Beschluss vom Finanzgericht Münster - 4 K 7821/97 E
Tenor
1. Das Verfahren wird ausgesetzt.
2. Gem. Artikel 100 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes (GG), § 80 Abs. 1 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) wird eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes darüber eingeholt, ob § 19 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in der für den Veranlagungszeitraum 1996 geltenden Fassung des Jahressteuergesetzes (JStG) 1996 vom 11. Oktober 1995 (Bundesgesetzblatt - BGBl. - I 1995, 1250) und des Gesetzes zur Ergänzung des Jahressteuergesetzes 1996 und zur Änderung anderer Gesetze (Jahressteuer-Ergänzungsgesetz 1996 - JStErgG 1996 -) vom 18. Dezember 1995 (BGBl. I 1995, 1959) insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar ist, als auch 1996 Versorgungsbezüge der Ruhestandsbeamten nach § 19 Abs. 1 Nr. 2 EStG als Bezüge aus früheren Dienstleistungen abzüglich eines nach § 19 Abs. 2 EStG steuerfrei bleibenden Versorgungs-Freibetrags besteuert werden, während Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung und der Zusatzversorgung gem. § 22 Nr. 1 Buchstabe a EStG nur mit dem Ertragsanteil besteuert werden, und ob nicht jedenfalls der Versorgungs-Freibetrag von höchstens 6.000 DM im Jahre 1996 wegen Verstoßes gegen Artikel 3 Abs. 1 GG verfassungswidrig zu niedrig ist.
1
Gründe:
2I.
3Der 1925 geborene, verheiratete, mit seiner Ehefrau zusammen zur Einkommensteuer veranlagte Kläger (Kl.) bezog im Kalenderjahr 1996 (Streitjahr) als Ruhestandsbeamter Versorgungsbezüge in Höhe von brutto 101.976 DM. Außerdem erzielte er Einnahmen aus Kapitalvermögen in Höhe von 9.709 DM. Seine 1948 geborene Ehefrau erzielte ebenfalls Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit und Einkünfte aus Kapitalvermögen.
4Der Beklagte (Bekl.) setzte im Einkommensteuerbescheid vom 04.07.1997 für 1996 die Versorgungsbezüge des Kl. in voller Höhe als Bruttoarbeitslohn an. Nach Abzug eines Versorgungsfreibetrages von 6.000 DM gem. § 19 Abs. 2 EStG und eines Arbeitnehmerpauschbetrages von 2.000 DM gem. § 9 a Satz 1 Nr. 1 Buchstabe a EStG verblieben als Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit (Bezüge aus früheren Dienstleistungen) 93.976 DM. Von den Einnahmen in Höhe von 9.709 DM aus Kapitalvermögen setzte der Bekl. nach Abzug von Werbungskosten in Höhe von 261 DM und einem Sparerfreibetrag von 6.000 DM einen Betrag von 3.448 DM als Einkünfte aus Kapitalvermögen an. Die sich danach für den Kl. ergebende Summe der Einkünfte von 97.424 DM verminderte der Bekl. gem. § 24 a EStG um einen Altersentlastungsbetrag von 40 % der Einkünfte des Kl. aus Kapitalvermögen, nämlich um 1.380 DM, so daß sich ein Gesamtbetrag der Einkünfte des Kl. von 96.044 DM ergab. Die Einkommensteuer wurde unter Berücksichtigung auch der Einkünfte der Ehefrau des Kl. auf 45.672 DM festgesetzt. Die Steuerfestsetzung wurde nach § 165 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) u. a. hinsichtlich der Besteuerung der Versorgungsbezüge für vorläufig erklärt.
5Der Kl. erhob gegen den Einkommensteuerbescheid für 1996 mit der Begründung Einspruch, der Versorgungsfreibetrag von 6.000 DM sei verfassungswidrig zu niedrig.
