Urteil vom Finanzgericht Düsseldorf - 15 K 4263/11 Kg
Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 15. Juli 2011 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 8. November 2011 verpflichtet, dem Kläger für das Kind „X“ von Januar 2007 bis Juni 2008 sowie für das Kind „Y“ ab Januar 2007 Kindergeld in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
1
G r ü n d e:
2Der Kläger ist polnischer Staatsangehöriger. Er hat als selbständiger Unternehmer seit dem Jahr 2005 seinen Wohnsitz in Deutschland.
3Den Kindergeldantrag des Klägers für seine beiden Kinder „X“, geb. am 28. Dezember 1988, und „Y“, geb. am 10. Februar 1995, lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 15. Juli 2011, bestätigt mit Einspruchsentscheidung vom 8. November 2011, ab. Angesichts des ausländischen Wohnsitzes der Kindesmutter wie auch der Kinder selbst (Großbritannien) sei ein etwaiger inländischer Kindergeldanspruch des Klägers nachrangig.
4Mit der Klage verfolgt der Kläger sein Begehren auf Festsetzung von Kindergeld für sei-ne beiden Kinder „X“ und „Y“ ab Januar 2007 weiter. Seine Tochter habe in Großbritannien bei ihrem volljährigen Bruder gewohnt und dort bis Juni 2008 ein College besucht; nach abgeschlossenem Schulbesuch im Juni 2008 sei sie mittlerweile berufstätig. Zur Kindesmutter bestehe kein Kontakt; ihr sei das Sorgerecht entzogen. In Polen habe er – der Kläger – für die Tochter keinen Anspruch auf Familienleistungen, weil sein Einkommen zu hoch sei. Auch der Kindesmutter stehe in Polen schon deshalb kein Anspruch zu, weil ihr das Sorgerecht entzogen sei. In Großbritannien gebe es ebenfalls keinen Kindergeldanspruch für „X“, weil entgegen der ausländischen Kindergeldregelung kein Elternteil mit dem Kind zusammen lebe. Sein Sohn „Y“, für den allein er – der Kläger – das Sorgerecht inne habe (nicht die Kindesmutter), lebe bei Pflegeeltern (zugleich Onkel und Tante) in Polen. Das Kind sei von Geburt an behindert und absolviere eine schulische Ausbildung. Auch für den Sohn hätten weder er selbst noch die Kindesmutter aus den o. a. Gründen Ansprüche auf polnische Familienleistungen. Gleiches gelte für die Pflegeeltern, weil sie keinen Adoptionsantrag gestellt hätten und damit den Anforderungen des polnischen Gesetzes nicht genügten.
5Der Kläger beantragt,
6die Beklagte zu verpflichten, unter Aufhebung des Bescheids vom 15. Juli 2011 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 8. November 2011 für das Kind „X“ von Januar 2007 bis September 2008 und für das Kind „Y“ ab Januar 2007 Kindergeld in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
7Die Beklagte beantragt,
8die Klage abzuweisen.
9Der Aufforderung zur Klageerwiderung hat die Beklagte nicht entsprochen; lediglich die Kindergeldakte ist dem Gericht übersandt worden. Gegen den am 24. Juli 2012 erlassenen Gerichtsbescheid der Berichterstatterin, berichtigt am 30. Juli 2012, hat die Beklagte mündliche Verhandlung beantragt, ohne hierzu weiter vorzutragen.
10Hinsichtlich der Einzelheiten zum Sachverhalt und zum Klagevorbringen der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der dem Gericht vorgelegten Steuerakten sowie der beigezogenen Strafakten Bezug genommen.
11Das Gericht entscheidet im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung, § 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung.
12Die Klage ist überwiegend begründet.
13Die Beklagte war in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang zur Gewährung von Kin-dergeld zu verpflichten, denn der Kläger hat insoweit Anspruch auf Kindergeld (§ 101 Satz 1 FGO); lediglich für den Zeitraum Juli bis September 2008 betreffend die Tochter „X“ hat die Klage keinen Erfolg.
14Der Kläger hat einen Wohnsitz im Inland (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes –EStG-); die Kinder haben Wohnsitze in Mitgliedsstaaten der EU (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG).
15Der behinderte und in schulischer Ausbildung befindliche Sohn „Y“ ist für den ge-samten streitigen Zeitraum ein berücksichtigungsfähiges Kind i. S. des § 63 Abs. 1 Nr. 1 i. V. mit § 32 Abs. 1, 4 EStG. Für die volljährige Tochter „X“ kann dies angesichts der Beendigung der Ausbildung nur bis zum Juni 2008 festgestellt werden; die Tochter ist sodann berufstätig geworden. Nach dem Ausbildungsende im Juni 2008 gilt auch nicht die viermonatige Übergangszeit nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Ziffer 2 Buchst. b EStG, die lediglich zwischen zwei Ausbildungsabschnitten in Betracht kommt.
16Im Hinblick auf den detaillierten Klagevortrag zu den gewerblichen Einkünften im streiti-gen Zeitraum sowie die niedrige Unschädlichkeitsgrenze nach polnischem Recht (504 PLN, rd. 122 EUR pro Familienmitglied; s. Art. 5.1 des Gesetzes über Familienleistungen vom 28. November 2003, Polnisches Gesetzblatt 2006 Nr. 139) steht zur Überzeugung des Gerichts (§ 96 Abs. 1 FGO) fest, dass dem Kläger ab Januar 2007 in Polen kein Anspruch auf Familienleistungen zustand; insoweit überschreitet das maßgebliche Familieneinkommen das nach polnischem Recht zulässige deutlich. Ebenso scheidet nach den Gesamtumständen ein Anspruch der Kindesmutter sowohl in Polen als auch in Großbritannien aus; Gleiches gilt für die Pflegeeltern des Sohnes in Polen. Der Kläger hat die hier einschlägige Gesetzeslage zu polnischen und britischen Familienleistungen aus Sicht des Gerichts zutreffend wiedergegeben und subsumiert. Einwendungen hat auch die Beklagte nicht erhoben.
