Urteil vom Finanzgericht Köln - 10 K 378/06
Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 8. Juli 2005 und der Einspruchsentscheidung vom 10. Januar 2006 verpflichtet, das Kindergeld für das Kind B für die Monate Januar bis April 2005 zu gewähren.
Die Kosten des Verfahrens bis zur mündlichen Verhandlung hat der Kläger zu 12/16 und die Beklagte zu 4/16 zu tragen, die ab der mündlichen Verhandlung entstandenen Kosten hat die Beklagte zu tragen.
Das Urteil ist wegen der Kostenentscheidung ohne Sicherheitsleistung vorläu-fig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleis-tung oder Hinterlegung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs des Klägers abwenden, soweit nicht der Kläger zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Die Revision wird zugelassen.
1
Tatbestand
2Die Beteiligten streiten nach Rücknahme der Klage für die Monate Januar bis Dezember 2004 jetzt noch darüber, ob die Bestandskraft einer Erstablehnung die Festsetzung von Kindergeld für die Monate Januar bis April 2005 hindert.
3Der Kläger hatte im Dezember 2003 Kindergeld für seine im Oktober 1983 geborene Tochter B beantragt, die seit September 2002 eine Ausbildung als Industriekauffrau absolvierte. Die Einnahmen von B ermittelte die Beklagte im Rahmen der Prognoseentscheidung mit 10.554 EUR, die Werbungskosten mit 2.046 EUR (Kindergeld-Akte, Bl 95). Die Kindergeldfestsetzung wurde deshalb mit Bescheid vom 12. Februar 2004 abgelehnt, weil die Einkünfte und Bezüge von B nach der damaligen Ansicht der Beklagten, nach der die Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung unberücksichtigt blieben, den Jahresgrenzbetrag für das Jahr 2004 (7.680 EUR) überschritten.
4Im Januar 2005 beantragte der Kläger erneut Kindergeld für B unter Angabe weiterer Werbungskosten, u. a. der Teilnahme an einer Arbeitsgemeinschaft in Neuss und bei teilweise überhöhten Km-Angaben (Kindergeld-Akte, Bl 99). Der Beklagte legte im Rahmen der aufwändigen Ermittlung der Einkünfte des Jahres 2004 Einnahmen von 10.553 EUR zugrunde und erkannte Werbungskosten von 2.540 EUR an, so dass sich Einkünfte und Bezüge von 8.014 EUR ergaben (Kindergeld-Akte, Bl 239). Mit Bescheid vom 25. April 2005 wurde deshalb auch der erneute Kindergeldantrag des Klägers ab Januar 2004 abgelehnt. Der Bescheid wurde nicht angefochten.
5Mit Schreiben vom 24. Juni 2005 beantragte der Kläger unter Hinweis auf den zwischenzeitlich bekannt gemachten BVerfG-Beschluss vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02 (BVerfGE 2005, 164, DStR 2005, 911, BFH/NV 2005 <Beilage>, 260) die Überprüfung des Ablehnungsbescheids. Unter Hinweis auf die bestandskräftige Erstablehnung vom 25. April 2005 gewährte die Beklagte daraufhin das Kindergeld nur für die Monate ab Mai 2005; für die Monate Januar 2004 bis einschließlich April 2005 wurde die Kindergeldfestsetzung mit dem vorliegend angefochtenen Bescheid vom 8. Juli 2005 abgelehnt (Kindergeld-Akte, Bl 251).
6Der Einspruch blieb ohne Erfolg. Zur Begründung führte die Beklagte in der Einspruchsentscheidung vom 10. Januar 2006 unter Hinweis auf die BFH-Urteile vom 25. Juli 2001 VI R 78/98 (BFHE 196, 253, BStBl II 2002, 88) und VI R 164/98 sowie die die bestandskräftige Erstablehnung vom 25. April 2005 aus: Der bestandskräftige Ablehnungsbescheid entfalte Bindungswirkung bis zum Ende des Monats seiner Bekanntgabe. Auch eine Korrektur nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 bzw. § 70 Abs. 4 EStG scheide aus, weil es sich bei der geänderten Rechtsprechung zur Berücksichtigung von Sozialversicherungsabgaben nicht um einen nachträglich bekannt gewordenen Sachverhalt handle.
7Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 8. Juli 2005 und der Einspruchsentscheidung vom 10. Januar 2006 zu verpflichten, das Kindergeld für das Kind B für die Monate Januar bis April 2005 zu gewähren.
8Die Beklagte beantragt, das Ruhen des Verfahrens bis zur Entscheidung des BFH in der Sache III R 13/06 anzuordnen, hilfsweise die Klage abzuweisen.
9Die Beklagte ist der Ansicht, eine rückwirkende Kindergeldfestsetzung sei nur bis zu dem auf den Monate der Bekanntgabe des Erstbescheids folgenden Monat zulässig. Eine Korrektur der bestandskräftigen Entscheidung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 komme nicht in Betracht. Denn diese Vorschrift erfasse nicht solche Tatsachen, die erst nach einer Rechtsprechungsänderung relevant würden.
