Urteil vom Finanzgericht Hamburg (4. Senat) - 4 K 122/15

Tatbestand

1

Die Klägerin wendet sich gegen die Erhebung von Tabaksteuer wegen einer Mehrmengenlieferung, hilfsweise begehrt sie Erstattung der Tabaksteuer.

2

Am 25.04.2012 eröffnete die A, die zum selben Konzern gehört wie die Klägerin, ein EMCS-Steueraussetzungsverfahren, mit dem Rauchtabak aus dem EU-Mitgliedstaat B nach Deutschland transportiert wurde. In dem dazugehörigen elektronischen Verwaltungsdokument (e-VD) mit dem Registrierkennzeichen XXX-1 gab A 662 Packstücke mit einem Gesamtnettogewicht von 3.972 kg an. Neben dieser Menge wurde am 04.05.2012 im Steuerlager der Klägerin in C eine Palette mit 64 Kartons (= 384 kg) Rauchtabak (Ident-Nr. XXX) angeliefert, die A irrtümlich der Sendung beigefügt und nicht im e-VD genannt hatte (im Folgenden: Mehrmenge). Die Mehrmenge wurde ebenfalls ins Steuerlager der Klägerin aufgenommen, ohne dass dies bei Beendigung des Steueraussetzungsverfahrens gemeldet wurde. Erst mit E-Mail vom 18.05.2012 teilte die Klägerin dem Beklagten die Mehrmenge mit und gab am 05.06.2012 eine entsprechende Steuererklärung ab. Für die Mehrmenge wurde bei der Entnahme aus dem Steuerlager im EU-Mitgliedstaat B kein weiteres Steueraussetzungsverfahren eröffnet.

3

Mit Bescheid vom 20.06.2012 stellte der Beklagte die Mehrmenge sicher und setzte für sie mit Tabaksteuerbescheid vom 29.06.2012 (YYY) Tabaksteuer in Höhe von 25.429,21 € fest. Die Mehrmenge sei mit der Entnahme aus dem Steuerlager des Versenders im EU-Mitgliedstaat B in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt worden. Ein weiteres Steueraussetzungsverfahren oder ein Zollverfahren habe sich nicht angeschlossen. Mit dem erstmaligen Inbesitzhalten der Mehrmenge zu gewerblichen Zwecken sei die Tabaksteuer gemäß § 23 Abs. 1 TabStG entstanden. Steuerschuldnerin sei die Klägerin als Empfängerin der Tabakwaren.

4

Mit Schreiben vom 11.07.2012 legte die Klägerin Einspruch gegen den Tabaksteuerbescheid ein (RL 1/12). Gleichzeitig beantragte sie Erstattung der festgesetzten Tabaksteuer gemäß § 32 Abs. 1 TabStG. Die Mehrmenge sei durch einen Arbeitsfehler bei A verursacht worden. Bei der betroffenen Sendung sei eine Palette der Ladung aufgrund einer fehlerhaften Anlage des EMCS-Vorgangs nicht in das Steueraussetzungsverfahren aufgenommen worden. § 32 TabStG sei im Lichte von Art. 11 der Verbrauchsteuer-Systemrichtlinie 2008/118/EG (SysRL) anzuwenden. Für die Klägerin sei es aufgrund der geschilderten Umstände unbillig, die Tabaksteuer zu tragen. Die Aufnahme in ihr Steuerlager begründe eine steuerlich hinreichend überwachte Lagerung der Ware.

5

Mit Schreiben vom 15.11.2012 lehnte der Beklagte den Erstattungsantrag mangels Rechtsgrundlage ab.

6

Mit Schreiben vom 05.12.2012 begründete die Klägerin ihren Einspruch gegen den Tabaksteuerbescheid weiter und legte Einspruch gegen die Ablehnung des Erstattungsantrags gemäß § 32 Abs. 1 TabStG (RL 2/12) ein. Die Entscheidung 14 K 662/09 des FG München sei nicht übertragbar. Die Steuer sei nicht in Deutschland, sondern gemäß Art. 7 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. a) SysRL im EU-Mitgliedstaat B entstanden. Da insoweit die Transformationsfrist der Richtlinie abgelaufen sei, sei sie direkt anwendbar.

7

Mit Schreiben vom 12.01.2015 nahm die Klägerin ergänzend Stellung: § 23 Abs. 1 TabStG diene der Bekämpfung des innergemeinschaftlichen Schmuggels von Tabakwaren, nicht der Sanktionierung von rechtmäßig handelnden Verfahrensbeteiligten, die aufgrund eines Versehens des Absenders die Steuer schulden sollen. Die Entstehung der Steuer im Versendungsland durch dortige Entnahme aus dem Steueraussetzungsverfahren sei durch die Lagerbestands- und Versandaufzeichnungen des Versenders eindeutig belegbar. Der Erstattungsantrag nach § 32 TabStG habe einzig zur Voraussetzung, dass Tabakwaren in ein Steuerlager aufgenommen worden sind, was vorliegend der Fall sei. Die notwendige Überprüfung des Warenflusses sei im Rahmen der jährlichen Betriebsprüfung möglich. Die Steuerlagerbestandsaufzeichnungen wiesen die Mehrmengen zweifelsfrei aus und schlössen ein unrechtmäßiges Inverkehrbringen aus. Im Übrigen versage einzig der Beklagte die Erstattung. Die für die Mitbewerber der Klägerin zuständigen Hauptzollämter gäben derartigen Erstattungsanträgen statt.

8

Mit Einspruchsentscheidung vom 22.07.2015 wies der Beklagte die Einsprüche gegen den Tabaksteuerbescheid und gegen die Ablehnung des Erstattungsantrags gemäß § 32 TabStG als unbegründet zurück. Die Tabaksteuer sei zu Recht erhoben worden. Für den gewerblichen Verkehr mit verbrauchsteuerpflichtigen Waren gelte das Bestimmungslandprinzip. Der Bundesfinanzhof habe mit Urteil vom 10.11.2009 (VII R 39/08) entschieden, dass dieser Grundsatz kein Verbot einer mehrfachen Steuerentstehung enthalte. Das Steueraussetzungsverfahren könne sich nur auf die Warenmenge beziehen, für die das Versandverfahren eröffnet worden sei. Die Beförderung der Mehrmenge sei damit nicht unter Steueraussetzung erfolgt. Damit hätten sich die Tabakwaren in einem anderen Mitgliedstaat bereits im freien Verkehr befunden. Derartige Tabakwaren dürften ohne deutsche Steuerzeichen nicht zu gewerblichen Zwecken in das deutsche Steuergebiet importiert werden (§ 23 Abs. 1 i. V. m. § 17 Abs. 1 TabStG). Geschehe dies, entstehe die Steuer. Hinsichtlich des gewerblichen Zwecks werde nicht zwischen verbotenen und rechtmäßigen Handlungen unterschieden. § 23 TabStG unterbinde insgesamt den Handel mit Tabakwaren des steuerrechtlich freien Verkehrs zwischen den Mitgliedstaaten.

9

Die Erstattung nach § 32 Abs. 1 TabStG komme nicht in Betracht. Es fehle an einer Rechtsgrundlage. § 32 Abs. 1 TabStG beziehe sich nur auf die Aufnahme in ein Steuerlager bei innerdeutschen Transporten. Auf innergemeinschaftliche Lieferungen sei die Vorschrift nicht anwendbar. Für den Bundesfinanzhof (VII R 39/08) sei die Existenz von Art. 11 SysRL Beleg dafür, dass Waren, die bereits in einem Mitgliedstaat in den freien Verkehr gelangt seien, auch im Bestimmungsland besteuert werden könnten. Es sei systemimmanent, dass eine Entlastung von bestimmten verfahrenstechnischen Voraussetzungen abhänge. Misslinge im Einzelfall eine Entsteuerung der in einen anderen Mitgliedstaat gelieferten Waren aufgrund der Nichteinhaltung des hierfür vorgeschrieben Verfahrens, führe dies nicht dazu, dass die Regelung unionsrechtswidrig sei.

