Urteil vom Finanzgericht Düsseldorf - 15 K 544/12 Kg
Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 31.05.2011 und der Einspruchsentscheidung vom 10.01.2012 verpflichtet, dem Kläger Kindergeld für seine Kinder „U“, „P“, „Q“ und „O“ für Dezember 2011 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen
1
G r ü n d e :
2Der Kläger ist polnischer Staatsangehöriger. Seine Ehefrau – ebenfalls polnische Staatsangehörige – lebt mit den vier gemeinsamen Kindern „U“ (geb. am „..“.03.1991), „ „P“, „Q“ und „O“ (sämtlich minderjährig) in Polen. Der Kläger stand seit dem 25.02.2011 bis zum 19.11.2011 und wieder seit dem 02.01.2012 in einem in Deutschland sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis. Arbeitgeber ist ein Unternehmen mit Sitz in Polen. Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass die Kinder die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 EStG erfüllen; der Sohn „U“ besuchte eine Schule.
3Den Antrag des Klägers auf Bewilligung von Kindergeld für seine vier Kinder (beginnend im Februar 2011) lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 31.05.2011 ab, da ihrer Ansicht nach das deutsche Recht nicht zur Anwendung gelange. Den hiergegen gerichteten Einspruch wies die Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 10.01.2012 als unbegründet zurück. Da der Kläger seit dem 25.02.2011 von seinem in Polen ansässigen Arbeitgeber nach Deutschland entsandt worden sei, unterliege er nicht dem deutschen Kindergeldrecht; vielmehr sei nach Art. 11 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 (im Folgenden: EU-VO) das polnische Recht über Familienleistungen anzuwenden.
4Mit der Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.
5In der mündlichen Verhandlung vom 13.03.2013 hat sich erwiesen, dass zwischenzeitlich Kindergeld festgesetzt worden war für die Monate Februar 2011 bis November 2011. Daraufhin haben die Beteiligten insoweit übereinstimmend den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt (Az. 15 K 544/12 Kg). Für den nach dem Klagebegehren einzig noch streitigen Monat Dezember 2011 hat der Kläger in jener Verhandlung eine Bescheinigung über Lohnersatzleistungen vorgelegt – allerdings nur Seite 1. Die weitere Seite 2 hat der Kläger mit Schriftsatz vom gleichen Tag übersandt; eine Stellungnahme der Beklagten ist trotz mehrfacher Aufforderung ausgeblieben.
6Der Kläger beantragt,
7die Beklagte unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 31.05.2011 und der Einspruchsentscheidung vom 10.01.2012 zu verpflichten, ihm Kindergeld für seine Kinder „U“, „P“, „Q“ und „O“ für Dezember 2011 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
8Die Beklagte beantragt,
9die Klage abzuweisen.
10Das Gericht entscheidet im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung –FGO-)
11Die Klage ist begründet.
12Die Beklagte ist zu der geltend gemachten Kindergeldgewährung verpflichtet; auch für Dezember 2011 steht dem Kläger der Kindergeldanspruch zu (vgl. § 101 Satz 1 FGO).
13Der Kläger hat einen Wohnsitz im Inland (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG); die Kinder haben einen Wohnsitz in Polen, also in einem Mitgliedstaat der EU (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG). Alle Kinder sind unstreitig berücksichtigungsfähig i. S. des § 32 EStG; sie haben noch nicht das 18. Lebensjahr vollendet bzw. befinden sich in Ausbildung (§ 32 Abs. 3, 4 EStG).
14Für den Kläger ist auch ausschließlich deutsches Recht anzuwenden (vgl. Art. 11 Abs. 1, 3 Buchst. a EU-VO Nr. 883/2004), denn er ist (auch) im Dezember 2011 in Deutschland nichtselbständig erwerbstätig gewesen (inländische Betriebsstätte des polnischen Arbeitgebers) und hat hieraus für den streitigen Zeitraum Krankengeld bezogen; letzteres hat er zwischenzeitlich durch Vorlage der vollständigen Bescheinigung der Knappschaft nachgewiesen. Dass der Kläger nicht etwa i. S. von Art. 12 Abs. 1 der EU-VO Nr. 883/2004 entsandt worden war, ist zwischen den Beteiligten seit der Verhandlung vom 13.03.2013 zu Recht nicht mehr streitig.
15Der geltend gemachte Kindergeldanspruch scheitert auch nicht daran, dass die Kinder im Haushalt der Kindesmutter in Polen leben. Eine Anspruchskonkurrenz nach Art. 68 EG-VO Nr. 883/2004 ist vom Kläger bestritten und weder von der Beklagten vorgetragen noch sonst ersichtlich; dem durch die Erwerbstätigkeit des Klägers ausgelösten Anspruch steht kein Anspruch der Kindesmutter auf Familienleistungen gegenüber.