10In der mündlichen Verhandlung wurde das Verfahren betreffend die Monate Januar bis Dezember 2004 zur gesonderten Entscheidung abgetrennt. Anschließend nahm der Kläger die Klage für diese Monate zurück.
11Entscheidungsgründe
12Die Klage ist in dem verbleibenden Umfang begründet.
131. Eine Verfahrensaussetzung bis zum Abschluss des beim BFH anhängigen Verfahrens III R 13/06 kommt nicht in Betracht.
14a) Nach § 74 FGO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde auszusetzen sei.
15b) Auch im Falle Vorgreiflichkeit der "anderen" Entscheidung bleibt die Entscheidung über die Aussetzung des Verfahrens eine Ermessensentscheidung. Bei der Ausübung seines Ermessens hat das FG prozessökonomische Gesichtspunkte einerseits und die Interessen der Beteiligten andererseits gegeneinander abzuwägen (BFH-Beschlüsse vom 28. Februar 2001 I R 41/99, DB 2001,1074, vom 18. September 2002 XI B 126/01, BFH/NV 2003, 189, vom 4. April 2003 V B 199/02, BFH/NV 2003, 1081; BFH-Urteil vom 7. Juli 1998 VIII R 84/96 BFH/NV, 1999, 318).
16c) So ist das FG nicht verpflichtet, das Verfahren nach § 74 FGO auszusetzen, wenn ein Musterverfahren nicht beim BVerfG, sondern beim BFH anhängig ist (BFH-Beschluss vom 18. September 2002 XI B 126/01, BFH/NV 2003, 189). Dies gilt insbesondere dann, wenn das FG keine Zweifel am Ausgang des Verfahrens beim BFH hat, etwa weil ähnliche Rechtsfragen bereits entschieden worden sind (vgl. BFH-Beschlüsse vom 2. September 2005 XI B 224/04, BFH/NV 2006, 556 vom 18. September 2002 XI B 126/01, BFH/NV 2003, 189). Im Streitfall ergibt sich die Beantwortung der Rechtsfrage, in wieweit eine bestandskräftige Erstablehnung von Kindergeld im Zuge einer Prognoseentscheidung der Kindergeld-Festsetzung aufgrund eines erneuten Antrags nach Abschluss des Jahres entgegensteht, nach Auffassung des erkennenden Senats bereits aus der bestehenden Rechtsprechung des VI. und des VIII. Senat des BFH (vgl. unten 3.)
172. Dem Kläger stand auch das Kindergeld für die Monate Januar bis April 2005 zu, weil der maßgebliche Jahresgrenzbetrag nicht überschritten war.
18a) Nach §§ 62 Abs. 1, 63 Abs. 1 Satz 2, 67 EStG i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG wird ein Kind, das das 18., aber noch nicht das 27. Lebensjahr vollendet hat, unter anderem beim Kindergeldberechtigten auf Antrag berücksichtigt, wenn es für einen Beruf ausgebildet wird (Buchst. a) und wenn es Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von nicht mehr als 7.680 EUR im Kalenderjahr hat (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG). Für jeden Kalendermonat, in dem die Voraussetzungen nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG an keinem Tag vorliegen, ermäßigt sich der Grenzbetrag um 1/12 (§ 32 Abs. 4 Satz 7 EStG). Einkünfte und Bezüge des Kindes, die auf diese Kalendermonate entfallen, bleiben außer Ansatz (§ 32 Abs. 4 Satz 8 EStG).
19b) Im Streitfall lagen diese Voraussetzungen auch während der Monate Januar bis April 2005 unstreitig vor. Das Kind befand sich während dieser Zeit in Berufsausbildung. Die Einkünfte und Bezüge des Kindes überschritten den maßgeblichen (anteiligen) Jahresgrenzbetrag unter der nach dem BVerfG-Beschluss vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02 (DStR 2005, 911, BFH/NV 2005 <Beilage>, 260) gebotenen Berücksichtigung der Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung nicht.
203. Die Beklagte war auch durch die Bestandskraft des Ablehnungsbescheids vom 25. April 2005 nicht gehindert, das Kindergeld für die noch streitbefangenen Januar bis April 2005 Mo8nate zu gewähren.
21a) Nach § 70 Abs. 4 EStG ist eine Kindergeldfestsetzung aufzuheben oder zu ändern, wenn nachträglich bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 EStG über- oder unterschreiten.
