Urteil vom Finanzgericht Köln - 1 K 903/13
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
1
Tatbestand
2Die Beteiligten streiten über die Frage, ob bei der Ermittlung von sog. „Differenzkindergeld“ eine Einzelbetrachtung für jedes Kind oder eine Gesamtbetrachtung aller kindergeldberechtigten Kinder zu erfolgen hat.
3Die Klägerin hat 6 Kinder: 1 (geb. 1993), 2 (geb. 1995), 3 (geb. 1998), 4 (geb. 2009), 5 (geb. 2003) und 6 (geb. .2006). Sämtliche Kinder gingen im Streitzeitraum zur Schule. Der Ehemann der Klägerin arbeitet seit 2009 ausschließlich in Belgien. Die Klägerin lebt mit den Kindern in Deutschland und ist nicht erwerbstätig.
4Mit Bescheid vom 15.01.2010 setzte die Beklagte für das älteste Kind I Differenzkindergeld i.H. von 78,48 € gemäß § 165 Abs. 1 Abgabenordnung (AO) vorläufig fest. Der Vorläufigkeitsvermerk erfolgte bis zur Vorlage einer Bescheinigung über die in Belgien zustehenden Familienleistungen. Bei seiner als Anlage zum Bescheid beigefügten Berechnung des vorläufigen Differenzkindergeldes ermittelte die Beklagte die Differenzbeträge für jedes Kind einzeln. Hierbei ergab sich nur für I ein gegenüber den belgischen Familienleistungen um 78,48 € höheres deutsches Kindergeld. Für die übrigen Kinder waren die jeweiligen belgischen Familienleistungen höher. Nachdem bei der Beklagten eine Bescheinigung über die belgischen Familienleistungen einging, hob diese die Festsetzung des Differenzkindergeldes mit Bescheid vom 26.04.2012 gemäß § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ab Mai 2010 auf und forderte mit zeitgleichem Bescheid das gezahlte Differenzkindergeld für den Zeitraum Mai 2010 bis April 2012 i.H. von 1.883.52 € nach § 37 Abs. 2 der AO zurück. Dies begründete die Beklagte mit dem Inkrafttreten des Art. 68 Abs. 1 der EG-VO Nr. 883/2004. Bei der Ermittlung des Differenzkindergeldes stellte die Beklagte den belgischen Gesamtfamilienleistungen für alle Kinder i.H. von monatlich 1.328,03 € die deutschen Kindergeldansprüche i.H. von monatlich 1.203,00 € gegenüber.
5Den hiergegen am 09.05.2012 erhobenen Einspruch wies die Beklagte mit Entscheidung vom 27.02.2013 zurück. Dies begründete sie damit, dass nach dem Inkrafttreten der EG-VO 883/2004 zum 01.05.2010 für die Frage der Berechnung des Differenzkindergeldes (Kindergeldunterschiedsbetrages) nicht mehr die Beträge pro Kind gegenübergestellt würden, sondern der jeweils zu zahlende Gesamtbetrag des Kindergeldes.
6Mit der hiergegen am 25.03.2013 erhobenen Klage macht die Klägerin geltend, dass stets das Differenzkindergeld pro Kopf berechnet worden sei und in Belgien auch immer noch so berechnet werde. Sie habe mithin zumindest bis zur Bekanntgabe des Bescheides vom 26.04.2012 hierauf vertrauen dürfen, was eine Rückforderung ausschließe. Für die Kopfbetrachtung spreche auch, dass es sich nach den zivilrechtlichen Vorschriften beim Kindergeld um Unterhalt des Kindes handele, weshalb die Beklagte auch nicht passiv legitimiert sei. Daneben sei die erhöhte Kindergeldleistung auch gerechtfertigt, da der Vater durch seine Beschäftigung im EU-Ausland einen höheren Aufwand habe und auch weniger zur Betreuung und Versorgung des Kindes verfügbar sei.
7Die Klägerin beantragt,
8die Aufhebung der Festsetzung von Kindergeld ab Mai 2010 (in Höhe von 78,00 € zu Gunsten des ältesten Kindes I) sowie der Bescheid zur Rückforderung angeblicher Zuvielzahlung im Zeitraum Mai 2010 bis April 2012 (24 x 78,00 €) vom 26. April 2012 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 27. Februar 2013 (zugegangen am 8. März 2013) wird aufgehoben.
