Urteil vom Finanzgericht Düsseldorf - 15 K 2911/11 Kg
Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 26.05.2011 und der Einspruchsentscheidung vom 25.07.2011 verpflichtet, dem Kläger für seinen Sohn „Z“ Kindergeld ab Mai 2010 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Die Revision wird zugelassen.
1
T a t b e s t a n d
2Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger für seinen Sohn „Z“ ein Kindergeldanspruch ab Mai 2010 zusteht.
3Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger, hat seinen Wohnsitz in „E-Stadt“ und ist hier als „Beamter“ nichtselbständig tätig. Er ist der Vater des am „...“.20“XX“ geborenen „Z“, der bei seiner arbeitslosen Mutter in Österreich lebt. Die Kindesmutter hat in Österreich Anspruch auf Familienleistungen.
4Nachdem der Kläger im Rahmen eines vor dem 10. Senat des FG Düsseldorf geführten Verfahrens Kindergeld für seinen Sohn für die Zeit bis November 2007 erstritten hatte, stellte er im Dezember 2010 bei der Familienkasse den Antrag, ihm Kindergeld auch für die Zeit ab Dezember 2007 zu gewähren. Mit Bescheid vom 26.05.2011 gab die Kasse diesem Antrag für die Zeit bis April 2010 statt. Für die Zeit ab Mai 2010 lehnte sie den Antrag hingegen mit der Begründung ab, dass der Kindesmutter wegen der Haushaltsaufnahme des Kindes gemäß § 64 des Einkommensteuergesetzes – EStG – der vorrangige Anspruch auf Kindergeld zustehe.
5Dagegen hat der Kläger nach erfolglosem Einspruchsverfahren Klage erhoben. Er meint, die Leistungsverweigerung sei rechtswidrig. Dies gelte zum einen, weil er sich nach der mündlichen Verhandlung in dem finanzgerichtlichen Verfahren 10 K 4771/07 Kg auf Bestands- und Vertrauensschutz berufen könne. Darüber hinaus schlage aber auch die Argumentation der Beklagten fehl, dass sein Anspruch wegen der Haushaltsaufnahme durch die Mutter ausgeschlossen sei. Nach dem Obhutsprinzip sei er sehr wohl der Berechtigte, weil er durch höchst umfangreiche Unterhaltsleistungen am meisten mit dem Kindesunterhalt belastet sei. Auch die Änderungen des EU-Rechts führten zu keinem anderen Ergebnis. Die zeitliche Anwendbarkeit dieser Änderungen werde im Übrigen auch bestritten.
6Der Kläger beantragt,
7die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 26.05.2011 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 25.07.2011 zu verpflichten, Kindergeld auch für den Zeitraum ab Mai 2010 zu gewähren.
8Die Beklagte, die an ihrer Auffassung festhält, beantragt
9Klageabweisung, hilfsweise, die Revision zuzulassen.
10Das Gericht hat die Gerichtsakte 10 K 4771/07 Kg zum Verfahren beigezogen.
11E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
12Die Klage ist begründet.
13Der Kläger hat für seinen Sohn „Z“ in Deutschland ab Mai 2010 Anspruch auf Kindergeld (§ 101 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung – FGO -).
14Der Kläger hat seinen Wohnsitz im Inland (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG), der Sohn hat seinen Wohnsitz in Österreich, also in einem Mitgliedstaat der EU (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG). Er ist als Minderjähriger auch berücksichtigungsfähig (§ 32 Abs. 3 EStG).
15Für den Kläger ist auch ausschließlich deutsches Recht anzuwenden, denn er ist in Deutschland als Beamter tätig (vgl. Art. 11 Abs. 1, Abs. 3 Buchst. b EU-VO Nr. 883/2004).
16Dem inländischen Kindergeldanspruch des Klägers steht der grundsätzlich bestehende österreichische Kindergeldanspruch der Kindesmutter nicht entgegen. Die nach Art. 68 EU-VO Nr. 883/2004 bestehende Anspruchskonkurrenz ist dahingehend zu entscheiden, dass Deutschland vorrangig für die Leistungsgewährung zuständig ist. Dies ergibt sich aus dem Umstand, dass der Kindergeldanspruch des Klägers im Gegensatz zu dem der Kindesmutter nicht nur durch den Wohnort, sondern auch durch seine Erwerbstätigkeit in Deutschland ausgelöst wird (Art. 68 Abs. 1 Buchst. a EU-VO Nr. 883/2004).
17Maßgebend für die Frage, durch welches Merkmal die Ansprüche ausgelöst werden, ist nicht, die Bestimmung der anzuwendenden nationalen Rechtsvorschriften als Anspruchsvoraussetzungen. Vielmehr kommt es darauf an, welcher Tatbestand die berechtigte Person den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedsstaates nach Art. 11 bis 16 der EU-VO Nr. 883/2004 unterstellt. Insofern folgt der Senat dem überwiegenden Teil der finanzgerichtlichen Rechtsprechung, die zu Recht darauf hinweist, dass es den Mitgliedsstaaten anderenfalls freigestellt würde, durch Ausgestaltung ihrer nationalen Anspruchsvoraussetzungen zu bestimmen, an welcher Stelle der europäischen Rangfolge sie leistungsverpflichtet sein wollen. Zudem wird nur diese richtlinienspezifische Auslegung der europarechtlichen Systematik gerecht (vgl. hierzu z.B. Finanzgericht – FG - Münster, Urteil vom 09.05.2012 – 10 K 4079/10 KG – Entscheidungen der Finanzgerichte – EFG – 2012, 1680, Revisionsaktenzeichen: III R 31/12 und vom 30.11.2012 - 4 K 812/12 KG – sowie FG Köln, Urteil vom 30.01.2013 – 15 K 3230/11 – jeweils abrufbar bei juris, entgegen FG München, Urteil vom 07.08.2012 – 12 K 1488/11 – EFG 2012, 2214, Revisionsaktenzeichen: III R 43/12).