10

Der stark eingeschränkte Anwendungsbereich von § 32 Abs. 1 TabStG sei zudem der Besonderheit geschuldet, dass die Tabaksteuerschuld nicht durch Geldzahlung, sondern durch die Verwendung von Steuerzeichen beglichen werde. Dabei werde grundsätzlich nicht nach der Art des Steuerentstehungstatbestands unterschieden. Die Steuerzeichen müssten gemäß § 17 Abs. 1 S. 3 TabStG bereits vor der Steuerentstehung verwendet werden. Das Verbringen von Tabakwaren ohne deutsche Steuerzeichen, die sich im steuerrechtlich freien Verkehr befänden, sei zu gewerblichen Zwecken in das Steuergebiet nicht zulässig. Dies werde auch durch die Notwendigkeit der zwingenden Sicherstellung nach § 215 AO deutlich.

11

Mit der am 25.08.2015 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie beruft sich auf ihren vorgerichtlichen Vortrag und führt ergänzend aus: In Deutschland sei keine Steuer entstanden. Stehe wie im vorliegenden Fall der Staat fest, in dem die Unregelmäßigkeit entstanden sei, habe dieser Staat das ausschließliche Besteuerungsrecht. Dies ergebe sich aus Art. 10 Abs. 1, 38 Abs. 1 SysRL.

12

Selbst wenn der Ort der Unregelmäßigkeit unklar wäre, wäre aufgrund der Fiktion des § 14 Abs. 4 TabStG der Ort des Beförderungsbeginns, also EU-Mitgliedstaat B, für die Zuordnung des Besteuerungsrechts maßgeblich. Den stehe nicht entgegen, dass die Ware im weiteren Verlauf des Versandes ins Steuergebiet gelangt sei.

13

Die Klägerin habe die Mehrmenge erst mit der Aufnahme ins Steuerlager in Besitz genommen. Während des Transports habe die Absenderin die Waren besessen. Sie habe die Ware daher nicht außerhalb der steuerrechtlichen Überwachung besessen. Sie habe keine Kenntnis von der Mehrmenge gehabt, da das e-VD diese gerade nicht ausgewiesen habe. § 23 TabStG habe im Übrigen nicht den Zweck, Fehler in der legalen Lieferkette zu sanktionieren. Fehl- oder Mehrmengen stellten eine Unregelmäßigkeit im Sinne von Art. 10 SysRL dar, der in § 14 TabStG umgesetzt worden sei.

14

Da die Ware nur nach ihrem Gewicht, Menge und Markennamen identifizierbar sei, sei unklar, welcher Teil sich im Steueraussetzungsverfahren befunden habe. Vor diesem Hintergrund müsse letztlich, wie auch Art. 10 Abs. 1 S. 1 SysRL nahelege, der gesamte Transport als Transport unter Steueraussetzung angesehen werden. Dies folge aus der Zusammenschau von Art. 21 und Art. 20 SysRL. Auch nach Art. 17 SysRL seien alle "Waren", nicht nur die im e-VD genannten, vom Steueraussetzungsverfahren erfasst.

15

§ 23 TabStG knüpfe an das erstmalige In-Besitz-halten zu gewerblichen Zwecken an. Die Klägerin habe die Mehrmenge bereits im EU-Mitgliedstaat B erstmals im Besitz gehalten.

16

Die Existenz von § 23 Abs. 1 S. 5 TabStG führe nicht automatisch zur Entziehung der Verfügungsgewalt über die Waren. Diese Norm stelle nur eine Ermächtigungsgrundlage dar für die am 20.06.2012 ausgesprochene Sicherstellung, die keine Rückwirkung entfalte.

17

Dem Erstattungsantrag nach § 32 Abs. 1 TabStG sei statt zu geben, weil die einzige Voraussetzung der Norm - die Aufnahme von Tabakwaren in ein Steuerlager - erfüllt sei. Die Norm basiere auf Art. 11 SysRL. Die einzige dort vorgesehene Beschränkung sei, dass die Steuerbefreiung nicht über die Steuerbefreiungen von Art. 12 SysRL und die spezifischen Steuerbefreiungen der einzelnen Verbrauchsteuer-Richtlinien hinausgehen dürfe. Dies sei bei § 32 TabStG der Fall. Weder der Wortlaut noch die systematische Stellung im Abschnitt 6 des TabStG rechtfertige die vom Beklagten vorgenommene Beschränkung auf Inlandstransporte. Sie verstoße auch gegen das europäische Diskriminierungsverbot. Der Hinweis auf die Art der Begleichung der Tabaksteuerschuld mittels Tabaksteuerzeichen gehe fehl. Unrichtig sei, dass nach § 215 AO sichergestellte Waren nicht in ein Tabaksteuerlager aufgenommen werden dürften. Im Übrigen sei die Ware erst lange nach der Aufnahme ins Steuerlager sichergestellt worden. Die Verweigerung der Erstattung sei gleichheitswidrig, weil bei anderen Hauptzollämtern in vergleichbaren Fällen die Tabaksteuer erlassen bzw. erstattet worden sei.

18

Die vom Beklagten zitierte Entscheidung des Bundesfinanzhofs (VII B 30/14) betreffe einen anderen Sachverhalt. In jenem Verfahren sei es nämlich um den Diebstahl von Tabakwaren bei einem Händler gegangen, der nicht über ein Steuerlager verfügt habe. Dass in einem solchen Fall eine Erstattung nicht möglich sei, liege nahe, weil es sonst zu einem unversteuerten Verbrauch komme. Man könne aus dieser Entscheidung auch nicht in § 32 TabStG das weitere Tatbestandsmerkmal der "Brauchbarkeit" hineinlesen. Im Übrigen sei die Mehrmenge gerade nicht unbrauchbar geworden.

19

§ 32 TabStG regele Fälle, in denen eine entstandene Tabaksteuer zu erstatten sei, weil ein unkontrollierter Verbrauch der Waren im Steuergebiet ausgeschlossen werden könne. Die Steuerentlastung hänge, anders als der Beklagte meine, auch nicht von Zufälligkeiten ab. § 32 TabStG verlange gerade, dass die Ware wieder in den Steuerlager überführt werde. § 32 Abs. 1 TabStG erfasse nicht nur "die durch die Verwendung von Steuerzeichen entrichtete Steuer". Die Tabaksteuer könne nämlich auf unterschiedliche Weise entstehen, so etwa nach § 23 Abs. 1 S. 1 TabStG.

20

§ 12 Abs. 5 TabStG, auf den der Beklagte sich beziehe, betreffe nur Waren, die sich im Verfahren der Steueraussetzung befänden. Die Mehrmenge unterliege diesem Verfahren jedoch gerade nicht. Im Übrigen könne die Klägerin die Steuerentstehung nicht verhindern, wenn sie - wie der Beklagte behaupte - bereits im Zeitpunkt des Grenzübertritts die Waren in Besitz nehme. Außerdem sei sie gemäß § 11 Abs. 1, Abs. 3 TabStG verpflichtet, Tabakwaren unverzüglich in Steuerlager aufzunehmen. Eine Zählung außerhalb des Steuerlagers sei damit nicht möglich.