17Auch auf § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG kann sich die Beklagte zur Begründung ihrer Rechtsauffassung nicht stützen. Diese Regelung, nach der bei mehreren Berechtigten das Kindergeld an den Haushaltsaufnehmenden gezahlt wird, gilt nur, wenn prinzipiell mehrere Berechtigte den Anspruch auf Bewilligung des Kindergeldes geltend machen könnten. Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor. Ein Kindergeldanspruch der im EU-Ausland lebenden Betreuungsperson nach § 64 Abs. 2 EStG kommt nur in Betracht, wenn diese selbst die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 EStG erfüllt (vgl. etwa Urteil des Finanzgerichts -FG- Münster vom 9. Mai 2012 10 K 3768/10 Kg, Entscheidungen der Finanzgerichte -EFG- 2012, 1562, Rev. BFH XI R 28/12). Das ist hier nicht der Fall; nach Aktenlage, jedenfalls bezogen auf das Inland, gibt es außer dem Kläger keine weiteren Berechtigten.
18Auch aus der Bestimmung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 DVO Nr. 987/2009 ergibt sich keine andere Beurteilung. Richtig ist allerdings, dass nach dem Inhalt der genannten Regelung bei der Anwendung von Art. 67 und 68 der EU-VO Nr. 883/2004, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, eine Situation unterstellt wird, in der alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates (hier: der Bundesrepublik Deutschland) fallen "und dort wohnen". Dies führt jedoch nicht dazu, dass nunmehr Ansprüche dritter Personen begründet werden, die wiederum die Rechte der Klägerin schmälern oder gänzlich ausschließen. Insoweit teilt der Senat nicht die vom FG Bremen (Urteil vom 10. November 2011 3 K 26/11, EFG 2012, 143; Rev. BFH III R 69/11) vertretene Rechtsauffassung, die Ansprüche der im Ausland lebenden Angehörigen bejaht. Das FG Bremen muss nämlich nicht nur, dem Wortlaut des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 DVO Nr. 987/2009 entsprechend, unterstellen, dass alle beteiligten Personen in der Bundesrepublik Deutschland wohnen, sondern zusätzlich, dass die Wohnsituation in Deutschland derjenigen im Ausland entspricht. In anderen Fällen müsste ggf. auch eine bestimmte Unterhaltssituation unterstellt werden (§ 64 Abs. 3 EStG). Derartige weitere Fiktionen sind der Regelung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 DVO Nr. 987/2009 nicht zu entnehmen. Das wiederum spricht dafür, dass diese Bestimmung nur einen Rechtsverlust des aus dem Ausland in die Bundesrepublik Deutschland zugewanderten Arbeitnehmers verhindern soll. Eine Begrenzung oder ein Ausschluss von Rechten des im Inland wohnhaften Arbeitnehmers kann dadurch jedoch nicht eintreten. Der Senat schließt sich deshalb in vollem Umfang denjenigen Entscheidungen in der Finanzgerichtsbarkeit an, die in vergleichbaren Fällen Ansprüche der im Ausland lebenden Angehörigen verneinen (vgl. dazu die Entscheidungen des FG München vom 27. Oktober 2011 5 K 1145/11, EFG 2012, 255; 5 K 1075/11, EFG 2012, 253, Rev. BFH V R 49/11; 5 K 2614/10, EFG 2012, 249, Rev. BFH III R 73/11; 5 K 3245/10, EFG 2012, 256, Rev. BFH V R 46/11 und vom 21. November 2011 5 K 2527/10, EFG 2012, 627, Rev. BFH V R 50/11; des Niedersächsischen FG vom 8. Dezember 2011 16 K 291/11, EFG 2012, 849, Rev. BFH III R 4/12 und vom 15. Dezember 2011 3 K 155/11, juris; des FG Rheinland-Pfalz vom 14. Dezember 2011 2 K 2085/10, EFG 2012, 716 und vom 23. März 2011 2 K 2248/10, EFG 2011, 1323; des FG Hamburg vom 31. Januar 2012 1 K 204/11, EFG 2012, 1364 und vom 10. Mai 2012 1 K 19/11, EFG 2012, 1684, Rev. BFH XI R 23/12, sowie des FG Düsseldorf vom 9. Februar 2012 16 K 1564/11 Kg, EFG 2012, 1369, 25. August 2012 10 K 2183/11 Kg, juris, und vom 27. August 2012 16 K 3154/10, EFG 2012, 2132, Rev. BFH V R 26/12).
19Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO. Eine Kostenentscheidung zum Nachteil des Klägers nach § 137 FGO kam bereits deshalb nicht in Betracht, weil eine etwaige Verspätung seines Vorbringens nicht ursächlich geworden ist; trotz Vorbringens im Klageverfahren hat die Beklagte dem Begehren nicht abgeholfen.
20Die Zulassung der Revision beruht auf § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO. Sie dient der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung im Zusammenhang mit der Anwendung des neuen europäischen Rechts im Hinblick auf die zum Teil differierende Rechtsprechung der Finanzgerichte.
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