Urteil vom Finanzgericht Düsseldorf - 15 K 181/11 Kg
Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 03.11.2010 und der Einspruchsentscheidung vom 27.12.2010 verpflichtet, dem Kläger Kindergeld für das Kind „E“ ab Mai 2010 in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen den deutschen und den polnischen Familienleistungen zu gewähren.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Die Revision wird zugelassen.
1
T a t b e s t a n d
2Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger für seine Tochter „E“ ein Kindergeldanspruch ab Mai 2010 zusteht.
3Der Kläger ist polnischer Staatsangehöriger und hat seinen Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland. Er betreibt hier seit 2006 ein Gewerbe (u.a. Fliesenleger, Trockenbau).
4Die ebenfalls erwerbstätige Kindesmutter, von der der Kläger geschieden ist, lebt mit den gemeinsamen Töchtern „E“, geboren am „...“.1992, und „T“, geboren am „...“.1993, in Polen. Sie bezog dort Familienleistungen für beide Kinder.
5Für „E“, die sich in einer Ausbildung befand, hatte die hiesige Familienkasse Kindergeld bis April 2010 in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen den deutschen und polnischen Familienleistungen festgesetzt. Einen Antrag des Klägers auf Weiterzahlung des Kindergeldes für die Zeit ab Mai 2010 lehnte die Kasse mit Bescheid vom 03.11.2010 mit der Begründung ab, dass der Kindesmutter wegen der Haushaltsaufnahme der Tochter gemäß § 64 des Einkommensteuergesetzes – EStG – der vorrangige Anspruch auf Kindergeld zustehe.
6Dagegen hat der Kläger nach erfolglosem Einspruchsverfahren Klage erhoben. Er meint, die Rechtsauffassung der Beklagten sei fehlerhaft. Die Kindesmutter sei nicht, wie von der Familienkasse angenommen, Kindergeldberechtigte im Sinne des § 64 EStG.
7Der Kläger beantragt,
8den Bescheid vom 03.11.2010 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm weiterhin ab Mai 2010 Kindergeld, wie beantragt, zu gewähren.
9Die Beklagte, die an ihrer Auffassung festhält, beantragt,
10die Klage abzuweisen.
11Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten zum Sachverhalt und zum Beteiligtenvorbringen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der dem Gericht vorgelegten Kindergeldakte Bezug genommen.
12Mit Einverständnis der Beteiligten entscheidet der Senat ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung – FGO -).
13E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
14Die Klage ist begründet.
15Die Familienkasse hat die Kindergeldfestsetzung für die Zeit ab Mai 2010 zu Unrecht abgelehnt. Der Kläger hat für seine Tochter „E“ für die Zeit ab Mai 2010 in Deutschland einen Anspruch auf Kindergeld (§ 101 Satz 1 FGO).
16Der Kläger hat einen Wohnsitz im Inland (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG); die Tochter hat ihren Wohnsitz in Polen, also in einem Mitgliedstaat der EU (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG). Sie ist auch berücksichtigungsfähig, weil sie sich seinerzeit in einer Ausbildung befunden hatte (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG).
17Für den Kläger ist ausschließlich deutsches Recht anzuwenden, denn er übt seit 2006 in Deutschland als Gewerbetreibender eine selbständige Erwerbstätigkeit aus (vgl. Art. 11 Abs. 1, Abs. 3 Buchst. a EU-VO Nr. 883/2004).
18Der Kindesmutter steht unstreitig in Polen ein Anspruch auf Familienleistungen für „E“ zu. Die nach Art. 68 EU-VO Nr. 883/2004 bestehende Anspruchskonkurrenz ist dahin zu lösen, dass der polnische Staat vorrangig für die Gewährung von Familienleistungen zuständig ist. Da die Kindesmutter in Polen nichtselbständig beschäftigt und der Kläger in der Bundesrepublik Deutschland ebenfalls erwerbstätig ist ergibt sich der Vorrang aus dem Wohnort der Kläger in Polen (Art. 68 Abs. 1 Buchst. b) Buchst. i) EU-VO Nr. 883/2004). Der vorrangige deutsche Kindergeldanspruch des Klägers wird bis zur Höhe der polnischen Familienleistungen ausgesetzt (Art. 68 Abs. 2 Satz 2 EU-VO Nr. 883/2004). In Höhe der Differenz zwischen deutschen und polnischen Familienleistungen ist Kindergeld festzusetzen, denn der Anspruch des Klägers auf Unterschiedsbeträge wird nicht ausschließlich durch seinen Wohnort, sondern auch durch seine Beschäftigung in Deutschland ausgelöst (Art. 68 Abs. 2 Sätze 2 und 3 EU-VO Nr. 883/2004).
19Soweit die Beklagte der Ansicht ist, dass dem Kläger der Anspruch auf Bewilligung von Kindergeld nicht (mehr) zustehe, weil seine Tochter im Haushalt seiner inzwischen geschiedenen Ehefrau in Polen lebe und allenfalls diese einen Anspruch auf Gewährung von Kindergeld habe, folgt der Senat dem nicht.
