Urteil vom Finanzgericht Köln - 1 K 1007/06
Tenor
Die Beklagte wird, unter Aufhebung der Ablehnungsbescheide vom 17.9.2004 und vom 30.9.2005 sowie der Einspruchsentscheidung vom 1. Februar 2006, verpflichtet Kindergeld für das Kind T für den Zeitraum Januar 2004 bis September 2004 zu gewähren.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung gegen Sicherheitsleistung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs des Klägers vorläufig vollstreckbar.
1
Tatbestand
2Der Kläger ist Vater des am 08.09.1985 geborenen Sohnes T.
3T befand sich im Jahr 2004 durchgehend in der Ausbildung zum Energieelektroniker. Er erzielte im Jahr 2004 eine Ausbildungsvergütung i.H.v. 9.655,31 € einschließlich diverser Sonderzuwendungen; daneben erhielt er pauschalbesteuerte Arbeitgeberleistungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitstätte i.H.v. 281,05 €. Die Werbungskosten zu den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit betrugen mindestens 1.655,50 €; der Arbeitnehmeranteil zum Gesamtsozialversicherungsbeitrag betrug 2.002,59 €.
4Am 9. August 2004 stellte der Kläger einen Antrag auf Kindergeld für T. Dem Antrag war eine am 26.5.2004 ausgestellte Ausbildungsbescheinigung beigefügt, aus welcher sich monatliche Einnahmen für Januar und Februar i.H.v. jeweils 683,62 €, für März bis August i.H.v. jeweils 693,87€ und für September bis Dezember i.H.v. jeweils 742,75 € ergeben; enthalten war außerdem der Hinweis zu Urlaubs- und Weihnachtsgeld sei keine Angabe im Voraus möglich, da die Bezüge erst bei Inanspruchnahme ermittelt würden. Ferner war dem Antrag eine Erklärung zu den Werbungskosten des Sohnes 2004 beigefügt. Diese enthielt folgende Angaben: Der Sohn fahre an 161 Tagen mit dem PKW zur 18 Kilometer entfernten Ausbildungsstätte; er werde im Jahr 2004 Aufwendungen für Arbeitsmittel in Höhe von ca. 500,- € und Aufwendungen für Kontoführungsgebühren i.H.v. 16 € tätigen und fahre zweimal wöchentlich -also an 64 Tagen- mit dem PKW zur 8 Kilometer entfernten Berufschule. An 40 Tagen werde er wegen der Besuche der Berufsschule mehr als acht Stunden von Wohnung und Ausbildungsstelle abwesend sein.
5Die Beklagte traf daraufhin am 16.9.2004 eine Prognoseentscheidung hinsichtlich der Einkünfte und Bezüge des Kindes im Jahr 2004. Sie prognostizierte Einkünfte und Bezüge i.H.v. 7.881,85 €, hierbei nahm sie Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit i.H.v. 9.144,85 €, sowie Werbungskosten i. H. 1.263,- € an. In den Einnahmen waren geschätzte Beträge für Urlaubs- und Weihnachtsgeld enthalten. In den Werbungskosten waren Aufwendungen für die Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte i. H. v. 869,40 € (161 Tage x 18 km x 0,30 €), Aufwendungen aus Anlass des Besuchs der Berufsschule i. H. v. 393,60 € (64 Tage x 8 km x 0,30 € zuzüglich Verpflegungsmehraufwendungen für 40 Tage mit Abwesenheit von min. 8 Stunden) enthalten. Entsprechend erlies sie am 17.09.2004 einen Ablehnungsbescheid. Zur Begründung führte sie aus, das Einkommen des Kindes überschreite voraussichtlich den maßgeblichen Grenzbetrag. Dadurch sei der Kindergeldanspruch für das Kind ausgeschlossen. Den Bescheid lies der Kläger unangefochten.
6Mit bei der Beklagten am 25.01.2005 eingegangenem Antrag beantragte der Kläger erneut Kindergeld für das Jahr 2004. Hierin gab er an, dem Sohn seien Einnahmen i.H.v. 9.586,75 € entstanden; es seien Werbungskosten i. H. v. insgesamt 2.436,29 € entstanden. Unter anderem seien Aufwendungen für einen PC i. H. v. 619,64 €, sowie Aufwendungen für Fachliteratur, eine Winkelschraubvorrichtung, eine Weichlötanlage, sowie Elektrowerkzeuge i.H.v. insgesamt 440,55 € entstanden. Ferner seien ihm für die Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte Aufwendungen i. H. v. 939,30 € entstanden. Es seien 167 Fahrten x 18 km x 0,30 € und 5 Fahrten x 25 km x 0,30 € zu berücksichtigen. Für die Fahrten zur Berufschule seien 52 Fahrten x 4 Kilometer x 2 x 0,30 €, sowie Verpflegungsmehraufwendungen i. H. v. 312,- € (8 Stunden x 6,- € x 52 Tage) zu berücksichtigen.
7Mit Bescheid vom 11.05.2005 lehnte die Beklagte die Kindergeldfestsetzung für 2004 ab. Den Bescheid focht der Kläger mit dem Einspruch an.