6Der Bekl. wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 30.10.1997, auf die Bezug genommen wird, als unbegründet zurück. Die Festsetzung blieb weiterhin im bisherigen Umfang nach § 165 Abs. 1 AO vorläufig. Zur Begründung der Zurückweisung des Einspruchs führte der Bekl. aus: Der Einkommensteuerbescheid entspreche dem geltenden Recht. Nach § 19 Abs. 2 EStG könne nur ein Betrag von höchstens 6.000 DM von Versorgungsbezügen steuerfrei bleiben. Die Verwaltung sei an das formell ordnungsgemäß zustande gekommene Gesetz gebunden.
7Mit seiner daraufhin erhobenen Klage trägt der Kl. vor:
8Die unterschiedliche steuerliche Behandlung von Alterseinkünften der Pensionäre einerseits und der Rentner andererseits verstoße gegen das Gleichheitsgebot in Artikel 3 GG und sei daher verfassungswidrig. Altersbezüge der Pensionäre würden abzüglich eines jährlichen Freibetrages von 40 %, höchstens jedoch von 6.000 DM voll versteuert. Dagegen würden Altersbezüge aus der gesetzlichen Rentenversicherung nur mit dem sog. Ertragsanteil besteuert, der bei einem 65 Jahre alten Rentner bei 27 % liege. Angesichts der steuerlichen Grundfreibeträge und der steuerlich abzugsfähigen Sonderausgaben, wie z. B. Krankenkassenbeiträge, führe diese Regelung dazu, daß Renteneinkünfte aus der gesetzlichen Rentenversicherung weitestgehend von Steuer freigestellt würden. Die geringfügige Besteuerung der Renten sei in der Vergangenheit damit begründet worden, daß die Beiträge im wesentlichen aus versteuertem Einkommen gezahlt würden. Das sei jedoch seit langem unzutreffend, weil der Arbeitgeberanteil, der 50 % der Beiträge umfasse, für den Arbeitnehmer in jedem Fall steuerfrei sei. Darüber hinaus könne der Arbeitnehmeranteil über den Abzug von Sonderausgaben steuerlich geltend gemacht werden. Unberücksichtigt bleibe nach der geltenden Regelung bei der steuerlichen Behandlung von Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung schließlich auch die Tatsache, daß die Kassen der gesetzlichen Rentenversicherung in steigendem Maße aus Steuermitteln gespeist würden, wobei diese Mittel seit langem die versicherungsfremden Leistungen überstiegen. Deutlich werde dieses insbesondere seit Einführung der sog. Öko-Steuer, die nach dem Willen des Gesetzgebers uneingeschränkt der gesetzlichen Rentenversicherung zugeführt werde. Praktisch zahle jedermann seitdem in die Kassen der gesetzlichen Rentenversicherung ein, ohne aus diesen Zahlungen irgendwelche Ansprüche erwerben zu können. Die steuerliche Ungleichbehandlung zwischen Pensionen und Renten werde besonders deutlich, wenn im Versorgungsausgleich Versorgungsansprüche übertragen würden. Erfolge die Übertragung von Versorgungsansprüchen aus Pensionen auf einen Rentenanspruch der gesetzlichen Rentenversicherung, werde die gesetzliche Regelung des Versorgungsausgleichs, wie er im Bürgerlichen Gesetzbuch festgelegt werde, praktisch ausgehebelt. Der versorgungsberechtigte Pensionär werde abzüglich des Freibetrags von 40 %, höchstens 6.000 DM im Jahr, voll steuerlich erfaßt, während der Berechtigte, dessen Anwartschaft im Rentenrecht begründet werde, die Vorteile der Rentenbesteuerung erhalte. Er habe bei seiner Scheidung an seine frühere Ehefrau einen Versorgungsbeitrag abtreten müssen, die darauf gezahlte "Rente" der Landesversicherungsanstalt unterliege praktisch keiner Steuer, da nur der Ertragsanteil versteuert werde. Anders sei es dagegen, wenn beide Ehepartner pensionsberechtigt seien, die Pensionsansprüche teilweise auf den anderen Partner übertragen würden und dann mit der selbsterdienten Pension mitversteuert werden müßten. Gegenüber früheren Regelungen hätten sich die Verhältnisse nach den neuen Besoldungsgesetzen inzwischen auch insoweit geändert, als Beamte, Richter und Soldaten und deren Pensionäre durch den jährlichen Abzug von 0,2 Prozentpunkten bei Gehalts- und Pensionssteigerungen ihre zukünftige oder bereits gezahlte Pension mitfinanzieren müßten. Angesichts dieser neuen gesetzlichen Regelung sei die unterschiedliche steuerliche Behandlung von Renten und Pensionen vollends unverständlich und verfassungswidrig.