18Soweit die Beklagte der Ansicht ist, dass dem Kläger der Anspruch auf Bewilligung von Kindergeld nicht (mehr) zustehe, weil sein Sohn im Haushalt der Kindesmutter in Österreich lebe und allenfalls diese einen Anspruch auf Gewährung von Kindergeld habe, folgt der Senat dem nicht.
19Auf § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG kann sich die Beklagte zur Begründung ihrer Rechtsauffassung nicht stützen. Diese Regelung, nach der bei mehreren Berechtigten das Kindergeld an den Haushaltsaufnehmenden gezahlt wird, gilt nämlich nur, wenn prinzipiell mehrere Berechtigte den Anspruch auf Bewilligung des Kindergeldes geltend machen könnten. Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor. Ein Kindergeldanspruch der im EU-Ausland lebenden Betreuungsperson nach § 64 Abs. 2 EStG kommt nur in Betracht, wenn diese selbst die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 EStG erfüllt (vgl. etwa Urteil des FG- Münster vom 09.05.2012 - 10 K 3768/10 Kg - EFG- 2012, 1562, Revisionsaktenzeichen: XI R 28/12). Nach Aktenlage gibt es, jedenfalls bezogen auf das Inland, außer dem Kläger aber keine weiteren Berechtigten.
20Auch aus der Bestimmung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 DVO Nr. 987/2009 ergibt sich keine andere Beurteilung. Richtig ist allerdings, dass nach dem Inhalt der genannten Regelung bei der Anwendung von Art. 67 und 68 der EU-VO Nr. 883/2004, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, eine Situation unterstellt wird, in der alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates (hier: der Bundesrepublik Deutschland) fallen "und dort wohnen". Entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten führt dies jedoch nicht dazu, dass nunmehr Ansprüche dritter Personen begründet werden, die wiederum die Rechte des Klägers schmälern oder gänzlich ausschließen. Insoweit teilt der Senat nicht die vom FG Bremen (Urteil vom 10.11.2011 - 3 K 26/11 - EFG 2012, 143; Revisionsaktenzeichen: III R 69/11) vertretene Rechtsauffassung, die Ansprüche der im Ausland lebenden Angehörigen bejaht. Das FG Bremen muss nämlich nicht nur, dem Wortlaut des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 DVO Nr. 987/2009 entsprechend, unterstellen, dass alle beteiligten Personen in der Bundesrepublik Deutschland wohnen, sondern zusätzlich, dass die Wohnsituation in Deutschland derjenigen im Ausland entspricht. In anderen Fällen müsste ggf. auch eine bestimmte Unterhaltssituation unterstellt werden (§ 64 Abs. 3 EStG). Derartige weitere Fiktionen sind der Regelung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 DVO Nr. 987/2009 nicht zu entnehmen. Das wiederum spricht dafür, dass die von der Beklagten herangezogene Bestimmung nur einen Rechtsverlust des aus dem Ausland in die Bundesrepublik Deutschland zugewanderten Erwerbstätigen verhindern soll. Eine Begrenzung oder ein Ausschluss von Rechten des im Inland wohnhaften Erwerbstätigen kann dadurch jedoch nicht eintreten. Der Senat schließt sich deshalb in vollem Umfang denjenigen Entscheidungen in der Finanzgerichtsbarkeit an, die in vergleichbaren Fällen Ansprüche der im Ausland lebenden Angehörigen verneinen (vgl. dazu die Entscheidungen des FG München vom 27.10.2011 - 5 K 1145/11 - EFG 2012, 255; - 5 K 1075/11 - EFG 2012, 253, Revisionsaktenzeichen: V R 49/11; - 5 K 2614/10 - EFG 2012, 249, Revisionsaktenzeichen: III R 73/11; - 5 K 3245/10 - EFG 2012, 256, Revisionsaktenzeichen: V R 46/11 und vom 21.11.2011 - 5 K 2527/10 - EFG 2012, 627, Revisionsaktenzeichen: V R 50/11; des Niedersächsischen FG vom 08.12.2011 - 16 K 291/11 - EFG 2012, 849, Revisionsaktenzeichen: III R 4/12 und vom 15.12.2011 - 3 K 155/11 - abrufbar bei juris; des FG Rheinland-Pfalz vom 14.12.2011 - 2 K 2085/10 - EFG 2012, 716 und vom 23.03.2011 - 2 K 2248/10 - EFG 2011, 1323; des FG Hamburg vom 31.01.2012 - 1 K 204/11 - EFG 2012, 1364 und vom 10.05.2012 - 1 K 19/11 - abrufbar bei juris, Revisionsaktenzeichen: XI R 23/12, sowie des FG Düsseldorf vom 09.02.2012 - 16 K 1564/11 Kg - EFG 2012, 1369, und vom 25.08.2012 - 10 K 2183/11 Kg - abrufbar bei juris).
21Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
22Die Zulassung der Revision beruht auf § 115 Abs. 2 Nr. 1 (grundsätzliche Bedeutung) und Nr. 2 FGO. Sie dient der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung im Zusammenhang mit der Anwendung des neuen europäischen Rechts im Hinblick auf die zum Teil differierende Rechtsprechung der Finanzgerichte.
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