8Alsdann führte die Beklagte eine abschließende Berechnung durch. Hierbei nahm sie Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit i.H.v. 9.586,75 € an und brachte den Arbeitnehmerpauschbetrag i.H.v. 920,- € in Abzug. Denn sie war der Auffassung, die berufliche Veranlassung der Aufwendungen für den Personalcomputer sei nicht nachgewiesen; die Fahrtkosten seien wegen teilweiser Erstattung durch den Arbeitgeber nicht zu berücksichtigen.
9Mit Bescheid vom 22.08.2005 wurde der Bescheid vom 11.5.2005 (Ablehnung für 2004) gem. § 172 Abs. 1 Nr. 2 a Abgabenordnung aufgehoben.
10Mit Bescheid ebenfalls vom 22.08.2005 gewährte die Beklagte Kindergeld für den Zeitraum Oktober bis Dezember 2004.
11Mit Bescheid vom 30.09.2005 lehnte sie die Änderung des Bescheides vom 17.9.2004 hinsichtlich des Zeitraums Januar bis September 2004 ab. Sie führte aus, der bestandskräftige Bescheid vom 17.9.2004 könne nicht geändert oder aufgehoben werden, da weder die Voraussetzungen des § 70 Abs. 2 bis 4 Einkommensteuergesetz noch der § 172 ff. Abgabenordnung gegeben seien. Hiergegen legte der Kläger fristgerecht Einspruch ein.
12Am 26.1.2006 nahm die Beklagte eine weitere abschließende Berechung vor, in welcher sie Einnahmen i.H.v. 9.655,31 €, sowie Werbungskosten (einschließlich 50 % der geltend gemachten Aufwendungen für einen Personalcomputer) i.H.v. 1.655,50 € als nachgewiesen annahm. Aufgrund dieser Berechnung wies sie den eingelegten Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 01.02.2006 als unbegründet zurück. Sie führte erneut aus, einer Änderung stehe der Bescheid vom 17.09.2004 entgegen. Dieser entfalte Bindungswirkung. Eine Korrektur sei weder nach § 70 Abs. 2 bis 4 Einkommensteuergesetz noch nach dem § 172 ff. Abgabenordnung möglich. Selbst die anzuerkennenden erhöhten Werbungskosten i. H. v. 1.655,50 € führten nicht zu einer anderen Entscheidung, da der Grenzbetrag auch nach Abzug der erhöhten Werbungskosten überschritten werde. Der vom Arbeitgeber abgeführte Arbeitnehmeranteil der Sozialversicherungsbeiträge i.H.v. 2003,- € könne bei dieser Berechnung keine Berücksichtigung finden.
13Hiergegen wendet sich der Kläger mit der fristgerecht erhobenen Klage. Er führt aus, dem Sohn T seien Werbungskosten entstanden, welche über die von der Beklagten im Rahmen der Prognoseentscheidung berücksichtigten Werbungskosten hinausgehen. Er ist der Auffassung, die Sozialversicherungsbeiträge des Sohnes T seien bei der Berechnung der maßgeblichen Einkünfte und Bezüge im Sinne des § 32 Abs. 4 S. 2 EStG zu berücksichtigen.
14Der Kläger beantragt,
15die Beklagte unter Aufhebung der Ablehnungsbescheide vom 17.09.2004 und vom 30.09.2005, sowie der Einspruchsentscheidung vom 1. Februar 2006 zu verpflichten, Kindergeld für das Kind T für den Zeitraum Januar 2004 bis September 2004 zu gewähren.
16Die Beklagte beantragt,
17die Klage abzuweisen.
18Zur Begründung verweist sie auf ihre Einspruchsentscheidung vom 06.03.2006.
19Entscheidungsgründe:
20Die Klage ist begründet.
21Der Bescheid vom 30.9.2006, mit welchem die Beklagte die Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum Januar bis September 2004 unter Aufhebung des Bescheides vom 17.9.2004 abgelehnt hat, ist rechtswidrig.
221. Der Kläger hat für den streitgegenständlichen Zeitraum Anspruch auf Kindergeld für seinen Sohn T. Nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 Einkommensteuergesetz (EStG) hat, wer im Inland einen Wohnsitz oder einen gewöhnlichen Aufenthalt hat, Anspruch auf Kindergeld für Kinder i.S.d. § 63 EStG. Nach § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 EStG werden Kinder i.S.d. § 32 Abs.1, Abs. 3 - 5 EStG berücksichtigt. T wird als volljähriges Kind, welches sich in Berufsausbildung befindet, nach § 32 Absatz 1 Nr. 2 a EStG berücksichtigt.
23Einer Berücksichtigung steht auch § 32 Absatz 4 Satz 2 EStG nicht entgegen. Danach wird ein volljähriges Kind nur dann für das Kindergeld berücksichtigt, wenn es Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von nicht mehr als 7.680,00 € im Kalenderjahr (2004) hat. Die Einkünfte und Bezüge des Sohnes überschreiten nicht den Grenzbetrag des § 32 Absatz 4 Satz 2 EStG; sie betragen 5.997,22 €. Von den von der Beklagten im Rahmen der Einspruchsentscheidung ermittelten Einkünften sind die Arbeitnehmeranteile des Sohnes zur Gesamtsozialversicherung i.H.v. 2002,59 € abzuziehen.