9Der Kl. beantragt,
10den Einkommensteuerbescheid des Bekl. vom 04.07.1997 zu ändern, die Einspruchsentscheidung vom 30.10.1997 aufzuheben und die Einkommensteuer für 1996 unter Gewährung eines angemessenen Versorgungsfreibetrages herabzusetzen,
11hilfsweise, das Verfahren auszusetzen und die Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 19 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 EStG dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorzulegen,
12weiter hilfsweise, die Revision zuzulassen.
13Der Bekl. beantragt,
14die Klage abzuweisen,
15hilfsweise, die Revision zuzulassen.
16Zur Begründung trägt er vor: Das geltende Steuerrecht sei richtig angewandt worden. Im übrigen habe der Gesetzgeber bei der unterschiedlichen Besteuerung von Renten einerseits und Versorgungsbezügen andererseits eine sachliche Differenzierung vorgenommen, so daß sich ein Verstoß gegen Artikel 3 GG nicht ergebe. Dem Kl. stehe in Bezug auf eine Vorlage der Sache beim Bundesverfassungsgericht verfahrensrechtlich kein eigenes Antragsrecht zu.
17II.
18Die Versorgungsbezüge der Beamten werden nach § 19 Abs. 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes in der für das Streitjahr (1996) geltenden Fassung als Bezüge aus früheren Dienstleistungen voll besteuert. Gem. § 19 Abs. 2 EStG bleibt nur ein Betrag in Höhe von 40 v. H. dieser Bezüge, höchstens jedoch insgesamt ein Betrag von 6.000 DM im Veranlagungszeitraum steuerfrei (Versorgungs-Freibetrag). Von den (Brutto-) Einnahmen sind außerdem die Werbungskosten (WK) gem. § 9 EStG abzuziehen, wobei nach § 9 a Satz 1 Nr. 1 Buchstabe a EStG, wenn nicht höhere WK nachgewiesen werden, von den Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit ein Arbeitnehmer-Pauschbetrag von 2.000 DM abzuziehen ist.
19Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung unterliegen demgegenüber nach § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchstabe a EStG nur mit dem Ertragsanteil, d. h. nur eingeschränkt, der Einkommensteuer. So beträgt z. B. der Ertragsanteil nur 27 %, wenn der Rentenberechtigte bei Beginn der Rente das 65. Lebensjahr vollendet hat.
20Mit Beschluß vom 26.03.1980 - 1 BvR 121/76, 1 BvR 122/76 -, Amtliche Sammlung von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts - BVerfGE - 54, 11, Bundes-steuerblatt - BStBl. - II 1980, 545, hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, daß die unterschiedliche Besteuerung von Renten und Pensionen dem Grunde nach verfassungsgemäß war. Gleichwohl kam das Bundesverfassungsgericht zu dem Ergebnis, daß die steuerliche Begünstigung der Rentner im Verhältnis zu den Ruhestandsbeamten inzwischen durch veränderte Verhältnisse ein Ausmaß erreicht habe, welches eine Korrektur erforderlich mache. Während das Rentenniveau ursprünglich sehr niedrig gewesen sei, hätten die Renten infolge ihrer Dynamisierung sowohl nominell als auch real Größenordnungen erreicht, bei denen ohne die Regelung des § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchstabe a EStG in vermehrtem Umfang Steuern zu entrichten wären. Hinzu komme, daß sich diese steuerliche Begünstigung insbesondere beim Vorliegen von Zusatzversorgungen und weiteren Einkünften zunehmend fühlbar auswirke. Zwar habe die steuerliche Gesamtregelung in den Jahren 1969 und 1970 und in der Folgezeit noch den Anforderungen des Artikel 3 Abs. 1 GG genügt, der Gesetzgeber sei aber verpflichtet, eine Neuregelung in Angriff zu nehmen, wobei es ihm überlassen bleibe, in welcher Weise und mit welchen gesetzgeberischen Mitteln er die inzwischen eingetretenen Verzerrungen beseitige. Eine solche Neuregelung habe eine sachlich ungerechtfertigte steuerliche Benachteiligung sowohl der noch erwerbstätigen als auch der im Ruhestand lebenden Gewerbetreibenden und Freiberufler mit Einkünften aus Kapitalvermögen oder Vermietung und Verpachtung zu vermeiden. Zur Beseitigung von Ungleichheiten bei komplexen Sachverhalten könne der Gesetzgeber Fristen in Anspruch nehmen. Das gelte insbesondere, wenn sich - wie hier - die tatsächlichen Verhältnisse im Rahmen einer langfristigen Entwicklung so verändert hätten, daß die Beseitigung der Unstimmigkeiten durch eine einfache und daher schnell zu verwirklichende Anpassung nicht möglich sei.
