Urteil vom Finanzgericht Düsseldorf - 15 K 2990/12 Kg
Tenor
Der Bescheid vom 21.03.2012 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 10.07.2012 wird aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs des Klägers abwenden, soweit nicht der Kläger zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Die Revision wird zugelassen.
1
Tatbestand
2Streitig ist, ob die Beklagte zu Recht die Kindergeldfestsetzung für die beiden Kinder „T“ (geboren am „...“.1994) und „P“ (geboren am „...“.1998) des Klägers mit Wirkung ab April 2012 aufgehoben hat.
3Der Kläger ist polnischer Staatsangehöriger und hat seinen Wohnsitz in Deutschland. Er ist hier als Fliesenleger selbständig erwerbstätig. Seine von ihm geschiedene Ehefrau, die Kindsmutter, lebte im Streitzeitraum April bis Juli 2012 mit den beiden Kindern, die die Schule besuchten, in Polen. Dort war sie unselbständig erwerbstätig. Das Familieneinkommen überschritt – zwischen den Beteiligten unstreitig (Bl 102 der Kindergeldakte -KGA-) – die für einen polnischen Anspruch auf Familienleistungen bestehenden Grenzen. Einen Antrag auf solche Leistungen hat die Kindsmutter in Polen nicht gestellt (Bescheinigung des städtischen Zentrums für Sozialhilfe in „Q-Stadt“/Polen, Bl 28 KGA).
4Mit Bescheid vom 15.02.2012 setzte die Beklagte für die Zeit ab Juli 2010 Kindergeld in voller Höhe für beide Kinder fest.
5Mit Bescheid vom 21.03.2012, bestätigt durch Einspruchsentscheidung vom 10.07.2012, hob sie die Kindergeldfestsetzung mit Wirkung ab April 2012 auf der Grundlage von § 70 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes -EStG- (die Einspruchsentscheidung stützte sie demgegenüber auf § 70 Abs. 2 EStG) wieder auf. Zur Begründung führte sie aus, die Kindsmutter sei zum Bezug des Kindergeldes vorrangig i. S. des § 64 Abs. 1 und 2 EStG berechtigt, da sie und nicht der Kläger die Kinder in ihren Haushalt aufgenommen habe.
6Hiergegen hat der Kläger Klage erhoben. Er vertritt die Auffassung, die Ablehnung des Kindergeldanspruchs könne nicht auf § 64 EStG gestützt werden, da die Vorschrift voraussetze, dass neben dem Kläger ein weiterer Berechtigter existiere. Dies sei jedoch nicht der Fall. Die Kindsmutter erfülle nicht die Voraussetzungen des § 62 EStG und sei folglich nicht anspruchsberechtigt. Auch nach dem Bundeskindergeldgesetz -BKGG- stehe ihr kein Kindergeld zu. Zudem konkurriere der deutsche Kindergeldanspruch des Klägers nicht mit einem Anspruch der Kindsmutter auf polnische Familienleistungen, denn solche Leistungen habe diese in Polen nicht bezogen.
7Der Kläger beantragt,
8den Bescheid vom 21.03.2012 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 10.07.2012 aufzuheben.
9Die Beklagte beantragt,
10die Klage abzuweisen.
11Sie verweist auf die Begründung der Einspruchsentscheidung und regt an, das Verfahren ruhend zu stellen.
12Hinsichtlich der Einzelheiten zum Sachverhalt und zum Klagevorbringen der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der dem Gericht vorgelegten Kindergeldakte Bezug genommen.
13Mit Einverständnis der Beteiligten entscheidet der Senat ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung -FGO-).
14Entscheidungsgründe
15Die Klage ist begründet.
16Die Voraussetzungen für eine Anordnung des Ruhens des Verfahrens nach § 155 FGO i. V. m. § 251 der Zivilprozessordnung -ZPO- waren – mangels übereinstimmender Anträge der Beteiligten – nicht erfüllt; lediglich die Beklagte hat das Ruhen beantragt.
17Das Verfahren war auch nicht nach § 74 FGO auszusetzen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs -BFH- kommt die Aussetzung eines Klageverfahrens nicht schon deshalb in Betracht, weil in derselben Rechtsfrage ein Musterprozess vor dem BFH anhängig ist (BFH-Beschluss vom 15.03.2006 X B 8/06, Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des BFH -BFH/NV- 2006, 1140 m. w. N.). Im Streitfall ist auch dann keine Verfahrensaussetzung gerechtfertigt, wenn man die Maßstäbe für die Aussetzung eines Verfahrens wegen eines vor dem Bundesverfassungsgericht anhängigen Prozesses auf Revisionsverfahren überträgt (vgl. BFH-Beschluss vom 07.02.1992 III B 24-25/91, Bundessteuerblatt -BStBl- II 1992, 408). Denn es ist nicht ersichtlich, dass es sich bei den beim BFH anhängigen Verfahren um "echte" Musterverfahren handelt, deren Sachverhalte mit dem vorliegenden im Wesentlichen übereinstimmen.
18Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO), denn die Beklagte hat zu Unrecht die Festsetzung des Kindergeldes ab April 2012 mit der Begründung aufgehoben, der Aufenthalt der Kinder im Haushalt der Kindesmutter in Polen hindere die Festsetzung deutschen Kindergeldes gegenüber dem Kläger.
191. Die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung ab April 2012 wurde unzutreffend auf § 70 Abs. 3 EStG gestützt.
20Nach dieser Vorschrift können materielle Fehler der letzten Festsetzung durch Neufestsetzung oder durch Aufhebung der Festsetzung beseitigt werden. Neu festgesetzt oder aufgehoben wird dabei mit Wirkung ab dem auf die Bekanntgabe der Neufestsetzung oder der Aufhebung der Festsetzung folgenden Monat (§ 70 Abs. 3 Sätze 1 und 2 EStG).
21Die Voraussetzungen des § 70 Abs. 3 EStG liegen im Streitfall nicht vor. Denn der Beklagten ist bei der Festsetzung des Kindergeldes mit Bescheid vom 15.02.2012 kein materieller Fehler unterlaufen; der Kläger hat für den Streitzeitraum April bis Juli 2012 in Deutschland einen Anspruch auf Kindergeld für „T“ und „P“.
22Der Kläger hat seinen Wohnsitz im Inland (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG); die Kinder haben ihren Wohnsitz in Polen, einem Mitgliedsstaat der EU (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG). Beide Kinder sind berücksichtigungsfähig i. S. des § 32 EStG: Die Tochter hat noch nicht das 18. Lebensjahr vollendet (§ 32 Abs. 3 EStG). Der Sohn, der im „...“ 2012 das 18. Lebensjahr vollendet hat, besuchte weiter die Schule (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a) EStG); dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig.
23Für den Kläger ist auch ausschließlich deutsches Recht anzuwenden (vgl. Art. 11 Abs. 1 EU-VO Nr. 883/2004), denn er ist in Deutschland selbständig erwerbstätig, so dass Art. 11 Abs. 3 Buchst. a) EU-VO Nr. 883/2004 eingreift und zur vorrangigen Anwendung der deutschen Rechtsvorschriften führt. Dies ist zwischen den Beteiligten ebenfalls nicht streitig.
24Soweit die Beklagte die Ansicht vertritt, dass dem Kläger der Anspruch auf Bewilligung von Kindergeld nicht zustehe, weil seine Kinder im Haushalt der Kindsmutter in Polen lebten und allenfalls diese einen Anspruch auf Gewährung von Kindergeld habe, folgt der Senat dem nicht.
25Eine Anspruchskonkurrenz nach Art. 68 EU-VO Nr. 883/2004 besteht nicht; dem Anspruch des Klägers auf deutsches Kindergeld steht – unstreitig – kein Anspruch der Kindsmutter auf polnische Familienleistungen gegenüber.
26Auch auf § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG kann sich die Beklagte zur Begründung ihrer Rechtsauffassung nicht stützen. Diese Regelung, nach der bei mehreren Berechtigten das Kindergeld an den Haushaltsaufnehmenden gezahlt wird, gilt nur, wenn prinzipiell mehrere Berechtigte den Anspruch auf Bewilligung des Kindergeldes geltend machen könnten. Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor. Ein Kindergeldanspruch der im EU-Ausland lebenden Betreuungsperson nach § 64 Abs. 2 EStG kommt nur in Betracht, wenn diese selbst die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 EStG erfüllt (vgl. etwa Urteil des Finanzgerichts -FG- Münster vom 9. Mai 2012 10 K 3768/10 Kg, Entscheidungen der Finanzgerichte -EFG- 2012, 1562, Rev. BFH XI R 28/12). Das ist hier nicht der Fall; nach Aktenlage, jedenfalls bezogen auf das Inland, gibt es außer dem Kläger keine weiteren Berechtigten.