21

Die Klägerin beantragt,
1. den Tabaksteuerbescheid vom 29.06.2012 (YYY) in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.07.2015 (RL 1/12) aufzuheben,
2. hilfsweise, den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 15.11.2012 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.07.2015 (RL 2/12) zu verpflichten, der Klägerin gemäß § 32 TabStG Tabaksteuer in Höhe von 25.429,21 € zu erstatten.

22

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

23

Er verweist auf seinen bisherigen Vortrag und führt ergänzend im Wesentlichen aus: Die Steuer entstehe für Mehrmengen unmittelbar mit der Entnahme aus dem Steuerlager. § 14 TabStG sei nicht anwendbar, weil er lediglich Unregelmäßigkeiten bei der Beförderung unter Steueraussetzung erfasse. Hierum gehe es jedoch nicht. Der vorliegende Fall betreffe Waren, die in einem Mitgliedstaat bereits in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt worden seien, für die die Steuer jedoch noch nicht entrichtet worden sei und die in einen anderen Mitgliedstaat befördert würden. Der EuGH habe mit Urteil vom 09.09.2004 (C-292/02, Rn. 35) entschieden, dass eine verbrauchsteuerpflichtige Ware, die in einem Mitgliedstaat in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt worden sei, in dem andern Mitgliedstaat besteuert werde. Hierdurch solle sichergestellt werden, dass die Verbrauchsteuer für Waren, die zu kommerziellen Zwecken transportiert würden, im Ergebnis in dem Mitgliedstaat des Endverbrauchs anfalle. Die Verlagerung der Steuererhebungszuständigkeit erfolge ab dem Grenzübertritt.

24

§ 23 TabStG lasse sich nicht entnehmen, dass die Vorschrift nur für Schmuggeltatbestände gelten solle. Die Klägerin sei Abgabenschuldnerin. Der Bundesfinanzhof habe in seinem Urteil vom 27.11.2014 (VII R 40/12) entschieden, dass Empfänger auch derjenige sein könne, der nach Beendigung des Verbringens Besitz an den Waren erlangt habe.

25

Art. 10 Abs. 1 SysRL - und damit auch § 14 TabStG - sei eindeutig nur für die Beförderung von Waren anwendbar, die sich in einem Steueraussetzungsverfahren im Sinne von Art. 4 Nr. 7 SysRL befänden. Eine Ware, die sich - wie die Mehrmenge - bereits im steuerrechtlich freien Verkehr befinde, könne daher nicht gleichzeitig im Verfahren der Steueraussetzung sein.

26

Die Argumentation der Klägerin würde dazu führen, dass Waren, die nur nach Gewicht identifiziert werden könnten, nicht unter Steueraussetzung befördert werden könnten, weil eine Nämlichkeitsfeststellung nicht möglich wäre. Nach der Durchführungsverordnung wäre die Klägerin verpflichtet gewesen, eine Mehrmenge zu melden.

27

Zusammengefasst sei die Mehrmenge gemäß Art. 7 Abs. 2 Buchst. a) SysRL im EU-Mitgliedstaat B in den steuerrechtlich freien Verkehr gelangt, weil sie nicht ins Steueraussetzungsverfahren überführt worden sei. Die erneute Steuerentstehung gemäß § 23 Abs. 1 TabStG sei durch Art. 33 Abs. 1 SysRL angeordnet

28

Ein Erstattungsanspruch bestehe nicht. Der Bundesfinanzhof habe im Beschluss vom 30.03.2015 (VII B 30/14) entschieden, dass kein Entlastungsanspruch bestehe, wenn die verbrauchsteuerpflichtige Ware im Handel unbrauchbar werde. Auch in diesen Fällen werde das Risiko der Nichtabwälzbarkeit der Steuer dem Hersteller oder Händler zugewiesen, ohne dass der Charakter der Tabaksteuer als besondere Verbrauchsteuer in Frage gestellt werde. Auch im vorliegenden Fall sei die Mehrmenge unbrauchbar, weil sie keine deutschen Steuerzeichen getragen habe.

29

Unerheblich sei, dass sich die Mehrmenge zur Zeit der Feststellung der Unregelmäßigkeit in einem Steuerlager befunden habe. Maßgeblich sei nämlich der Zeitpunkt des Eintritts der tatbestandlichen Voraussetzungen, weil ansonsten die Steuerentlastung von Zufällen abhängig wäre.

30

Für die wirksame Aufnahme der Mehrmenge in das Steuerlager der Klägerin habe es ihr an der Verfügungsmacht gefehlt. Die in § 23 Abs. 1 S. 5 TabStG geforderte Sicherstellung stelle nicht erst auf den Zeitpunkt der Steuerentstehung ab, sondern müsse so verstanden werden, dass sie bereits an den Zeitpunkt des Verbringens anknüpfe. Anderenfalls erlange der Warenempfänger einen Zeitvorteil. Er könne die Ware - wie vorliegend geschehen - in das Steuerlager aufnehmen und dadurch einen Erstattungsanspruch ableiten. Demgegenüber wäre der redliche Warenempfänger, der die erhaltene Mehrmenge zugleich im e-VD melde, benachteiligt, weil die Behörde ein Verfügungsverbot aussprechen könne.

31

Die Beförderung unter Steueraussetzung ende gemäß § 12 Abs. 5 TabStG mit Übernahme der Ware. Die Mengenfeststellung sei demnach der Beförderung zuzurechnen. Die Klägerin hätte die Möglichkeit gehabt, die Sendung insgesamt zurückzuweisen, um die Steuerentstehung zu vermeiden. Nehme sie die Ware aus wirtschaftlichen Gründen gleichwohl an, müsse sie die steuerlichen Folgen tragen.

32

Bei der Entscheidung hat die Sachakte des Beklagten vorgelegen. Auf deren Inhalt sowie das Protokoll des Erörterungstermins vom 30.05.2017 wird ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

33

I.

Die Klage, über die im Einverständnis der Beteiligten (...) ohne mündliche Verhandlung (90 Abs. 2 FGO) und durch den Berichterstatter anstelle des Senats (§ 79a Abs. 4, 3 FGO) entschieden wird, hat nur mit dem Hilfsantrag Erfolg.

34

II.

Die Klage ist mit dem Hauptantrag unbegründet. Der angefochtene Tabaksteuerbescheid vom 29.06.2012 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.07.2015 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin daher nicht in ihren Rechten (§ 101 S. 1 FGO).

35

Ermächtigungsgrundlage für die Erhebung der Tabaksteuer auf die Mehrmenge ist § 23 Abs. 1 S. 1 TabStG. Danach entsteht die Tabaksteuer, wenn Tabakwaren in anderen als den in § 22 Abs. 1 TabStG genannten Fällen entgegen § 17 Abs. 1 TabStG aus dem steuerrechtlich freien Verkehr eines anderen Mitgliedstaats in das Steuergebiet verbracht oder zu gewerblichen Zwecken in Besitz gehalten werden. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind erfüllt.

36

1. Die Mehrmenge an Rauchtabak - Tabakwaren im Sinne von § 1 Abs. 2 und 5 TabStG - enthielt keine deutschen Steuerzeichen im Sinne von § 17 TabStG. Sie wurde auch nicht zu privaten Zwecken im Sinne von § 22 Abs. 1 TabStG ins Steuergebiet befördert.