21Mit Beschluß vom 24.06.1992 - 1 BvR 459/87, 1 BvR 467/87 -, BVerfGE 86, 369, BStBl. II 1992, 774, hat das Bundesverfassungsgericht ferner entschieden, daß die dem Gesetzgeber für die Angleichung der Vorschriften über die steuerliche Behandlung von Renten und Ruhegehältern zur Verfügung stehende Zeit noch nicht abgelaufen sei.
22III.
23Der Senat legt die aus der Beschlußformel ersichtlichen Fragen gem. Artikel 100 Abs. 1 GG, § 80 Abs. 1 BVerfGG dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vor und setzt bis dahin das Verfahren aus.
24Nach Artikel 100 Abs. 1 Satz 1 GG ist das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen, wenn ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig hält und es sich um die Verletzung des Grundgesetzes handelt. Diese Voraussetzungen sind erfüllt.
25Da das Gericht von Amts wegen Artikel 100 Abs. 1 Satz 1 GG zu beachten hat und bei Bejahung der Voraussetzungen eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen hat, ist entscheidungsunerheblich, ob dem Kl. ein dahingehendes Antragsrecht zusteht, oder, wie der Bekl. meint, nicht zusteht.
261. Die Vorlagefragen sind entscheidungserheblich.
27a) Die erhobene Klage ist zulässig, so daß die Entscheidungserheblichkeit nicht schon daran scheitert.
28Der Zulässigkeit steht nicht entgegen, daß der Bekl. den angefochtenen Einkommensteuerbescheid für 1996 hinsichtlich der Besteuerung von Versorgungsbezügen nach § 165 Abs. 1 AO für vorläufig erklärt hat.
29Ist der Einkommensteuerbescheid mit einem Vorläufigkeitsvermerk versehen, fehlt zwar nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs das Rechtsschutzbedürfnis, wenn die verfassungsrechtliche Streitfrage sich in einer Vielzahl im wesentlichen gleichgelagerter Verfahren (Massenverfahren) stellt und bereits ein nicht von vornherein aussichtsloses Musterverfahren beim Bundesverfassungsgericht anhängig ist (Bundesfinanzhof -BFH- Beschluß vom 22.03.1996 III B 173/95, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs - BFHE - 180, 217, BStBl. II 1996, 506, m. w. N.). Dann könne der Steuerpflichtige im allgemeinen die Klärung der Streitfrage in dem Musterverfahren abwarten, ohne dadurch unzumutbare Rechtsnachteile zu erleiden (BFH Beschluß vom 10.11.1993 X B 83/93, BFHE 172, 197, BStBl. II 1994, 119); eine weitere verfassungsrechtliche Klärung in eigener Sache könne er gegebenenfalls später durch Rechtsbehelfe gegen die vom Finanzamt nach § 165 Abs. 2 Satz 2 AO zu treffende Entscheidung herbeiführen, wenn ihm nach dem Ausgang des Musterverfahrens die Streitfrage nicht ausreichend beantwortet erscheine.