24S. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11.01.2005, 2 BvR 167/02,
25BVerfGE 112, 164-185, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260.
262. Einer Kindergeldfestsetzung für den streitgegenständlichen Zeitraum steht nicht die Bestandskraft des Ablehnungsbescheides vom 17.9.2004 entgegen; dieser ist nach § 70 Abs. 4 EStG aufzuheben. Nach § 70 Abs. 4 EStG ist eine Kindergeldfestsetzung aufzuheben, oder zu ändern, wenn nachträglich bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Jahresgrenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG über- oder unterschreiten. Unter Kindergeldfestsetzung ist nicht nur der Bescheid zu verstehen, mit dem Kindergeld festgesetzt wird, sondern auch der Bescheid, mit dem ein Antrag auf Kindergeld abgelehnt oder eine Kindergeldfestsetzung aufgehoben wird.
27S. BFH-Urteil vom 28. November 2006, III R 6/06, BFH/NV 2007, 338, m.w.N.
28§ 70 Abs. 4 EStG setzt voraus, dass die zu korrigierende Kindergeldfestsetzung vor Beginn oder -wie im Streitfall – während des fraglichen Kalenderjahres als Prognoseentscheidung über die Höhe der Einkünfte und Bezüge des Kindes im Kalenderjahr ergangen ist.
29S. BFH-Urteil vom 28. Juni 2006, III R 13/06, BFH/NV 2006, 2204.
30Das nachträgliche Bekanntwerden von Überschreiten oder Nichtüberschreiten des Jahresgrenzbetrags bezieht sich ausschließlich auf von der Prognose abweichende tatsächliche Änderungen hinsichtlich der Einkünfte und Bezüge, nicht aber auf Änderungen, die auf nachträglich ergangener Rechtsprechung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG beruhen, wie z.B. der Abziehbarkeit der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge von den Einkünften und Bezügen des Kindes.
31S. BFH-Urteil vom 28. November 2006 III R 6/06, BFH/NV2007, 338.
32Die Voraussetzungen des § 70 Absatz 4 EStG sind danach erfüllt. Im Streitfall haben sich tatsächliche Änderungen hinsichtlich des Betrags der Einkünfte und Bezüge ergeben. Die Familienkasse ist bei ihrer im September 2004 getroffenen Prognoseentscheidung davon ausgegangen, dass die Einnahmen des Sohnes aus nichtselbständiger Arbeit 9.144,85 €, die Werbungskosten i. H. 1.263,- € betrügen. Später wurde ihr bekannt, dass sowohl die tatsächlichen Einnahmen, als auch die tatsächlichen Werbungskosten von den prognostizierten abwichen.
33Der Anwendung des § 70 Abs. 4 EStG steht im Streitfall nicht entgegen, dass der Grenzbetrag nur dann nicht überschritten ist, wenn zusätzlich zu den höheren Werbungskosten auch, entsprechend der geänderten Rechtsauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG,
34s. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11.01.2005, 2 BvR 167/02,
35BVerfGE 112, 164-185, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260,
36die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge von den Einkünften des Kindes abgezogen werden. Insofern ist keine einschränkende Auslegung des § 70 Abs. 4 EStG geboten. Ist der Anwendungsbereich des § 70 Abs. 4 EStG eröffnet, hat die Familienkasse die zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung geltende Sach- und Rechtslage und damit den Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 zu beachten.
37S. BFH-Urteil vom 10.05.2007, III R 103/06, BFH/NV 2007, 1581-1583.
38Die Korrektur nach § 70 Abs. 4 steht im Einklang mit der Entscheidung des Bundesfinanzhofs III R 6/06 vom 28. November 2006,
39s. BFH/NV 2007, 338,
40nach dem § 70 Abs. 4 EStG dann nicht anwendbar ist, wenn die Einkünfte und Bezüge den Jahresgrenzbetrag nur deshalb nicht überschreiten weil aufgrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in BverfGE 112, 164 nach Erlass der bestandskräftigen Kindergeldbescheide abweichend von der bisherigen Rechtsauffassung die Sozialversicherungsbeiträge des Kindes von den Einkünften abzuziehen sind. In dem dort entschiedenen Fall hatten sich nämlich nach Ablauf des Kalenderjahres keine tatsächlichen Änderungen hinsichtlich des Betrags der Einkünfte und Bezüge ergeben. Vielmehr beruhte das nachträgliche Bekanntwerden des Nichtüberschreitens des Jahresgrenzbetrags im dort entschiedenen Fall allein auf einer unzutreffenden Behandlung der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge und damit auf einem materiellen Fehler des Aufhebungsbescheides.
41Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 151 Absätze 1 und 3, 155 FGO i.V.m. § 709 Zivilprozessordnung (ZPO).
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