27Auch aus der Bestimmung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 DVO Nr. 987/2009 ergibt sich keine andere Beurteilung. Richtig ist allerdings, dass nach dem Inhalt der genannten Regelung bei der Anwendung von Art. 67 und 68 der EU-VO Nr. 883/2004, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, eine Situation unterstellt wird, in der alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates (hier: der Bundesrepublik Deutschland) fallen "und dort wohnen". Entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten führt dies jedoch nicht dazu, dass nunmehr Ansprüche dritter Personen begründet werden, die wiederum die Rechte des Klägers schmälern oder gänzlich ausschließen. Insoweit teilt der Senat nicht die vom FG Bremen (Urteil vom 10.11.2011 3 K 26/11, EFG 2012, 143; Rev. III R 69/11) vertretene Rechtsauffassung, die Ansprüche der im Ausland lebenden Angehörigen bejaht. Das FG Bremen muss nämlich nicht nur, dem Wortlaut des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 DVO Nr. 987/2009 entsprechend, unterstellen, dass alle beteiligten Personen in der Bundesrepublik Deutschland wohnen, sondern zusätzlich, dass die Wohnsituation in Deutschland derjenigen im Ausland entspricht. In anderen Fällen müsste ggf. auch eine bestimmte Unterhaltssituation unterstellt werden (§ 64 Abs. 3 EStG). Derartige weitere Fiktionen sind der Regelung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 DVO Nr. 987/2009 nicht zu entnehmen. Das wiederum spricht dafür, dass die von der Beklagten herangezogene Bestimmung nur einen Rechtsverlust des aus dem Ausland in die Bundesrepublik Deutschland zugewanderten Arbeitnehmers verhindern soll. Eine Begrenzung oder ein Ausschluss von Rechten des im Inland wohnhaften Erwerbstätigen kann dadurch jedoch nicht eintreten. Der Senat schließt sich deshalb in vollem Umfang denjenigen Entscheidungen in der Finanzgerichtsbarkeit an, die in vergleichbaren Fällen Ansprüche der im Ausland lebenden Angehörigen verneinen (vgl. dazu die Entscheidungen des FG München vom 27.10.2011 5 K 1145/11, EFG 2012, 255; 5 K 1075/11, EFG 2012, 253, Rev. V R 49/11; 5 K 2614/10, EFG 2012, 249, Rev. III R 73/11; 5 K 3245/10, EFG 2012, 256, Rev. V R 46/11 und vom 21.11.2011 5 K 2527/10, EFG 2012, 627, Rev. V R 50/11; des Niedersächsischen FG vom 08.12.2011 16 K 291/11, EFG 2012, 849, Rev. III R 4/12 und vom 15.12.2011 3 K 155/11, abrufbar bei juris; des FG Rheinland-Pfalz vom 14.12.2011 2 K 2085/10, EFG 2012, 716 und vom 23.03.2011 2 K 2248/10, EFG 2011, 1323; des FG Hamburg vom 31.01.2012 1 K 204/11, EFG 2012, 1364 und vom 10.05.2012 1 K 19/11, abrufbar bei juris, Rev. XI R 23/12, sowie des FG Düsseldorf vom 09.02.2012 16 K 1564/11 Kg, EFG 2012, 1369, und vom 25.08.2012 10 K 2183/11 Kg, abrufbar bei juris).
282. Die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung ab April 2012 durfte auch nicht – wie in der Einspruchsentscheidung vom 10.07.2012 geschehen – auf § 70 Abs. 2 EStG gestützt werden.
29Nach dieser Vorschrift ist die Festsetzung des Kindergeldes aufzuheben oder zu ändern, soweit sich die für den Anspruch auf Kindergeld erheblichen Verhältnisse ändern. Die Aufhebung oder Änderung erfolgt dabei mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse. Eine Änderung der Verhältnisse ist die Änderung der tatsächlichen oder auch rechtlichen Verhältnisse des Anspruchsberechtigten oder des Kindes.
30Die Voraussetzungen des § 70 Abs. 2 EStG liegen im Streitfall nicht vor. Denn in den rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen, die für den Anspruch des Klägers auf Kindergeld für „T“ und „P“ erheblich sind, ist keine Änderung eingetreten; der Kläger hat gemäß den unter 1. dargestellten Erwägungen für den Streitzeitraum April bis Juli 2012 einen Anspruch auf Kindergeld.
31Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
32Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
33Die Zulassung der Revision beruht auf § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FGO. Sie dient der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung im Zusammenhang mit der Anwendung des neuen europäischen Rechts im Hinblick auf die differierende Rechtsprechung der Finanzgerichte. Zudem hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung.
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