16Auch auf § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG kann sich die Beklagte zur Begründung ihrer Rechtsauffassung nicht stützen. Diese Regelung, nach der bei mehreren Berechtigten das Kindergeld an den Haushaltsaufnehmenden gezahlt wird, gilt nur, wenn prinzipiell mehrere Berechtigte den Anspruch auf Bewilligung des Kindergeldes geltend machen könnten. Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor. Ein Kindergeldanspruch der im EU-Ausland lebenden Betreuungsperson nach § 64 Abs. 2 EStG kommt nur in Betracht, wenn diese selbst die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 EStG erfüllt (vgl. etwa Urteil des Finanzgerichts –FG- Münster vom 9. Mai 2012 10 K 3768/10 Kg, Entscheidungen der Finanzgerichte –EFG- 2012, 1562, Rev. BFH XI R 28/12). Diese Voraussetzung liegt hier nicht vor; nach Aktenlage, jedenfalls bezogen auf das Inland, gibt es außer dem Kläger keine weiteren Berechtigten.
17Auch aus der Bestimmung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 DVO Nr. 987/2009 ergibt sich keine andere Beurteilung. Richtig ist allerdings, dass nach dem Inhalt der genannten Regelung bei der Anwendung von Art. 67 und 68 der EU-VO Nr. 883/2004, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, eine Situation unterstellt wird, in der alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates (hier: der Bundesrepublik Deutschland) fallen "und dort wohnen". Entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten führt dies jedoch nicht dazu, dass nunmehr Ansprüche dritter Personen begründet werden, die wiederum die Rechte des Klägers schmälern oder gänzlich ausschließen. Insoweit teilt der Senat nicht die vom FG Bremen (Urteil vom 10. November 2011 3 K 26/11, EFG 2012, 143; Rev. BFH III R 69/11) vertretene Rechtsauffassung, die Ansprüche der im Ausland lebenden Angehörigen bejaht. Das FG Bremen muss nämlich nicht nur, dem Wortlaut des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 DVO Nr. 987/2009 entsprechend, unterstellen, dass alle beteiligten Personen in der Bundesrepublik Deutschland wohnen, sondern zusätzlich, dass die Wohnsituation in Deutschland derjenigen im Ausland entspricht. In anderen Fällen müsste ggf. auch eine bestimmte Unterhaltssituation unterstellt werden (§ 64 Abs. 3 EStG). Derartige weitere Fiktionen sind der Regelung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 DVO Nr. 987/2009 nicht zu entnehmen. Das wiederum spricht dafür, dass die von der Beklagten herangezogene Bestimmung nur einen Rechtsverlust des aus dem Ausland in die Bundesrepublik Deutschland zugewanderten Arbeitnehmers verhindern soll. Eine Begrenzung oder ein Ausschluss von Rechten des im Inland wohnhaften Arbeitnehmers kann dadurch jedoch nicht eintreten. Der Senat schließt sich deshalb in vollem Umfang denjenigen Entscheidungen in der Finanzgerichtsbarkeit an, die in vergleichbaren Fällen Ansprüche der im Ausland lebenden Angehörigen verneinen (vgl. dazu die Entscheidungen des FG München vom 27. Oktober 2011 5 K 1145/11, EFG 2012, 255; 5 K 1075/11, EFG 2012, 253, Rev. BFH V R 49/11; 5 K 2614/10, EFG 2012, 249, Rev. BFH III R 73/11; 5 K 3245/10, EFG 2012, 256, Rev. BFH V R 46/11 und vom 21. November 2011 5 K 2527/10, EFG 2012, 627, Rev. BFH V R 50/11; des Niedersächsischen FG vom 8. Dezember 2011 16 K 291/11, EFG 2012, 849, Rev. BFH III R 4/12 und vom 15. Dezember 2011 3 K 155/11, juris; des FG Rheinland-Pfalz vom 14. Dezember 2011 2 K 2085/10, EFG 2012, 716 und vom 23. März 2011 2 K 2248/10, EFG 2011, 1323; des FG Hamburg vom 31. Januar 2012 1 K 204/11, EFG 2012, 1364 und vom 10. Mai 2012 1 K 19/11, EFG 2012, 1684, Rev. BFH XI R 23/12, sowie des FG Düsseldorf vom 9. Februar 2012 16 K 1564/11 Kg, EFG 2012, 1369, 25. August 2012 10 K 2183/11 Kg, juris, und vom 27. August 2012 16 K 3154/10, EFG 2012, 2132, Rev. BFH V R 26/12).
18Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO. Die Bestimmung des § 137 FGO gelangt nicht zur Anwendung, weil die Beklagte – gestützt auf ihre damalige abweichende Rechtsansicht – selbst bei vorprozessualer Vorlage der Bescheinigung der Knappschaft dem Begehren des Klägers nicht entsprochen hätte.
19Die Zulassung der Revision beruht auf § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO. Sie dient der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung im Zusammenhang mit der Anwendung des neuen europäischen Rechts im Hinblick auf die zum Teil differierende Rechtsprechung der Finanzgerichte.
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