37

2. Die Mehrmenge stammte aus dem steuerrechtlich freien Verkehr von B, einem Mitgliedstaat der Europäischen Union. Der steuerrechtlich freie Verkehr bezeichnet eine Situation, in der sich Tabakwaren weder in einem Verfahren der Steueraussetzung noch in einem zollrechtlichen Nichterhebungsverfahren befinden (§ 4 Nr. 3 TabStG). Das Tabaksteuergesetz enthält allerdings keine Angaben dazu, nach welchen Rechtsvorschriften es zu beurteilen ist, ob sich eine Ware vor der Verbringung ins deutsche Steuergebiet in einem Verfahren der Steueraussetzung befunden hat. Das deutsche Tabaksteuerrecht kann nicht maßgeblich sein, weil es der Bundesrepublik Deutschland offensichtlich an der Kompetenz fehlt, die Voraussetzungen für die Überführung einer Ware in den freien Verkehr in einem anderen EU-Mitgliedstaat zu regeln. Das nationale Recht der anderen EU-Mitgliedstaaten - hier des EU-Mitgliedstaats B - ist nicht anzuwenden, weil nicht davon ausgegangen werden kann, dass der Bundesgesetzgeber es einem ausländischen Rechtssetzungsorgan überlassen wollte, die Bedingungen für die Erfüllung eines nationalen Steuerschuldentstehungstatbestands festzulegen. § 23 Abs. 1 S. 1 TabStG ist vor diesem Hintergrund so zu verstehen, dass für die Erfüllung des Tatbestandsmerkmals "aus dem steuerrechtlich freien Verkehr eines anderen Mitgliedstaats" auf die Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom 16.12.2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG (ABl. L/12; Verbrauchsteuer-Systemrichtlinie - SysRL), insbesondere dessen Art. 7 Abs. 2, zurückzugreifen ist.

38

Die Mehrmenge wurde gemäß Art. 7 Abs. 2 Buchst. b) SysRL durch den Besitz außerhalb eines Verfahrens der Steueraussetzung in den freien Verkehr überführt, ohne dass - wie die Klägerin im Erörterungstermin unwidersprochen vorgetragen hat - im EU-Mitgliedstaat B eine Verbrauchsteuer erhoben wurde. Zwar wurde im EU-Mitgliedstaat B am 25.04.2012 ein Steueraussetzungsverfahren über die Lieferung von 3.972 kg Rauchtabak (Ident-Nr. XXX) eröffnet. Tatsächlich wurde jedoch eine um die Mehrmenge (384 kg) erhöhte Menge Rauchtabak versandt.

39

Mehrmengen, die im e-VD nicht genannt sind, befinden sich nicht im Verfahren der Steueraussetzung (FG Hamburg, Urt. v. 19.06.2015, 4 K 13/15, juris Rn. 16; so i. E. auch Pohl, Besteuerung von Mengendifferenzen, AW-Prax 2011, 200, 201 zu § 15 EnergieStG; unentschlossen Schröer-Schallenberg, in Bongartz/ dies., Verbrauchsteuerrecht, 2. Aufl. 2011, D 157 a. E.). Dies entspricht dem Sinn und Zweck des Steueraussetzungsverfahrens, der darin besteht, die Beförderung der verbrauchsteuerpflichtigen Waren zu verfolgen (20. Erwägungsgrund der Verbrauchsteuer-Systemrichtlinie). Die Verfolgbarkeit der Warenlieferung innerhalb des Steueraussetzungsverfahrens ist für Warenmengen, die nicht im e-VD dokumentiert werden, von vornherein nicht gegeben. Wäre etwa im vorliegenden Fall die Mehrmenge nicht am Bestimmungsort angekommen, wäre ihr Verlust im Steueraussetzungsverfahren nicht nachvollziehbar. Dass er - worauf die Klägerin im Erörterungstermin hingewiesen hat - in den jeweiligen Bestandsaufzeichnungen der Steuerlager verfolgbar wäre, stellt nur einen unvollkommenen Ersatz dar.

40

Auch die Systematik der Verbrauchsteuer-Systemrichtlinie spricht dafür, Mehrmengen als nicht vom Steueraussetzungsverfahren erfasst anzusehen. Nach Art. 21 Abs. 1 SysRL gilt eine Beförderung nur dann als in einem Verfahren der Steueraussetzung durchgeführt, wenn sie mit einem e-VD erfolgt, das nach den Vorgaben von Art. 21 Abs. 2 und 3 erstellt wurde. Daraus folgt, dass die ordnungsgemäße Erstellung eines e-VD konstitutive Wirkung für die Eröffnung eines Steueraussetzungsverfahrens hat. Vor diesem Hintergrund wäre es widersprüchlich, den nicht unwichtigen Angaben über die Menge der zu befördernden Waren eine solche Bedeutung abzusprechen.

41

Die Bedeutung der versendeten Menge kommt auch in Art. 23 Abs. 1 Nr. 1 SysRL zum Ausdruck. Danach kann dem Versender gestattet werden, Energieerzeugnisse im Steueraussetzungsverfahren in mehrere Beförderungen aufzuteilen, sofern sich an der Gesamtmenge der Ware nichts ändert. Es handelt sich im Hinblick auf die Relevanz der Gesamtmenge nicht um eine Spezialvorschrift für Energieerzeugnisse, weil nicht nachvollziehbar wäre, warum die Gesamtmenge nur für solche Waren von Bedeutung sein sollte. Eine Sondervorschrift für Energieerzeugnisse stellt die Norm nur insoweit dar, als eine Aufteilung der Beförderungen im Rahmen desselben Steueraussetzungsverfahrens möglich ist.

42

Außerdem werden die Angaben im e-VD nach Art. 21 Abs. 3 SysRL im Abgangsmitgliedstaat und nach Art. 24 Abs. 3 SysRL im Bestimmungsmitgliedstaat überprüft. Das e-VD enthält Angaben über Menge sowie Brutto- und Nettogewicht der beförderten Waren.

43

Der hier vertretenen Auffassung steht nicht entgegen, dass die Eingangsmeldung nach Art. 24 SysRL auch Angaben zu einer Mehrmenge enthalten muss (Art. 7 bzw. 8 Abs. 3 i. V. m. Anhang I Tab. 6 Verordnung (EG) Nr. 684/2009). Die Eingangsmeldungen erfüllen nämlich auch den Zweck, den Steuerpflichtigen dabei zu helfen, ihren steuerlichen Erklärungspflichten nachzukommen. Hierzu gehört selbstverständlich auch die Meldung über Abweichungen zu den im e-VD gemachten Angaben, die logischerweise erst beim Wareneingang festgestellt werden können. Aus der Meldepflicht der Mehrmengen bei Beendigung eines Steueraussetzungsverfahrens lässt sich mithin nicht schließen, dass der Gesetzgeber davon ausging, dass auch Mehrmengen dem Steueraussetzungsverfahren unterliegen. Vor diesem Hintergrund ist die im früheren deutschen Verbrauchssteuerrecht vorgenommene Behandlung von Mehrmengen als "Unregelmäßigkeit im Verkehr unter Steueraussetzung" (§ 26 Abs. 2 S. 2 Biersteuerverordnung vom 19.06.1997; § 44 Abs. 2 S. 3 Branntweinsteuerverordnung vom 11.07.1997; § 37 Energiesteuer-Durchführungsverordnung vom 31.07.2006) ungenau. Richtigerweise hätte die Überschrift etwa "Feststellung von Waren des freien Verkehrs bei Gelegenheit der Beendigung eines Steueraussetzungsverfahrens" lauten müssen.

44

Bei einem solchen Verständnis der Behandlung einer Mehrmenge wurde die hier in Rede stehende Mehrmenge bereits bei Auslagerung aus dem Steuerlager von A im EU-Mitgliedstaat B besessen, wobei offenbleiben kann, ob A und/oder der Frachtführer des EU-Mitgliedstaats B erstmals Besitz hierüber erlangt hat.

