Urteil vom Finanzgericht Düsseldorf - 10 K 4001/10 Kg
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
1
Tatbestand:
2Die Klägerin begehrt rückwirkend ab Dezember 2009 Kindergeld für ihre beiden, in den Jahren 2005 und 2007 geborenen Kinder.
3Die Klägerin lebte bis 2009 in der Türkei und zog im Juni 2009 mit ihren Kindern zu ihrem in Deutschland tätigen Ehemann. Dieser besitzt ebenfalls die türkische Staatsangehörigkeit und war in der Türkei von der konsularischen Vertretung seines Landes angeworben worden. Er zog 2008 nach …, um eine Tätigkeit im nichtdiplomatischen Dienst des dortigen türkischen Generalkonsulats aufzunehmen. Die Klägerin und ihr Ehemann sowie ihre Kinder erhielten vom Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland (AA) „Protokollausweise für Ortskräfte“ mit der Kennzeichnung „OK“. Steuern und Sozialversicherungsbeiträge werden für den Ehemann ausschließlich in der Türkei bezahlt bzw. abgeführt. Die Klägerin erzielt keine Einkünfte im Inland.
4Mit Bescheid vom 3. Februar 2010 lehnte die Organisationsvorgängerin der Beklagten den im Januar 2010 gestellten Kindergeldantrag ab. Die Klägerin habe aufgrund ihres ausländerrechtlichen Status nach § 62 des Einkommensteuergesetzes (EStG) keinen Kindergeldanspruch. Der Einspruch wurde mit Einspruchsentscheidung vom 6. Oktober 2010 als unbegründet zurückgewiesen.
5Mit der Klage trägt die Klägerin vor:
6Die Versagung des Kindergeldes sei rechtswidrig. Sie habe ab Dezember 2009 einen Anspruch auf Kindergeld gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Sie habe ebenso wie ihr Ehemann und ihre Kinder ihren Wohnsitz im Inland.
7Etwaige Steuerbefreiungen nach dem Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen vom 24. April 1963 (WÜK; Bundesgesetzblatt – BGBl – II 1969, 1585) führten nicht zum Ausschluss der Kindergeldberechtigung. Im Übrigen lägen Steuerbefreiungen nach dem WÜK nicht vor. Gemäß dem deutsch-türkischen Doppelbesteuerungs-Abkommen (DBA Türkei) habe die Türkei das Besteuerungsrecht.
8Der Kindergeldbezug sei auch nicht mangels Vorliegens der besonderen Voraussetzungen, die § 62 Abs. 2 EStG für Ausländer vorsehe, ausgeschlossen.
9Der Kindergeldanspruch der Klägerin lasse sich ebenfalls auf das Vorläufige Europäische Abkommen über soziale Sicherheit unter Ausschluss der Systeme für den Fall des Alters, der Invalidität und zugunsten der Hinterbliebenen vom 11. Dezember 1953 (VEA; BGBl II 1956, 507 und 528, BGBl II 1958, 18, BGBl II 1972, 175, BGBl II 1985, 3119) stützen. Dabei komme es zur Vermeidung einer Ungleichbehandlung mit Inländern im Anwendungsbereich des Abkommens nicht auf die Erfüllung der Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 EStG an. Nach Artikel 2 Abs. 1 Buchstabe d VEA seien den ausländischen Staatsangehörigen wie den Staatsangehörigen des anderen Staates nicht auf Beiträge beruhende Leistungen zu gewähren, wenn sie mindestens sechs Monate im Gebiet des letzteren Vertragsstaates wohnten, wie die Klägerin, die zudem hinsichtlich der deutschen Sozialversicherungs- sowie Einkommensteuerpflicht als ständig ansässig zu behandeln sei.
10Desweiteren verbiete Artikel 10 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation vom 19. September 1980 (ARB 1/80; nicht veröffentlicht) jede Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit.
11Es sei auch kein Ausschluss des Kindergeldanspruchs nach § 65 Abs. 1 Satz 1 EStG gegeben. Weder die Klägerin noch ihr Ehemann hätten bei einer Stelle außerhalb Deutschlands Kindergeld beantragt oder von dieser erhalten.
12Die Klägerin beantragt,
13unter Aufhebung des Bescheids vom 3. Februar 2010 und der Einspruchsentscheidung vom 6. Oktober 2010 die Beklagte zu verpflichten, für ihre Kinder A, geboren … 2005, und B, geboren … 2007, rückwirkend ab Dezember 2009 Kindergeld zu gewähren.
14Die Beklagte beantragt,
15die Klage abzuweisen.