30Auch ist beim Bundesverfassungsgericht zur Frage, ob die dem Gesetzgeber zur verfassungsrechtlich gebotenen Angleichung der einkommensteuerrechtlichen Behandlung von Alterseinkünften zur Verfügung stehende Zeit abgelaufen ist, aufgrund des Aussetzungs- und Vorlagebeschlusses des Finanzgerichts Rheinland-Pfalz vom 24.07.1995 - 5 K 1047/95 -, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1995, 918, das Normenkontrollverfahren 2 BvL 7/95 und ferner zu derselben Frage das Verfassungsbeschwerdeverfahren 2 BvR 2295/95 anhängig.
31Gleichwohl führen weder der Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 Abs. 1 AO noch die beiden bereits beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfahren zur Unzulässigkeit der Klage. Beide verfassungsgerichtlichen Verfahren betreffen nämlich das Jahr 1993. Im vorliegenden Verfahren ist dagegen das Veranlagungsjahr 1996 Streitgegenstand. Schon deswegen sind die beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfahren nicht mit dem vorliegenden gleichzusetzen, denn bei den Vorlagefragen ist gerade die Zeitkomponente von entscheidender Bedeutung. Je mehr Zeit dem Gesetzgeber zur Angleichung der einkommensteuerlichen Behandlung von Alterseinkünften zur Verfügung gestanden hat, desto drängender stellt sich für jedes Jahr die Frage, ob die vorhandene Regelung inzwischen in die Verfassungswidrigkeit "hineingewachsen" ist. Die sich auf das Jahr 1993 beziehenden verfassungsrechtlichen Verfahren können daher keine Musterverfahren für 1996 sein.
32Unabhängig davon stehen die bereits anhängigen verfassungsgerichtlichen Verfahren der Zulässigkeit der Klage für 1996 nicht entgegen, weil - was im einzelnen unten unter 2 c) ausgeführt wird - der Gesetzgeber durch die Erhöhung des Grundfreibetrags in 1996 die Unterschiede der Besteuerung von Versorgungsbezügen und Renten der gesetzlichen Rentenversicherung und der Zusatzversorgung noch vergrößert hat. Allein deswegen ist für 1996 eine veränderte Rechtslage entstanden, die das Rechtsschutzbedürfnis für eine Klage begründet und auch eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht rechtfertigt.
33Schließlich ist auch zu berücksichtigen, daß das Bundesverfassungsgericht in verschiedenen Beschlüssen vom 10.11.1998, nämlich in den Verfahren 2 BvL 42/93, BVerfGE 99, 246, BStBl. II 1999, 174, 2 BvR 1057/91, 2 BvR 1226/91, 2 BvR 980/91, BVerfGE 99, 216, BStBl. II 1999, 182, 2 BvR 1220/93, BVerfGE 99, 268, BStBl. II 1999, 193 und 2 BvR 1852/97, 2 BvR 1853/97, BVerfGE 99, 273, BStBl. II 1999, 194, die Verpflichtung ausgesprochen hat, in diesen vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen und teilweise in den beim Bundesfinanzhof dazu anhängigen Verfahren den Begehren der Steuerpflichtigen zu entsprechen. Sofern damit entschieden sein sollte, daß nur der Steuerpflichtige seine Ansprüche erfüllt erhalten kann, der bis zum Bundesverfassungsgericht oder zum Bundesfinanzhof vorgedrungen ist, kann seine Klage nicht unter Hinweis auf die Vorläufigkeitserklärung nach § 165 Abs. 1 AO als unzulässig angesehen werden.
34b) Die Begründetheit der Klage hängt von der Verfassungsmäßigkeit des § 19 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes in der für das Streitjahr (1996) anzuwendenden Fassung ab.