45

3. Die Mehrmenge wurde in das deutsche Steuergebiet verbracht. Dies geschah auch zu gewerblichen Zwecken, weil die Ware zum Weiterverkauf außerhalb der EU vorgesehen war. Im deutschen Steuergebiet wurde die Ware auch erstmals in Besitz gehalten.

46

4. Die Klägerin ist Schuldnerin der Tabaksteuer gemäß § 23 Abs. 1 S. 2 TabStG. Danach ist Steuerschuldner, wer die Lieferung vornimmt oder die Tabakwaren in Besitz hält und der Empfänger, sobald er Besitz an den Tabakwaren erlangt hat. Die Klägerin war die Empfängerin auch der Mehrmenge und hat sie gleichzeitig mit den Waren, die dem Steueraussetzungsverfahrens unterlagen, in Besitz genommen.

47

5. Für die Höhe der Steuerschuld wird auf die zutreffende und von der Klägerin nicht bestrittene Berechnung des Beklagten (...) verwiesen.

48

III.

Die Klage ist mit dem Hilfsantrag begründet. Die Ablehnung der beantragten Erstattung ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 101 S. 1 FGO), weil sie einen Anspruch auf Erstattung hat.

49

Anspruchsgrundlage für die Erstattung ist § 32 Abs. 1 S. 1 TabStG. Danach wird die Steuer auf Antrag erlassen oder erstattet, wenn Tabakwaren insbesondere in ein Steuerlager aufgenommen werden.

50

1. Das - neben der unstreitig erfolgten Antragstellung der Klägerin (§ 48 Abs. 3 Tabaksteuerverordnung vom 05.10.2009 [BGBl. I 3262, 3263] - TabStV) - einzige Tatbestandsmerkmal von § 32 Abs. 1 S. 1 TabStG ist erfüllt. Die Mehrmenge wurde wirksam ins Steuerlager der Klägerin aufgenommen, indem sie am 04.05.2012 physisch dort eingelagert und in der Lagerbuchhaltung erfasst wurde (vgl. Art. 16 Abs. 2 Buchst. d SysRL).

51

1.1 Der wirksamen Aufnahme der Mehrmenge im Steuerlager steht nicht entgegen, dass die Mehrmenge mit Bescheid vom 20.06.2012 gemäß § 215 AO i. V. m. § 23 Abs. 1 S. 5 TabStG sichergestellt wurde. Da die Sicherstellung ein Verwaltungsakt ist, wird sie mit Bekanntgabe wirksam (§ 124 Abs. 1 S. 1 AO). Weil die Mehrmenge bereits am 04.05.2012 ins Steuerlager aufgenommen wurde, konnte die Sicherstellung keinen Einfluss auf die Wirksamkeit der Aufnahme haben. Dafür, dass die Sicherstellung hier ausnahmsweise ex tunc-Wirkung entfalten könnte, ist im Gesetz nichts ersichtlich. Der Zweck von § 23 Abs. 1 S. 5 TabStG erschöpft sich vielmehr darin, die in § 215 Abs. 1 AO vorgesehene Ermessensentscheidung in eine gebundene Entscheidung umzuwandeln.

52

1.2 Es steht der Wirksamkeit der Aufnahme der Mehrmenge ins Steuerlager auch nicht entgegen, dass bei Beendigung des Steueraussetzungsverfahrens die Mehrmenge nicht im e-VD gemeldet wurde. Dies könnte möglicherweise eine Unregelmäßigkeit während der Beförderung darstellen. Der Tatbestand des § 32 TabStG bietet jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass dies der Erstattung entgegenstehen könnte. Der Beklagte geht im Übrigen ebenfalls hiervon aus. Im Erörterungstermin hat er sich nämlich auf den Standpunkt gestellt, dass der Tatbestand des § 32 TabStG erfüllt wäre, wenn sich derselbe Sachverhalt, der diesem Rechtsstreit zu Grunde liegt, vollständig im deutschen Steuergebiet zugetragen hätte.

53

1.3 Das Gesetz enthält keine Einschränkung dahingehend, dass Tabakwaren des freien Verkehrs nicht in ein Steuerlager (wieder) aufgenommen werden können. Im Gegenteil können nur derartige Tabakwaren in den Genuss der Erstattung nach § 32 TabStG kommen, weil nur durch Überführung in den freien Verkehr die Steuer, deren Erstattung § 32 TabStG vorsieht, entstehen kann.

54

2. Für die Existenz des vom Beklagten postulierten ungeschriebenen negativen Tatbestandsmerkmals des § 32 TabStG, nach dem es sich nicht um Tabakwaren des freien Verkehrs anderer Mitgliedstaaten im Sinne von § 23 Abs. 1 TabStG handeln dürfe, § 32 TabStG also nur bei innerdeutschen Transporten gelte, gibt es keine ausreichende Stütze im Gesetz. Tabakwaren, für die die Tabak-steuer - wie hier - gemäß § 23 Abs. 1 S. 1 TabStG entstanden ist, sind damit nicht vom Anwendungsbereich des §§ 32 TabStG ausgeschlossen. Im Einzelnen:

55

2.1 Der Wortlaut von § 32 Abs. 1 S. 1 TabStG spricht gegen eine Beschränkung auf bestimmte Tabakwaren. Dort werden nämlich pauschal ohne Voranstellung eines auch nur unbestimmten Artikels "Tabakwaren" genannt. Der Begriff der "Tabakwaren" ist in § 1 Abs. 2 TabStG als Zigarren oder Zigarillos, Zigaretten und Rauchtabak legaldefiniert. Hierbei ist die Herkunft der Ware kein Unterscheidungskriterium. Auch der in § 32 Abs. 1 S. 1 TabStG verwendete Steuerbegriff ist denkbar weit. Dort wird als Gegenstand von Erlass und Erstattung "[d]ie Steuer" bezeichnet. Damit ist offensichtlich die Tabaksteuer gemeint, der gemäß § 1 Abs. 1 S. 1 TabStG Tabakwaren im Steuergebiet unterliegen. Hätten Tabakwaren des steuerrechtlich freien Verkehrs anderer Mitgliedstaaten oder die Tabaksteuer, die gemäß § 23 Abs. 1 S. 1 TabStG entstanden ist, von § 32 Abs. 1 S. 1 TabStG ausgenommen werden sollen, hätte dies zwanglos im Tatbestand der Vorschrift seinen Niederschlag finden können.

56

2.2 Die Systematik des Tabaksteuergesetzes bietet keine Anhaltspunkte für die vom Beklagten vertretene Rechtsauffassung. § 32 TabStG steht im Abschnitt 6 über Steuervergünstigungen. In diesem Abschnitt regeln die §§ 30 f. TabStG Steuerbefreiungen. Der hier einschlägige § 32 TabStG behandelt den Erlass und die Erstattung. Ein Hinweis darauf, dass die Steuer, die nach einer zu den davorliegenden Abschnitten des TabStG gehörenden Norm entstanden ist, nicht von § 32 TabStG erfasst sein kann, ergibt sich aus dieser Strukturierung der Abschnitte gerade nicht. Sie weist vielmehr darauf hin, dass § 32 TabStG unterschiedslos auf sämtliche Tabaksteuerschulden anzuwenden ist, gleichgültig nach welcher Vorschrift der Abschnitte 2-4 sie entstanden ist.