16Sie verweist auf die Einspruchsentscheidung und trägt vor:
17Die Klägerin und ihr Ehemann seien nicht als im Inland ansässig anzusehen. Es bestehe keine Einkommensteuerpflicht in Deutschland. Die Voraussetzungen für einen Kindergeldanspruch nach dem EStG seien daher nicht gegeben.
18Der Berichterstatter hat das Verfahren mit Beschluss vom 18. Oktober 2012 gemäß § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) bis zum Ergehen einer Entscheidung im Revisionsverfahren beim Bundesfinanzhof (BFH) VI R 45/12 ausgesetzt. Der BFH hat mit Urteil vom 8. August 2013 (Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des BFH – BFH/NV – 2014, 83) die Revision gegen das den Kindergeldanspruch ablehnende Urteil des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 16. Mai 2012 (3 K 353/11, Entscheidungen der Finanzgerichte – EFG – 2012, 1862) als unbegründet zurückgewiesen.
19Entscheidungsgründe:
20Die Klage ist unbegründet.
21Die Klägerin wird durch den Bescheid vom 3. Februar 2010 und die ihn bestätigende Einspruchsentscheidung vom 6.Oktober 2010 nicht in ihren Rechten verletzt (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Der Klägerin steht kein Anspruch auf Kindergeld zu.
22Nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG hat für Kinder im Sinne des § 63 EStG Anspruch auf Kindergeld, wer im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Eine Erwerbstätigkeit ist nicht erforderlich. Allerdings erhält ein nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer gemäß § 62 Abs. 2 EStG nur Kindergeld, wenn er einen in dieser Vorschrift genannten Aufenthaltstitel besitzt.
23Bei wortgetreuer Auslegung des § 62 Abs. 2 EStG steht der Klägerin als türkischer Staatsbürgerin und damit nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländerin kein Kindergeld zu, da sie in dem maßgebenden Streitzeitraum keine von der Ausländerbehörde erteilte Niederlassungs- bzw. Aufenthaltserlaubnis im Sinne des § 62 Abs. 2 EStG, sondern nur einen vom AA ausgestellten „Protokollausweis für Ortskräfte“ besaß. Ein Protokollausweis für Ortskräfte ist bei ausländischen Staatsangehörigen, die eine Tätigkeit als Mitglied des Personals einer Botschaft bzw. eines Konsulats aufgenommen haben und als ständig in Deutschland ansässig behandelt werden, im Wege der Analogie einer zur Erwerbstätigkeit berechtigenden Aufenthaltserlaubnis im Sinne des § 62 Abs. 2 Nr. 2 EStG gleichzustellen. Denn § 62 EStG enthält eine unbewusste planwidrige Gesetzeslücke, soweit ständig ansässige ausländische Mitglieder des nicht amtlich entsandten Verwaltungs- und technischen Personals sowie des dienstlichen Hauspersonals von Botschaften wegen der Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels beim Kindergeld nicht berücksichtigt werden. Aus der Erteilung des Protokollausweises für Ortskräfte ergibt sich, dass sich der Ausweisinhaber rechtmäßig in Deutschland aufhält und hier eine erlaubte Tätigkeit ausübt. Dieser Ausweis ist zwar formell kein Titel im Sinne des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG), die durch ihn dokumentierte Freistellung von einem Aufenthaltstitel (vgl. § 27 Abs. 1 Nr. 2 der Aufenthaltsverordnung vom 25. November 2004, BGBl I 2004, 2945) wirkt aber wie eine ausländerrechtliche Statusentscheidung, die für den Anspruch auf Kindergeld Tatbestandswirkung entfaltet (ebenso BFH-Urteil vom 8. August 2013, a.a.O.).
24Gleichwohl steht der Klägerin kein Anspruch auf Kindergeld zu. Sie ist zwar als Angehörige einer unechten, weil im Ausland angeworbenen Ortskraft im Inland konsularisch als ständig ansässig zu behandeln und damit nach Artikel 71 Abs. 2 des WÜK weder vom deutschen System der sozialen Sicherheit noch von der Besteuerung befreit. Denn nach allgemeiner völkerrechtlicher Praxis werden echte wie unechte Ortskräfte und ihre Angehörigen als ständig Ansässige behandelt (Rundschreiben des AA vom 19. September 2008, Zur Behandlung von Diplomaten und anderen bevorrechtigten Personen in der Bundesrepublik Deutschland, Gemeinsames Ministerialblatt 2008, 1154, 1160, 1162; BFH-Urteil vom 25. Juli 2007 III R 81/03, BFH/NV 2008, 196). Die Klägerin ist aber nicht in das deutsche Sozialversicherungssystem eingegliedert.