35aa) Im Falle der Verfassungsmäßigkeit der Regelungen des Einkommensteuergesetzes ist die Klage abzuweisen. Der Bekl. hat - worüber unter den Beteiligten auch kein Streit besteht - die Vorschriften richtig angewandt und dementsprechend die Einkommensteuer zutreffend festgesetzt. Ebenso wie das Finanzgericht Rheinland-Pfalz im Aussetzungs- und Vorlagebeschluß vom 24.07.1995, 5 K 1047/95, a. a. O., ist auch der erkennende Senat der Auffassung, daß keine verfassungskonforme Auslegung des § 19 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 EStG in Betracht kommt, die zu einer klagestattgebenden Entscheidung führen könnte. Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluß vom 26.03.1980 1 BvR 121/76 - 1 BvR 122/76, a. a. O., dem Gesetzgeber eine Angleichung der Vorschriften über die steuerliche Behandlung von Renten und Ruhegehältern aufgegeben. Es hat damit inzident die Möglichkeit, dasselbe Ziel im Wege verfassungskonformer Auslegung oder richterlicher Rechtsfortbildung (Bundesverfassungsgericht, Beschluß vom 14.01.1986, 1 BvR 209/79, 1 BvR 221/79, BVerfGE 71, 354, BStBl. II 1986, 376) zu erreichen, verneint.
36bb) Sind die zur Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht gestellten Normen hingegen verfassungswidrig, kommt eine andere Entscheidung in Betracht. Werden die gesetzlichen Bestimmungen für nichtig erklärt (§ 95 Abs. 3 BVerfGG), ist der Klage stattzugeben. Wird die Verfassungswidrigkeit wegen gesetzgeberischen Unterlassens oder aus sonstigen Gründen der Unvereinbarkeit mit der Verfassung festgestellt, kommen (Übergangs-) Regelungen und die Verpflichtung des Gesetzgebers in Betracht, den verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen (Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, BVerfGG, Kommentar, § 95 Rdnr. 35 f). Dann wäre unter Umständen das vorliegende Verfahren nach § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) bis zu einer endgültigen Neuregelung auszusetzen.
372. Der Senat hält § 19 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 EStG in der für das Veranlagungsjahr 1996 geltenden Fassung als mit dem Gleichbehandlungsgebot gemäß Artikel 3 Abs. 1 GG nicht vereinbar und damit für verfassungswidrig, weil Versorgungsbezüge der Ruhestandsbeamten nach § 19 Abs. 1 Nr. 2 EStG als Bezüge aus früheren Dienstleistungen abzüglich eines Versorgungs-Freibetrags nach § 19 Abs. 2 EStG voll besteuert werden, während Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung und der Zusatzversorgung gem. § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchstabe a EStG nur mit dem Ertragsanteil besteuert werden. Jedenfalls ist aber nach Ansicht des Senats der Versorgungs-Freibetrag von höchstens 6.000 DM im Jahre 1996 wegen Verstoßes gegen Artikel 3 Abs. 1 GG verfassungswidrig zu niedrig.
38a) Der Gesetzgeber hätte nach Ansicht des Senats der ihm mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26.03.1980 - 1 BvR 121/76 - 1 BvR 122/76 -, a. a. O., auferlegten Verpflichtung zur Neuregelung der unterschiedlichen Besteuerung von Versorgungsbezügen und Renten der gesetzlichen Rentenversicherung sowie der Zusatzversorgung im Jahre 1996 nachgekommen sein müssen. Es waren zu diesem Zeitpunkt seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26.03.1980 bereits 16 Jahre vergangen, also ein Zeitraum von 4 vollen Legislaturperioden. Trotz der in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26.03.1980 genannten Komplexität der zu bewältigenden Aufgabe, eine dem Gleichheitssatz entsprechende umfassende Regelung der Besteuerung aller Altersbezüge zu schaffen, und der in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24.06.1992 - 1 BvR 459/87, 1 BvR 467/87 -, a. a. O., zusätzlich angeführten, mit der deutschen Wiedervereinigung zusammenhängenden Problematik war dem Gesetzgeber kein längerer Zeitraum zuzubilligen. Die Diskrepanz zwischen Versorgungsbezüge- und Rentenbesteuerung war auch schon vor 1980 bekannt. So hat bereits der Finanzausschuß des Deutschen Bundestages die Bundesregierung im Jahre 1965 ersucht, Vorschläge zur Harmonisierung der steuerlichen Behandlung der im Alter bezogenen Einkünfte zu machen (Bundestagsdrucksache 4/3189, Seite 4, Entschließungen Buchstabe c). Entscheidend fällt darüber hinaus bei der Bemessung des dem Gesetzgeber zuzubilligenden Zeitraums ins Gewicht, daß Versorgungsempfänger und Rentner in einem hohen Alter stehen und die Effizienz grundrechtlichen Schutzes gebietet, verfassungsrechtlich gebotene Regelungen umgehend anzugehen und so schnell wie möglich zu verwirklichen.