57

Die Existenz der zwingenden Sicherstellungsanordnung in § 23 Abs. 1 S. 5 TabStG spricht auch nicht gegen die Anwendbarkeit von § 32 TabStG auf die Steuerentstehung nach § 23 TabStG. § 23 Abs. 1 S. 5 TabStG dient lediglich der Umsetzung des Ziels, dass der Gesetzgeber mit § 23 TabStG verfolgt. Es liegt - wie schon bei der Vorgängernorm des § 19 TabStG 1993 - darin, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu unterbinden (siehe nur BR-Drs. 651/92, S. 211 zu § 19 TabStG 1993). Hierfür ist es erforderlich (und ausreichend), die Kontrolle über den Lagerort von Tabakwaren des freien Verkehrs anderer Mitgliedstaaten auszuüben. Die Beantwortung der Frage, ob die durch die Verbringung aus anderen Mitgliedstaaten gemäß § 23 Abs. 1 S. 1 TabStG entstandene Steuer zu erstatten ist, hat auf die Erreichung dieses Ziels keinen Einfluss.

58

2.3 Auch die Systematik von § 32 TabStG stützt die Auffassung des Beklagten nicht. § 32 Abs. 2 TabStG, der sich mit Erstattung und Erlass der Tabaksteuer, die durch die Verwendung von Steuerzeichen entrichtet wurde, befasst, lässt sich nicht entnehmen, dass § 32 Abs. 1 TabStG nur für die Steuern gilt, die durch Verwendung von Steuerzeichen im Sinne von § 17 Abs. 1 TabStG entrichtet werden. § 32 Abs. 2 TabStG ist vielmehr so zu lesen, dass er für den Fall gilt, dass die Steuer durch die Verwendung von Steuerzeichen entrichtet wurde. Dies ergibt sich aus der Gesetzgebungsgeschichte von § 32 TabStG. Bereits in § 13 TabStG 1980 (BGBl I. 1979, 2118) - einer Vorgängernorm von § 32 TabStG - wurde die Erstattungsmöglichkeit, die bis dahin nur für durch Steuerzeichenverwendung versteuerte Tabakwaren vorgesehen war, ausdrücklich auf anders versteuerte Tabakwaren ausgedehnt (BT-Drs. 8/3114, 14; hierzu auch Caspers/Dittrich, Das neue Tabaksteuerrecht, 3. Fortsetzung, ZfZ 1980, 205, 206; wohl a. A. ohne weitere Begründung Schröer-Schallenberg in Bongartz/dies., Verbrauchsteuerrecht, 2. Aufl. 2011, Rn. K 111). In § 48 Abs. 3 TabStV wird dies ausdrücklich anerkannt. Von § 32 TabStG erfasst sind damit auch Steuerschulden, die etwa nach Abgabe einer Steuererklärung (§ 23 Abs. 1 S. 3 TabStG) durch Geldzahlung zu begleichen sind.

59

2.4 Der Sinn und Zweck von § 32 TabStG spricht gegen eine Beschränkung seines Anwendungsbereichs. Durch die Erstattungsmöglichkeit der Steuer nach Aufnahme der versteuerten Waren in das Steuerlager soll vermieden werden, dass der Hersteller oder der Einführer auch dann mit der Tabaksteuer belastet bleibt, wenn seine Erzeugnisse dem Verbraucher nicht zugeführt werden (so bereits Schröter, Das Tabaksteuergesetz, 1956, Anmerkung 1 zu § 79 TabStG a. F.). Diese Ratio des § 32 TabStG bietet keinen Anhaltspunkt dafür, nach dem Grund der Steuerentstehung - §§ 15 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2, 17, 21 Abs. 1 TabStG einerseits und 23 Abs. 1 TabStG andererseits - zu differenzieren.

60

2.5 Den einzigen normativen Anknüpfungspunkt für die vom Beklagten vertretene Auffassung bietet die Gesetzgebungsgeschichte zu § 22 TabStG 1993 - der Vorgängervorschrift von § 32 TabStG, die dieser Norm entspricht (BR-Drs. 169/09, S. 145). Dort heißt es, dass eine Umsetzung des Art. 11 Abs. 1 SysRL entsprechenden Art. 22 RL 92/12/EWG, der es den Mitgliedstaaten erlaubt, für verbrauchsteuerpflichtige Waren des freien Verkehrs eine Erstattung vorzusehen, "wegen der Besonderheit des Besteuerungsverfahrens [...] nicht erforderlich" sei. Hieraus folgt zunächst nur, dass der Gesetzgeber bei der Umsetzung der Richtlinie 92/12/EWG von der Ermächtigung in Art. 22 dieser Richtlinie keinen Gebrauch gemacht hat. Keine Aussage hat der Gesetzgeber allerdings darüber getroffen, was nach dem geltenden (deutschen) Tabaksteuerrecht möglich ist. Seine Formulierung weist vielmehr darauf hin, dass er, weil der Handel mit Tabakwaren des steuerrechtlich freien Verkehrs ohnehin unzulässig ist, eine Situation, in der es zu einem Erstattungsbegehren kommen kann, nicht für möglich hielt. Dabei hätte er allerdings nicht die auch hier vorliegende Konstellation bedacht, dass ein Wirtschaftsbeteiligter weder eine Überführung in den freien Verkehr eines anderen Mitgliedstaats - hier: B - noch eine Besitzerlangung im Steuergebiet außerhalb eines Steueraussetzungsverfahrens beabsichtigt. Was in einer solchen Situation zu geschehen hat, muss sich aus der Auslegung des geschriebenen Rechts ergeben.

61

Selbst wenn man diese Gesetzgebungsgeschichte so verstehen müsste, dass der Gesetzgeber seinerzeit davon ausging, dass im Falle des § 19 TabStG 1993 eine Erstattung der hier in Rede stehenden Konstellation nicht möglich wäre, wäre dies unbeachtlich, weil - wie dargelegt - sich dies aus dem Gesetz selbst nicht ergibt.

62

2.6 Aus der Entscheidung des Bundesfinanzhofs vom 30.03.2015 (VII B 30/14), auf die der Beklagte sich bezogen hat, folgt nicht, dass § 32 TabStG auf den vorliegenden Fall unanwendbar ist. In jenem Verfahren ging es nämlich um den Diebstahl von Zigaretten. Für einen solchen Fall sieht das Gesetz aus gutem Grund keinen Entlastungstatbestand vor. Beim Diebstahl von Zigaretten werden die Zigaretten nämlich typischerweise verbraucht. Erhielte der Bestohlene eine Erstattung, würde der Verbrauch im Ergebnis nicht besteuert. Der Hinweis des Bundesfinanzhofs, dass bei Vernichtung der Ware ebenfalls kein Entlastungsanspruch bestünde (Rn. 10 des Urteils bei juris), führt im vorliegenden Fall nicht weiter, weil es - anders als bei der Aufnahme in ein Steuerlager - für diesen Fall keinen gesetzlichen Entlastungstatbestand gibt, wenn die Vernichtung nicht unter Steueraufsicht erfolgt (§ 30 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. d TabStG).

63

2.7 Selbst wenn sich aus dem Tabaksteuergesetz die vom Beklagten postulierte Beschränkung des Anwendungsbereichs von § 32 TabStG auf rein nationale Sachverhalte ergeben sollte - quod non -, verböte das EU-Recht ein solches Normverständnis. Diese Auslegung von § 32 TabStG verstieße nämlich gegen EU-rechtliche Diskriminierungsverbote (dazu 2.7.1). Die Rechtsfolge hiervon wäre eine unionsrechtskonforme Auslegung der Norm (dazu 2.7.2).

64

2.7.1 Die Beschränkung des Anwendungsbereichs von § 32 TabStG verstößt gegen EU-Recht.

65

2.7.1.1 Die Beschränkung des Anwendungsbereichs von § 32 TabStG verstößt gegen das Diskriminierungsverbot aus Art. 9 Abs. 2 S. 2 SysRL. Danach wenden die Mitgliedstaaten insbesondere im Hinblick auf Erstattung und Erlass der Verbrauchsteuern auf im Inland hergestellte Waren und auf Waren mit Herkunft aus anderen Mitgliedstaaten dieselben Verfahren an.