25Sie nimmt weder selbst als Beschäftigte noch als Familienangehörige eines sozialversicherungspflichtig Beschäftigten am deutschen System der sozialen Sicherheit teil. Denn nach Artikel 8 Abs. 1 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei über Soziale Sicherheit vom 30. April 1964 (BGBl II 1965, 1170) in der Fassung des Änderungsabkommens vom 28. Mai 1969 (BGBl II 1972, 2) und des Zwischenabkommens vom 25. Oktober 1974 (BGBl II 1975, 374) und des Zusatzabkommens vom 2. November 1984 (BGBl II 1986, 1040) – SozSichAbk TUR – sind u. a. die Rechtsvorschriften von Deutschland über das Kindergeld für Arbeitnehmer auf türkische Bedienstete einer amtlichen türkischen Vertretung in Deutschland und ihre Angehörigen nicht anwendbar. Das bilaterale Abkommen, das gemäß § 2 der Abgabenordnung (AO) den deutschen Rechtsvorschriften vorgeht, verweist in diesen Fällen den Bediensteten und seinen Angehörigen auf die türkischen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit; überdies ist hier zu berücksichtigen, dass der Ehemann der Klägerin nicht von der (Options-)Möglichkeit des Artikel 8 Abs. 2 SozSichAbk TUR Gebrauch gemacht und sich nicht für eine Anwendung der deutschen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit entschieden hat. Damit unterscheidet sich der Sachverhalt hinsichtlich der fehlenden Eingliederung in das deutsche Sozialversicherungssystem vom
26BFH-Urteil vom 25. Juli 2007 (III R 55/02, Bundessteuerblatt –BStBl- II 2008, 758), auf das sich die Klägerin in ihrem Schriftsatz vom 17. Februar 2014 zur Begründung ihres Kindergeldanspruchs bezogen hat.
27Dem steht das VEA, das weiter in Kraft ist (vgl. BFH-Urteil vom 17. Juni 2010 III R 42/09, BFH/NV 2010, 2168) nicht entgegen. Gemäß Artikel 2 Abs. 1 Buchstabe d VEA haben die Staatsangehörigen eines der Vertragschließenden Anspruch auf die Leistungen nach den Gesetzen und Regelungen jedes anderen Vertragschließenden unter denselben Bedingungen wie die Staatsangehörigen des letzteren, sofern sie bezüglich der nicht auf Beiträgen beruhenden Leistungen, unter Ausschluss der Leistungen bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten, seit wenigstens sechs Monaten im Gebiet des letzteren Vertragschließenden wohnen. Danach steht türkischen Staatsangehörigen, die seit wenigstens sechs Monaten in Deutschland wohnen, wie deutschen Staatsangehörigen grundsätzlich Kindergeld unter den Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 EStG zu (BFH-Urteil vom 17. Juni 2010, a.a.O.).
28Allerdings ist das VEA wegen der spezielleren und zeitlich nachfolgenden Vorschriften des Sozialabkommens mit der Türkei auf den vorliegenden Sachverhalt nicht anwendbar, obwohl die Klägerin und ihr Ehemann hier seit mehr als sechs Monaten wohnen. Das rund zehn Jahre später bilateral abgeschlossene Sozialabkommen mit der Türkei regelt die Rechte und Ansprüche nach dem VEA von türkischen Bediensteten einer in Deutschland belegenen amtlichen Vertretung und ihren Angehörigen genauer und geht deshalb in seinem besonderen Regelungsgehalt – hier dem Verlust der deutschen Kindergeldberechtigung – nach den allgemeinen Auslegungsregeln, anders es die Klägerin meint, vor (ebenso BFH-Urteil vom 8. August 2013, a.a.O.)
29Ebenso kann der Kindergeldanspruch nicht auf Artikel 10 Abs. 1 des ARB 1/80 gestützt werden. Das Kindergeld nach § 62 ff. EStG fällt nicht in den sachlichen Anwendungsbereich des Artikel 10 Abs. 1 ARB 1/80, der sich lediglich auf das „Arbeitsentgelt und die sonstigen Arbeitsbedingungen“ bezieht (so z. B. Urteil des Bundessozialgerichts – BSG – vom 29. Januar 2002 B 10/14 EG 8/99 R SozR 3-7833 § 1 Nr. 27 für das Erziehungsgeld).
30Anhaltspunkte für eine vom Gesetzgeber nicht gewollte und daher i. S. d. Artikels 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) gleichheitswidrige Ungleichbehandlung der Klägerin hinsichtlich ihres Kindergeldanspruchs vermag der Senat nicht zu erkennen. Dem Gesetzgeber steht es frei, unterschiedliche Sachverhalte hinsichtlich ihrer Rechtsfolgen unterschiedlich zu regeln.
31Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
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