20Auf § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG kann sich die Beklagte zur Begründung ihrer Rechtsauffassung nicht stützen. Diese Regelung, nach der bei mehreren Berechtigten das Kindergeld an den Haushaltsaufnehmenden gezahlt wird, gilt nämlich nur, wenn prinzipiell mehrere Berechtigte den Anspruch auf Bewilligung des Kindergeldes geltend machen könnten. Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor. Ein Kindergeldanspruch der im EU-Ausland lebenden Betreuungsperson nach § 64 Abs. 2 EStG kommt nur in Betracht, wenn diese selbst die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 EStG erfüllt (vgl. etwa Urteil des Finanzgerichts -FG- Münster vom 09.05.2012 10 K 3768/10 Kg, Entscheidungen der Finanzgerichte -EFG- 2012, 1562, Revisionsaktenzeichen: XI R 28/12). Nach Aktenlage gibt es, jedenfalls bezogen auf das Inland, außer dem Kläger aber keine weiteren Berechtigten.
21Auch aus der Bestimmung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 DVO Nr. 987/2009 ergibt sich keine andere Beurteilung. Richtig ist allerdings, dass nach dem Inhalt der genannten Regelung bei der Anwendung von Art. 67 und 68 der EU-VO Nr. 883/2004, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, eine Situation unterstellt wird, in der alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates (hier: der Bundesrepublik Deutschland) fallen "und dort wohnen". Entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten führt dies jedoch nicht dazu, dass nunmehr Ansprüche dritter Personen begründet werden, die wiederum die Rechte des Klägers schmälern oder gänzlich ausschließen. Insoweit teilt der Senat nicht die vom FG Bremen (Urteil vom 10.11.2011 3 K 26/11, EFG 2012, 143; Revisionsaktenzeichen: III R 69/11) vertretene Rechtsauffassung, die Ansprüche der im Ausland lebenden Angehörigen bejaht. Das FG Bremen muss nämlich nicht nur, dem Wortlaut des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 DVO Nr. 987/2009 entsprechend, unterstellen, dass alle beteiligten Personen in der Bundesrepublik Deutschland wohnen, sondern zusätzlich, dass die Wohnsituation in Deutschland derjenigen im Ausland entspricht. In anderen Fällen müsste ggf. auch eine bestimmte Unterhaltssituation unterstellt werden (§ 64 Abs. 3 EStG). Derartige weitere Fiktionen sind der Regelung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 DVO Nr. 987/2009 nicht zu entnehmen. Das wiederum spricht dafür, dass die von der Beklagten herangezogene Bestimmung nur einen Rechtsverlust des aus dem Ausland in die Bundesrepublik Deutschland zugewanderten Erwerbstätigen verhindern soll. Eine Begrenzung oder ein Ausschluss von Rechten des im Inland wohnhaften Erwerbstätigen kann dadurch jedoch nicht eintreten. Der Senat schließt sich deshalb in vollem Umfang denjenigen Entscheidungen in der Finanzgerichtsbarkeit an, die in vergleichbaren Fällen Ansprüche der im Ausland lebenden Angehörigen verneinen (vgl. dazu die Entscheidungen des FG München vom 27.10.2011 5 K 1145/11, EFG 2012, 255; 5 K 1075/11, EFG 2012, 253, Revisionsaktenzeichen: V R 49/11; 5 K 2614/10, EFG 2012, 249, Revisionsaktenzeichen: III R 73/11; 5 K 3245/10, EFG 2012, 256, Revisionsaktenzeichen: V R 46/11 und vom 21.11.2011 5 K 2527/10, EFG 2012, 627, Revisionsaktenzeichen: V R 50/11; des Niedersächsischen FG vom 08.12.2011 16 K 291/11, EFG 2012, 849, Revisionsaktenzeichen: III R 4/12 und vom 15.12.2011 3 K 155/11, abrufbar bei juris; des FG Rheinland-Pfalz vom 14.12.2011 2 K 2085/10, EFG 2012, 716 und vom 23.03.2011 2 K 2248/10, EFG 2011, 1323; des FG Hamburg vom 31.01.2012 1 K 204/11, EFG 2012, 1364 und vom 10.05.2012 1 K 19/11, abrufbar bei juris, Revisionsaktenzeichen: XI R 23/12, sowie des FG Düsseldorf vom 09.02.2012 16 K 1564/11 Kg, EFG 2012, 1369, und vom 25.08.2012 10 K 2183/11 Kg, abrufbar bei juris).
22Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
23Die Zulassung der Revision beruht auf § 115 Abs. 2 Nr. 1 (grundsätzliche Bedeutung) und Nr. 2 FGO. Sie dient der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung im Zusammenhang mit der Anwendung des neuen europäischen Rechts im Hinblick auf die zum Teil differierende Rechtsprechung der Finanzgerichte.
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