen bestehen keine Anhaltspunkte; das gilt insbesondere für eine Verbesserung der Einkommenssituation (etwa mit der Folge des Übersteigens der nach polnischem Recht maßgebenden Familieneinkommensgrenze), erst recht im Hinblick auf die Geburt des zweiten Kindes im Jahr 2006. Die Beklagte hat zutreffend darauf hingewiesen, dass im Formular E 411 lediglich die Spalte angekreuzt ist, dass im streitigen Zeitraum kein Antrag auf Gewährung von Familienleistungen gestellt worden sei. Dagegen ist die weitere Alternative, dass gar kein Anspruch bestanden habe, nicht angekreuzt und damit nicht bestätigt. Dies ist – in Zusammenhang mit der übrigen Eintragung – als Verneinung zu werten (Anspruch ja; Antrag nein), zumal die Klägerin dieser auch von der Beklagten gezogenen Schlussfolgerung weder entgegen getreten ist noch hierzu ergänzende Tatsachen vorgetragen hat. Zweifel gehen zu Lasten der Klägerin. Der Senat kann mangels Kenntnissen darüber, ob die nach polnischem Recht maßgebenden Einkommensgrenzen (vgl. Art. 5 Ziffer 1 des polnischem Gesetzes über Familienleistungen vom 28. November 2003) überschritten sind, nicht zweifelsfrei ausschließen, dass im Streitzeitraum in Polen ein Anspruch auf Kindergeld bestanden hätte. Die Höhe der hier relevanten Einkommensbeträge sind von der Klägerseite aufgrund der erhöhten Mitwirkungspflichten aus § 90 Abs. 2 der Abgabenordnung –AO- beizubringen, da ein Auslandssachverhalt vorliegt. Dies ist Folge der fehlenden Möglichkeiten des Gerichts, in Polen selbst zu ermitteln (vgl. Urteil des FG Münster vom 14. Dezember 2010 1 K 4131/07 Kg, juris, unter Hinweis auf Seer in Tipke/Kruse, AO und FGO, § 90 AO, Tz. 20 m.w.N.; dem dortigen Gericht lag ein Formular E 411 vor, das lediglich die Eintragung enthielt, dass kein Antrag gestellt worden sei, ohne indes Angaben zur Einkommenshöhe aufzuweisen). Dieser Anspruch ab September 2007 schließt – so bereits der Wortlaut des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG - den deutschen Kindergeldanspruch hier insgesamt aus.
29Die Familienleistungen in Polen sind mit den deutschen Kindergeldansprüchen vergleichbar i. S. von § 65 EStG. Dem steht insbesondere nicht entgegen, dass die polnischen Leistungen erheblich geringer sind als das deutsche Kindergeld. Die Vergleichbarkeit mehrerer kindbezogener Leistungen richtet sich nicht nach der rechtlichen Ausgestaltung des Anspruchs, sondern nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Zur Vermeidung von Doppelleistungen kommt es lediglich darauf an, ob die zu vergleichende Leistung wirtschaftlich die gleiche Zielrichtung verfolgt wie das Kindergeld (vgl. Urteil des BFH vom 27. Oktober 2004, VIII R 104/01, Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des BFH -BFH/NV- 2005, 341). Die Höhe der ausländischen Leistung ist für die Vergleichbarkeit mit dem Kindergeld grundsätzlich nicht maßgebend. Denkbar ist zwar, dass bei ganz geringfügigen ausländischen Leistungen auch die funktionelle Vergleichbarkeit entfällt (Beschluss des BVerfG vom 8. Juni 2004, 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 412, BGBl I 2004, 2570). Dies ist jedoch bei den polnischen Familienleistungen für in Polen lebende Kinder nicht der Fall. Dabei ist zu berücksichtigten, dass die Klägerin, deren Kinder in Polen leben, keine geringeren Leistungen erhalten hätte als andere polnische Familien. Nach Auffassung des polnischen Gesetzgebers reichen die dort gewährten Familienleistungen für einen Ausgleich der kindbedingten Mehrbelastungen aus (Urteile des FG Düsseldorf vom 11. Januar 2010 7 K 4616/08 Kg, juris, Rev. BFH III R 83/10; vom 1. Februar 2011 10 K 1723/08 Kg, juris; des FG Baden-Württemberg vom 14. Februar 2011 10 K 91/10, juris).
30Gemeinschaftsrechtliche Vorschriften stehen der nationalen Regelung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG nach Ansicht des Senates nicht entgegen. Außerhalb des Anwendungsvorrangs des Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts hat ein nach der VO Nr. 1408/71 gerade nicht zuständiger Mitgliedstaat die Befugnis zu bestimmen, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen er in diesem Fall Familienleistungen gewähren will; ebenso muss er entscheiden dürfen, ob und wie er berücksichtigen will, dass in einem anderen Staat ein Anspruch auf eine vergleichbare Leistung besteht. Weil für den nicht zuständigen Staat (hier: die Bundesrepublik) im Hinblick auf den Grundsatz der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 39 EG (jetzt Art. 45 AEUV) schon keine Verpflichtung besteht, in einem solchen Fall überhaupt Familienleistungen zu gewähren, liegt in § 65 EStG kein Verstoß gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Der Anwendung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG stehen vorliegend auch keine gemeinschafts- bzw. unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote entgegen.
31Einen Verstoß der Regelung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG gegen das Grundgesetz –GG- vermag der Senat ebenfalls nicht zu erkennen.
32Eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung durch die Bestimmung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG besteht nach Ansicht des erkennenden Senates auch nicht zwischen den Besserverdienenden, bei denen die gebotene steuerliche Freistellung für ein Kind im Rahmen des Familienleistungsausgleichs nach § 31 EStG regelmäßig über die Gewährung der Kinderfreibeträge erfolgt, und den geringer Verdienenden, deren Freistellung in der Regel über das Kindergeld vorgenommen wird. Zwar werden für die erste Gruppe von Steuerpflichtigen die ausländischen Leistungen gemäß § 31 Satz 6 EStG lediglich angerechnet, während bei der Festsetzung von Kindergeld die vergleichbaren ausländischen Leistungen nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG zur gänzlichen Versagung des inländischen Anspruchs führen können. Im Rahmen des Familienleistungsausgleichs indes ist der "Anspruch auf Kindergeld" maßgebend und sind die ausländischen Leistungen gemäß § 31 Satz 5 EStG in die Vergleichsrechnung betr. Anspruch auf Kindergeld einerseits und Auswirkung der Freibeträge andererseits einzubeziehen (vgl. hierzu Kanzler in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG, § 31 Rdn. 36 ff.; Dürr in Frotscher, EStG, § 31 Rdn. 47 ff.; Selder in Blümich, EStG, § 31 Rdn. 100 f.). In Fällen mit vorliegender Fallkonstellation wäre einerseits im Hinblick auf die Regelung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ein Anspruch auf Kindergeld (ggf. in voller Höhe) zu verneinen. Da zugleich die polnischen Familienleistungen eine nur geringe Höhe aufweisen, ergäbe die Vergleichsrechnung nach § 31 Satz 4 EStG typischerweise, dass auch einem geringer verdienenden Steuerpflichtigen der Kinderfreibetrag zu gewähren wäre und somit die geltend gemachte Ungleichbehandlung mit Besserverdienenden bereits aus diesem Grunde ausschiede. Somit wird dem verfassungsrechtlichen Gebot, einen Einkommensbetrag in Höhe des Existenzminimums eines Kindes steuerlich frei zu stellen, im Rahmen der sog. Günstigerprüfung gemäß § 65 Absatz 1 EStG i.V.m. § 31 Satz 4 und 5 EStG Rechnung getragen; die Regelung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ist sachlich gerechtfertigt. Nach dieser gesetzlichen Konzeption der §§ 31, 65 EStG entscheidet erst und nur die Höhe des Kinderfreibetrages endgültig darüber, ob den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Verschonung des Existenzminimums der Kinder genügt wird; die Funktion des Kindergeldes beschränkt sich insofern auf eine als vorläufiger "Abschlag" wirkende Steuervergütung (Beschluss des BVerfG vom 8. Juni 2004 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 412, BGBl I 2004, 2570; vgl. auch Urteil des FG Baden-Württemberg vom 18. November 2008 4 K 4293/08, EFG 2009, 264).
33Etwaige Benachteiligungen von Grenzgängern gegenüber uneingeschränkt Kindergeldberechtigten sind zudem aufgrund der anderweitigen Leistung und der Praktikabilitätsanforderungen an Kollisionsregeln bei grenzüberschreitenden Sachverhalten gerechtfertigt. Zu dem Aspekt der anderweitigen sozialen Absicherung (im Ausland) treten Gründe der Einfachheit des Rechts und dessen Praktikabilität im Verwaltungsvollzug, die die Kollisionsnorm des § 65 EStG ebenfalls rechtfertigen (Beschluss des BVerfG vom 8. Juni 2004 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 412, BGBl I 2004, 2570).
34Die Klägerin kann auch nicht verlangen, dass das Kindergeld nach dem EStG zu seinen Gunsten zumindest in Höhe von 50% der gesetzlich bestimmten Monatsbeträge festgesetzt wird.
35Ein solcher Anspruch auf hälftiges Teilkindergeld ließe sich im Wege der Analogie allenfalls aus Artikel 12 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 i. V. m. Artikel 7 Abs. 1 der DVO Nr. 574/72 herleiten. Diese Analogie würde indessen voraussetzen, dass aufgrund des Zusammentreffens von Leistungsansprüchen verschiedener EU-Staaten eine Leistungskürzung oder ein Leistungsausschluss in den betreffenden Staaten (im Streitfall: sowohl in Deutschland als auch in Polen) gedroht hätte. Ein solche Kürzung von Familienleistungen war im Streitfall jedoch nicht zu befürchten, da die Klägerin – einen entsprechenden Antrag auf Familienleistungen unterstellt - in Polen für beide Kinder im gesamten streitigen Zeitraum noch die ungekürzten Familienleistungen erhalten hätte (vgl. Urteile des Hessischen FG vom 23. Mai 2007 3 K 3143/06, EFG 2007, 1527; des FG Baden-Württemberg vom 18. November 2008 4 K 4293/08, EFG 2007, 1527).
36Gegen die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung bestehen entgegen der Ansicht der Klägerin auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht keine Bedenken. Die Voraussetzungen der Änderungsvorschrift des § 70 Abs. 3 EStG sind, bezogen auf den angefochtenen Aufhebungsbescheid vom 9. August 2009 betr. den Sohn "G" für den erst in die Zukunft wirkenden Zeitraum ab September 2007, erfüllt. Diese gesetzliche Regelung eröffnet der Familienkasse die Möglichkeit, materielle Fehler (nur) mit Wirkung für die Zukunft zu beseitigen. Diese Möglichkeit besteht ungeachtet davon, ob der Behörde bestimmte Tatsachen erst nachträglich bekannt geworden sind. Die "Neuheit" von Tatsachen ist lediglich für die – zusätzlich bestehende - Änderungsvorschrift des § 173 der Abgabenordnung relevant, von der die Beklagte hier indes mangels rückwirkender Kindergeldaufhebung keinen Gebrauch gemacht hat.
37Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
38Die Revisionszulassung beruht auf § 115 Abs. 2 Nr. 1, 2 FGO.
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