66

Nach dem Normverständnis des Beklagten gilt § 32 TabStG nicht für Tabakwaren des freien Verkehrs anderer Mitgliedstaaten im Sinne von § 23 Abs. 1 TabStG. Die Erstattungsmöglichkeit ist also von vornherein auf Waren beschränkt, die im deutschen Steuergebiet in den freien Verkehr überführt wurden. Die Differenzierung nach diesem Kriterium ist von Art. 9 Abs. 2 S. 2 SysRL erfasst. Zwar werden als Vergleichspaar dort im Inland hergestellte Waren und Waren mit Herkunft aus anderen Mitgliedstaaten genannt. Im Lichte des Zwecks der Verbrauchsteuer-Systemrichtlinie, das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes zu gewährleisten (2. Erwägungsgrund der Richtlinie), muss das Vergleichspaar jedoch in einem erweiterten Sinne verstanden werden. Wie genau dies zu erfolgen hat, ergibt sich aus dem 10. Erwägungsgrund der Verbrauch-steuer-Systemrichtlinie. Danach sollte sich insbesondere die Erstattung von Steuern nach nichtdiskriminierenden Kriterien richten, da sich das Verfahren für die Erstattung auf das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes auswirkt. Art. 9 Abs. 2 S. 2 SysRL ist also immer dann betroffen, wenn nach der Herkunft der Ware (Produktionsort oder der Ort, an dem die Ware in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt wurde) oder dem Ort, an dem sich ein erstattungsrelevanter Sachverhalte zuträgt, differenziert wird.

67

Die vom Beklagten vertretene Auslegung von § 32 TabStG führt dazu, dass auf Waren des freien Verkehrs anderer Mitgliedstaaten und auf Waren, die innerhalb des deutschen Steuergebiets in den freien Verkehr überführt wurden, nicht dieselben Verfahren angewendet werden.

68

Art. 11 Abs. 1 SysRL steht einem Verstoß gegen Art. 9 Abs. 2 S. 2 SysRL nicht entgegen. Zwar überlasst er es den Mitgliedstaaten, die Situationen festzulegen, für die eine Erstattung von Verbrauchsteuern für in den steuerrechtlich freien Verkehr überführte verbrauchsteuerpflichtige Waren in Betracht kommt. Art. 11 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 2 S. 2 SysRL haben jedoch unterschiedliche Zielrichtungen. Art. 11 Abs. 1 SysRL stellt in erster Linie klar, dass die Mitgliedstaaten überhaupt Erstattungstatbestände schaffen dürfen, ohne hierdurch gegen das EU-rechtliche Beihilfeverbot zu verstoßen. Falls sie sich entscheiden, solche Tatbestände zu schaffen, müssen diese nichtdiskriminierend im Sinne von Art. 9 Abs. 2 S. 2 SysRL angewandt werden.

69

Rechtfertigungsgründe für diese De jure-Diskriminierung auf der Grundlage der Herkunft der Ware sind nicht ersichtlich. Selbst wenn man die Rechtfertigungsgründe der Warenverkehrsfreiheit (siehe unten 2.7.1.3) auf Art. 9 Abs. 2 S. 2 SysRL überträgt, und die Durchsetzung des sekundärrechtlich erlaubten Verbots des grenzüberschreitenden Handels mit Zigaretten des freien Verkehrs anderer Mitgliedstaaten ohne deutsche Steuerzeichen als Aspekt der wirksamen steuerlichen Kontrolle grundsätzlich als zwingenden Grund des Allgemeinwohls anerkennt (vgl. Englisch, Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote im direkten Steuerrecht, in: Schaumburg/ders. [Hrsg.], Europäisches Steuerrecht, 2015, Rn. 7.289), wäre der Ausschluss von der Entlastungsmöglichkeit des § 32 TabStG in der hier vorliegenden Konstellation nicht verhältnismäßig. Waren des steuerrechtlich freien Verkehrs anderer Mitgliedstaaten vom Anwendungsbereich des § 32 TabStG auszuschließen, ist schon nicht geeignet, das hinter § 23 Abs. 1 TabStG stehende Verbot durchzusetzen, weil bei dem hier in Rede stehenden Fall niemals die Absicht bestand, die Waren in den steuerrechtlich freien Verkehr zu überführen, sondern dies die Folge eines Arbeitsfehlers war. Sieht man in der Versagung der Entlastungsmöglichkeit nach § 32 TabStG einen Anreiz, derartige Arbeitsfehler zu vermeiden, wäre sie jedenfalls nicht zumutbar, weil hierdurch einerseits die steuerlichen Risiken beim innerunionalen Transport von Tabakwaren im Steueraussetzungsverfahren massiv ansteigen und andererseits der Zollverwaltung mit der zwingenden Sicherstellungsanordnung nach § 23 Abs. 1 S. 5 TabStG i. V. m. § 215 AO ein wirksames Mittel zur Verfügung steht, Waren im Sinne von § 23 TabStG zu kontrollieren.

70

2.7.1.2 Selbst wenn Art. 9 Abs. 2 S. 2 SysRL nicht anwendbar sein sollte, verstößt die Beschränkung des Anwendungsbereichs von § 32 TabStG gegen das steuerliche Diskriminierungsverbot in Art. 110 Abs. 1 AEUV. Danach erheben die Mitgliedstaaten auf Waren aus anderen Mitgliedstaaten weder unmittelbar noch mittelbar höhere inländische Abgaben gleich welcher Art, als gleichartige inländische Waren unmittelbar oder mittelbar zu tragen haben.

71

Bei der vom Beklagten vertretenen Auslegung von § 32 TabStG würde die Bundesrepublik Deutschland mittelbar auf Waren aus anderen Mitgliedstaaten höhere inländische Abgaben - hier: Tabaksteuern - erheben als auf inländische Waren. Wie oben bei Art. 9 Abs. 2 S. 2 SysRL (dazu 2.7.1.1) kommt es beim Vergleichspaar nicht auf den Herstellungsort der Ware an, sondern darauf, aus welchen Mitgliedstaat die Ware versandt wird, weil auch Art. 110 Abs. 1 AEUV als Instrument negativer Integration dem Schutz des Binnenmarktes dient (Seiler in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union 43. EL März 2011, Art. 110 AEUV Rn. 11).

72

Zwar geht es vorliegend nicht um die Erhebung einer Abgabe. Im Rahmen von Art. 110 Abs. 1 AEUV ist jedoch eine Gesamtschau aller auf einen bestimmten Sachverhalt anwendbaren Be- und Entlastungen vorzunehmen. Der EuGH hat hierzu ausgeführt (Urt. v. 12.02.2015, C-349/13, ECLI:EU:C:2015:84, Rn. 46 - Oil Trading Poland [Hervorhebung hinzugefügt]):

73

Nach ständiger Rechtsprechung kann ein Steuersystem eines Mitgliedstaats nur dann als mit Art. 110 AEUV vereinbar angesehen werden, wenn feststeht, dass seine Ausgestaltung es unter allen Umständen ausschließt, dass eingeführte Waren höher besteuert werden als einheimische Waren, und dass es daher auf keinen Fall diskriminierende Wirkungen hat [...].