9Die Beklagte beantragt,
10die Klage abzuweisen.
11Zur Begründung bezieht sich die Beklagte auf ihre Ausführungen in der Einspruchsentscheidung. Ergänzend verweist sie auf die ab Mai 2010 gültige Durchführungsanweisung zum über- und zwischenstaatlichen Recht (DAüzV). Nach DA 214.6 sei bei der Berechnung des Differenzkindergeldes der in Deutschland zu zahlende Gesamtbetrag im jeweiligen Monat dem Gesamtbetrag der im anderen Staat für dieselben Kinder für denselben Monat zustehenden Familienleistungen gegenüberzustellen.
12Hinsichtlich der Beträge im Einzelnen wird auf den Akteninhalt, insbesondere auf die Bescheinigung der belgischen Familienleistungen durch das Office national d´allocations familiales pour travailleurs salariés vom 06.12.2011, Blatt 157-158 der Kindergeldakte verwiesen.
13Entscheidungsgründe
14Die Klage ist unbegründet.
15Die Beklagte hat zu Recht die Festsetzung des Differenzkindergeldes ab Mai 2010 aufgehoben und das überzahlte Kindergeld bis April 2012 i.H. von 1.883,52 € zurückgefordert.
16I.
17Denn die Klägerin hat im Streitzeitraum keinen Anspruch auf deutsches Differenzkindergeld. Ihr grundsätzlich bestehender Kindergeldanspruch ist nicht geringer als die belgischen Familienleistungen.
181.
19Die Klägerin hat grundsätzlich für ihre Kinder Anspruch auf deutsches Kindergeld nach §§ 62 Abs. 1 Nr. 1, 63 Abs. 1 Nr. 1, 32 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 und Abs. 4 Nr. 2a des Einkommensteuergesetzes (EStG). Denn die Klägerin und ihre unter 18-jährigen Kinder bzw. ihr unter 25-jähriges in Schulausbildung befindliches Kind I haben ihren Wohnsitz in Deutschland.
202.
21Allerdings ist der gleichzeitig bestehende Anspruch des Ehemanns der Klägerin auf belgische Familienleistungen (siehe die Bescheinigung des „Office national d´allocations familiales pour travailleurs salariés“) dem deutschen Kindergeld vorrangig.
22Das Konkurrenzverhältnis von Familienleistungen innerhalb der Europäischen Union wird in der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vom 29.04.2004 (EG-VO 883/2004) geregelt. Für die Klägerin (und ihren Ehemann) ist als Staatsangehörige eines Mitgliedsstaats der persönliche (Art. 2 Abs. 1 EG-VO 883/2004) und hinsichtlich der Familienleistungen auch der sachliche Geltungsbereich (Art. 3 Abs. 1 j. EG-VO 883/2004) der Verordnung eröffnet. Art. 68 Abs. 2 EG-VO 883/2004 löst das Konkurrenzverhältnis insoweit, indem es die Familienleistungen des nachrangig verpflichteten Staates bis zur Höhe der Leistungen des vorrangig verpflichteten Staates aussetzt; erforderlichenfalls ist einen Unterschiedsbetrag (vorliegend Differenzkindergeld) zu gewähren.
23Der Anspruch des Ehemanns der Klägerin auf Familienleistungen ist aufgrund seiner alleinigen Erwerbstätigkeit vorrangig nach Art. 68 Abs. 1 a) EG-VO 883/2004. Insoweit wird der deutsche Kindergeldanspruch der Klägerin nach Art. 68 Abs. 2 Satz 1 und 2 EG-VO 883/2004 ausgesetzt.
243.