22b) Mit der Einführung des § 70 Abs. 4 EStG durch Art. 1 Nr. 21 i.V.m. Art. 8 Abs. 1 des Zweiten Gesetzes zur Familienförderung vom 16. August 2001 (BGBl I 2001, 2074, BStBl I 2001, 533) sollte sichergestellt werden, dass die Festsetzung von Kindergeld für ein volljähriges Kind nach Ablauf des Kalenderjahres korrigiert werden kann, wenn die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Jahresgrenzbetrag entgegen einer früheren Prognose der Familienkasse überschreiten oder entgegen der Prognose nicht überschreiten (BT-Drucks 14/6160, S. 14). Die Korrekturmöglichkeit trägt dem Umstand Rechnung, dass das Kindergeld als Steuervergütung bereits im Laufe des Kalenderjahres monatlich gezahlt wird, obwohl der Gesetzgeber sich mit der Festlegung des Grenzbetrags, den die Einkünfte und Bezüge eines Kindes nicht übersteigen dürfen, für einen Jahres- und nicht für einen Monatsgrenzbetrag entschieden hat, sodass das Bestehen oder Nichtbestehen des Kindergeldanspruchs materiellrechtlich letztlich erst nach Ablauf des Jahres feststeht. Demgegenüber ist vor Ablauf des Kalenderjahres nur eine mehr oder weniger sichere Prognose möglich, nach der die Familienkasse die Entscheidung über die Gewährung oder Nichtgewährung des Kindergeldes für das noch laufende Kalenderjahr trifft (BFH-Urteil vom 15. Dezember 2005 III R 82/04, BFH/NV 2006, 1008).
23b) Die gesetzliche Konzeption der monatlichen Vorauszahlung des Kindergelds als Steuervergütung bereits zu einem Zeitpunkt, in welchem die Höhe der Einkünfte und Bezüge in aller Regel noch nicht abschließend feststeht, macht es erforderlich, Kindergeldfestsetzungen wieder aufheben oder ändern zu können, die vor Beginn oder während eines Kalenderjahres erlassen worden sind, wenn abzusehen ist oder bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Jahresgrenzbetrag entgegen der Prognose überschreiten bzw. nicht überschreiten (BFH-Urteile vom 30. November 2004 VIII R 6/03, BFH/NV 2005, 890 m.w.N.; vom 26. Juli 2001 VI R 55/00, BFHE 196, 270 , BStBl II 2002, 86, in denen die Änderungsgrundlage selbst sogar offen gelassen worden ist). Denn für die Berücksichtigung eines Kindes i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG kommt es nicht auf die voraussichtliche, sondern auf die tatsächliche Höhe der Einkünfte und Bezüge des Kindes an. Dies gebietet nach Auffassung des erkennenden Senats eine Auslegung des Tatbestandsmerkmals "nachträglich bekannt" in § 70 Abs. 4 EStG dahin, dass die tatsächliche Höhe der Einkünfte und Bezüge - von besonderen Ausnahmefällen abgesehen - gegenüber der Prognoseentscheidung immer "nachträglich bekannt" wird. Damit eröffnet § 70 Abs. 4 EStG stets eine Berichtigungsmöglichkeit, soweit die abschließende Überprüfung nach Ablauf des Jahres ein Unter- oder Überschreiten des Grenzbetrages abweichend von der Prognoseentscheidung ergibt, und zwar auch dann, wenn die Korrektur - wie im Streitfall - auf einer geänderten Rechtsauffassung beruht, etwa wenn die Familienkasse bei der Prognoseentscheidung voraussichtliche Werbungskosten berücksichtigt, die sie bei abschließender Prüfung dann doch nicht als Werbungskosten anerkennt (BFH-Urteile vom 26. Juli 2001, VI R 55/00, BFHE 196, 270, BStBl II 2002, 86 vom 30. November 2004 VIII R 6/03, BFH/NV 2005, 890). Entsprechendes muss auch für den umgekehrten Fall gelten, dass bestimmte Aufwendungen im Rahmen der Prognoseentscheidung als nicht abzugsfähig behandelt wurden, was sich nachträglich als rechtlich unzutreffend herausstellt. Insofern tragen derartige Prognoseentscheidungen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht den Charakter der Vorläufigkeit in sich (ebenso FG Düsseldorf, Urteil vom 12. Januar 2006 14 K 4078/05 Kg, zur Veröffentlichung bestimmt). Der dem entgegenstehenden Ansicht der Familienkasse folgt der Senat nicht, weil deren Auslegung des Tatbestandsmerkmals "nachträglich bekannt" auf einer Verkennung der Sachgesetzlichkeiten des Kindergeldrechts beruht.
24Danach war im Streitfall die Gewährung des Kindergelds auch für die Monate Januar bis April 2005 geboten. Denn bei der Überprüfung des auf einer Prognoseentscheidung beruhenden des Ablehnungsbescheids vom 25. April 2005 nach Abschluss des Kalenderjahres 2005 (EE vom 10. Januar 2006, Kindergeld-Akte, Bl 258) hat sich herausgestellt, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes unter Berücksichtigung der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge den maßgeblichen Grenzbetrag unterschreiten (vgl. dazu BVerfG-Beschluss vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02, DStR 2005, 911, BFH/NV 2005 <Beilage>, 260).
254. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 151 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
265. Die Revision war zuzulassen, weil die aufgeworfene Rechtsfrage eine Vielzahl beim FG anhängiger Verfahren betrifft.
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