74

Auch im Verfahren C-76/14 hat der EuGH (Urt. v. 14.04.2015, ECLI:EU:C:2015:216 - Manea) eine Gesamtschau vorgenommen zwischen einer zu zahlenden Steuer und einem Befreiungstatbestand für die Zahlung dieser Steuer, der nur unter bestimmten Umständen griff (siehe auch Reimer, Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote im direkten Steuerrecht, in Schaumburg/Englisch [Hrsg.], Europäisches Steuerrecht, 2015, Rn. 7.158, der eine Ungleichbehandlung insbesondere annimmt, wenn ein Steuerpflichtiger einen geringeren Erstattungsanspruch hat als der Vergleichspartner).

75

Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass es darauf ankommt, ob der Saldo der zu erhebenden Tabaksteuer und der zwingenden Erstattungstatbestände in der hier in Rede stehenden Konstellation größer ist, als er bei einem rein nationalen Sachverhalt wäre. Dies ist der Fall, weil vorliegend die Tabaksteuer nicht erstattet werden würde, während der Beklagte in der Konstellation, in der die Mehrmenge zwischen zwei im Steuergebiet gelegenen Steuerlagern aufgetreten wäre, also keine Waren des freien Verkehrs eines anderen Mitgliedstaats vorhanden wären, zwingend die entstandene Steuer gemäß § 32 TabStG erstatten würde. Damit würde die Bundesrepublik Deutschland auf Waren des freien Verkehrs anderer Mitgliedstaaten mittelbar höhere Abgaben erheben als gleichartige inländische Waren mittelbar zu tragen hätten.

76

Rechtfertigungsgründe für diese Diskriminierung sind auch im Rahmen von Art. 110 AEUV nicht ersichtlich (siehe oben 2.7.1.1).

77

2.7.1.3 Selbst wenn Art. 110 Abs. 1 AEUV, der gegenüber der Warenverkehrsfreiheit Lex speciales ist (Seiler a. a. O. Rn. 4 m. w. N.), nicht anwendbar sein sollte, verstößt die ungeschriebene Beschränkung des Anwendungsbereichs von § 32 TabStG gegen die Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 34 AEUV. Die Beschränkung des Anwendungsbereichs von § 32 TabStG stellt eine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung im Sinne von Art. 34 AEUV dar. Nach der Rechtsprechung des EuGH sind solche Maßnahmen eines Mitgliedstaats als Maßnahmen gleicher Wirkung zu betrachten, "mit denen ... bewirkt wird, Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten weniger günstig zu behandeln" als nationale Erzeugnisse (EuGH, Urt. v. 10.02.2009, C-110/05, ECLI:EU:C:2009:66, Rn. 37 - Kommission/Italien). Ebenfalls hierunter fällt jede sonstige Maßnahme, die den Zugang zum Markt eines Mitgliedstaats für Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten behindert (a. a. O.).

78

Vergleichspaar der Ungleichbehandlung sind hier - wie oben (2.7.1.1 und 2.7.1.2) -Tabakwaren des steuerrechtlich freien Verkehrs anderer Mitgliedstaaten einerseits und alle sonstigen Tabakwaren, die im Steuergebiet in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt wurden, andererseits.

79

Die Ungleichbehandlung liegt darin, dass Tabakwaren im Sinne von § 23 TabStG nie von der Erstattungsmöglichkeit des § 32 TabStG profitieren können, während die Erstattung für Mehrmengen, die innerhalb Deutschlands versandt und in ein Steuerlager aufgenommen werden, zwingend vorgesehen ist. Damit werden die von § 23 TabStG erfassten Tabakwaren weniger günstig behandelt, weil ihnen die in § 32 TabStG genannte Entlastungsmöglichkeit verwehrt wird. Dies hat auch Auswirkungen auf den Marktzugang, weil - wie der vorliegende Fall zeigt - Fehler bei der grenzüberschreitenden Versendung im Rahmen eines Steueraussetzungsverfahrens zur Steuerentstehung führen, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können. In Anbetracht der Höhe der Steuern und des formalisierten Ablaufs des Steueraussetzungsverfahrens stellt dies einen erheblichen Nachteil für die grenzüberschreitende Versendung von Tabakwaren dar, der Wirtschaftsbeteiligte in den anderen Mitgliedstaaten davon abhalten kann, Tabakwaren im Steueraussetzungsverfahren ins deutsche Steuergebiet zu versenden.

80

Es steht der Qualifizierung von § 32 TabStG, wie der Beklagte ihn versteht, als Maßnahme gleicher Wirkung nicht entgegen, dass die Tabakwaren, um die es hier geht, nicht für den Verkauf in der Bundesrepublik Deutschland vorgesehen waren. Der Markt, dessen Zutritt durch die vom Beklagten vertretene Auslegung von § 32 TabStG beschränkt wird, ist der des Tabakwarengroßhandels, bei dem - wie auch im vorliegenden Fall - die Tabakwaren im Steueraussetzungsverfahren ins deutsche Steuergebiet verbracht werden, um sodann in andere Mitgliedstaaten verbracht oder in Drittstaaten ausgeführt zu werden.

81

Die Anwendbarkeit von Art. 34 AEUV ist nicht durch die Verbrauchsteuer-Systemrichtlinie ausgeschlossen. Dort findet sich in Art. 11 die Ermächtigung der Mitgliedstaaten, die Verbrauchsteuern für in den steuerrechtlich freien Verkehr überführte verbrauchsteuerpflichtige Waren zu erstatten oder zu erlassen. Damit sind die Mitgliedstaaten einerseits nicht verpflichtet, derartige Vorschriften vorzusehen. Der Bezugspunkt der hier im Raum stehenden Diskriminierung ist jedoch ein anderer. Es geht vorliegend nicht darum, dass die Bundesrepublik Deutschland gegen Art. 11 SysRL verstoßen hat, sondern um den Umstand, dass sie für eine Warengruppe Erstattungsvorschriften vorsieht, deren Inanspruchnahme sie für eine andere Warengruppe, nämlich die Tabakwaren des freien Verkehrs anderer Mitgliedstaaten, ausschließt. Es lässt sich der Verbrauchsteuer-Systemrichtlinie nicht entnehmen, dass eine derartige Diskriminierung sekundärrechtlich erlaubt wäre.

82

Rechtfertigungsgründe sind für die Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit - wie oben (2.7.1.1) dargestellt - nicht ersichtlich.

83

2.7.2 Die Rechtsfolge des soeben dargelegten Verstoßes von § 32 TabStG in der vom Beklagten vertretenen Auslegung gegen EU-Recht ist nicht die Unanwendbarkeit der Norm. Da § 32 TabStG zwanglos ohne das vom Beklagten postulierte ungeschriebene negative Tatbestandsmerkmal "Keine Tabakwaren des freien Verkehrs anderer Mitgliedstaaten" angewandt werden kann, ist im Wege der unionsrechtskonformen Auslegung (hierzu EuGH, Urt. v. 28.01.2016, ECLI:EU:C:2016:62, C-64/16, Rn. 41 - BP Europe SE) von § 32 TabStG dieses negative Tatbestandsmerkmal nicht anzuwenden. Es bleibt damit beim oben (1.) gefundenen Ergebnis, dass der Tatbestand von § 32 Abs. 1 S. 1 TabStG erfüllt ist.

84

3. Als Rechtsfolge sieht § 32 Abs. 1 TabStG vor, dass die mit Bescheid vom 29.06.2012 festgesetzten Tabaksteuer zwingend zu erstatten ist.

85

IV.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 136 Abs. 1 S. 1 FGO, der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit aus § 151 Abs. 1, Abs. 3 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 S. 1 ZPO.

86

Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen, weil höchstrichterliche Rechtsprechung zum Anwendungsbereich von § 32 TabStG bislang fehlt.

Verwandte Urteile

Keine verwandten Inhalte vorhanden.

Referenzen