25Der Klägerin war auch kein Differenzkindergeld zu gewähren. Denn die Beklagte ist bei der Berechnung des Differenzkindergeldes zu Recht von einer Gesamtbetrachtung des für alle Kinder nach deutschem Recht zu zahlenden Monatsbetrags zum Monatsbetrag der gesamten belgischen Familienleistungen ausgegangen. Dies leitet der Senat aus den Erwägungsgründen zur EG-VO 883/2004 her. Nach dem Erwägungsgrund Nr. 35 will die Verordnung ungerechtfertigte Doppelleistungen vermeiden. Würde man jedoch eine Einzelbetrachtung für jedes Kind vornehmen, so könnte – wie im vorliegenden Fall – die Summe der Familienleistungen sowohl den Kindergeldanspruch im vorrangig zuständigen wie auch im nachrangig zuständigen Staat übersteigen und damit zu einer Leistungserhöhung führen (vgl. Helmke in: Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, I. Kommentierung Europarecht, Art. 68 VO Nr. 883/2004, Rz 29). Dies würde auch gegen den Erwägungsgrund 4 sprechen, wonach die Verordnung zu einer Koordination der Leistungen im System der sozialen Sicherheit führen und damit keine erhöhten Ansprüche begründen soll (a.A. FG Baden-Württemberg Urteile vom 28.01.2015 14 K 982/13, juris - Revision beim BFH anhängig unter Az. III R 9/15 - ; vom 26.02.2015, 3 K 1747,13, EFG 2015, 997 – Revision beim BFH angängig unter Az. III R 34/15). Demnach war der Klägerin für I kein deutsches (Differenz-)Kindergeld zu gewähren, da sich die belgischen Familienleistungen für alle Kinder auf monatlich 1.328,03 € beliefen, die deutschen Kindergelbeträge jedoch nur auf 1.203,- €.
26II.
27Die Beklage war auch berechtigt, die Festsetzung des Kindergeldes durch Bescheid vom 15.01.2010 rückwirkend aufzuheben. Dies konnte aufgrund deren Vorläufigkeit nach § 165 Abs. 2 AO erfolgen. Die Festsetzung des Differenzkindergeldes durfte auch nach § 165 Abs. 1 AO vorläufig erfolgen, da die Höhe der belgischen Familienleistungen noch nicht bekannt war. Dass der Beklagte bei der vorläufigen Festsetzung von einer Einzelbetrachtung ausgegangen ist, schränkt die Änderungsmöglichkeit zu Lasten einer Gesamtbetrachtung nicht ein. Denn ein bei der vorläufigen Festsetzung unterlaufener Rechtsfehler kann im Rahmen der endgültigen Festsetzung (hier durch Aufhebung) korrigiert werden (vgl. Rüsken in Klein, AO, 11. Auflage, § 165 Rdnr. 17 m.w.N.). Für den von der Klägerin angeführten Vertrauensschutz verbleibt insoweit kein Raum.
28Die falsche Bezeichnung der Änderungsnorm im Aufhebungsbescheid (hier § 70 Abs. 2 EStG) führt ebenfalls nicht zu einer Rechtswidrigkeit des Bescheides. Denn für die Rechtmäßigkeit eines Bescheides ist nicht die zur Begründung herangezogene Vorschrift maßgebend; es kommt allein darauf an, ob der Aufhebungsbescheid zum Zeitpunkt seines Ergehens durch eine entsprechende Ermächtigungsnorm gedeckt ist (vgl. zur ständigen Rspr.: BFH-Urteil vom 14.09.1993 VIII R 9/93, BFHE 175, 391, BStBl II 1995, 2).
29III.
30Die Rückforderung des unstreitig ausgezahlten Differenzkindergeldes für Kind 1 erfolgte nach § 37 Abs. 2 AO zu Recht. Denn durch die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung ab Mai 2010 ist die Zahlung bis April 2012 i.H. von 1.883,52 € (24 Monate x 78,48 €) ohne rechtlichen Grund erfolgt.
31Der Umstand, dass das Kindergeld für den Kindesunterhalt verbraucht wurde, steht einer Rückforderung nicht entgegen. Denn die Einrede der Entreicherung nach § 818 Abs. 3 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) findet im Steuerrecht nach ständiger Rechtsprechung keine Berücksichtigung (BFH-Beschluss vom 16.11.2010 VII B 120/10, BFH/NV 2011, 405).
32IV.
33Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
34V.
35Die Revision war gemäß § 115 Abs.1 FGO zuzulassen.
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Referenzen
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