39b) Der Gesetzgeber hat die ihm 1980 durch das Bundesverfassungsgericht auferlegte Verpflichtung zur Beseitigung der Diskrepanz zwischen der Besteuerung der Versorgungsbezüge und der Renten nicht erfüllt.
40Der seit 1975 auf höchstens 4.800 DM festgesetzte Versorgungs-Freibetrag wurde 1993 zwar auf höchstens 6.000 DM heraufgesetzt. Es wurde ferner ab 1990 ein auch den Pensionären zugute kommender Arbeitnehmerpauschbetrag (§ 9 a Satz 1 Nr. 1 Buchstabe a EStG) von 2.000 DM jährlich eingeführt. Außerdem wurden die Ertragsanteilssätze bei der Rentenbesteuerung einer höheren Lebenserwartung angepaßt. Diese Änderungen des Gesetzgebers stellen jedoch nicht die verfassungsrechtlich gebotene Neuregelung dar, denn dadurch ist die Diskrepanz zwischen Versorgungsbezüge- und Rentenbesteuerung nicht behoben (Schröder, "Die Diskrepanz zwischen Renten- und Pensionsbesteuerung wird immer größer", Deutsche Steuer-Zeitung - DStZ 1995, 231 f; derselbe: "Zur Diskrepanz zwischen Renten- und Pensionsbesteuerung", DStZ 1997, 32).
41c) Die Verfassungswidrigkeit der unterschiedlichen Besteuerung von Versorgungsbezügen und Renten resultiert für das Jahr 1996 darüber hinaus und auch schon für sich betrachtet aus der durch das Jahressteuergesetz 1996 erfolgten Erhöhung des Grundfreibetrages (§ 32 a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG). Der Grundfreibetrag wurde von 5.616/11.232 DM (Alleinstehende/Verheiratete) im Jahre 1995 auf 12.095/24.190 DM im Jahre 1996 erhöht. Diese Erhöhung führt infolge eines Multiplikatoreffekts bei der Ertragsanteilsbesteuerung zu einer erheblich größeren steuerlichen Entlastung als bei der Besteuerung der Versorgungsbezüge. Durch den quotalen Ansatz der Renten (z. B. 27 % bei einem Renteneintrittsalter von 65 Jahren) werden Freibeträge um ein Mehrfaches des absoluten Abzugsbetrages in der Bemessungsgrundlage wirksam, so daß sich der Beginn der Belastung mit Einkommensteuer um ein Mehrfaches hinausschiebt (Seer, "Die Besteuerung der Alterseinkünfte und das Gleichbehandlungsgebot (Artikel 3 Abs. 1 GG)", Steuer und Wirtschaft - StuW -, 1996, 323, 326; Schröder, "Zur Diskrepanz zwischen Renten- und Pensionsbesteuerung", a. a. O., S. 34). Durch die Erhöhung des Grundfreibetrages im Jahre 1996 sind bei einem Rentner, der Rente ab dem vollendeten 65. Lebensjahr bezieht und deshalb mit einem Ertragsanteil mit 27 % besteuert wird, die ohne Steuerbelastung bleibenden Rentenbezüge von 29.936 DM im Jahr 1995 auf 62.103 DM im Jahr 1996 und bei einem Rentnerehepaar unter den gleichen Voraussetzungen von 58.861 DM im Jahr 1995 auf 109.874 DM im Jahr 1996 angestiegen. Die Besteuerung der alleinstehenden Beamtenpensionäre beginnt dagegen anstatt bei 15.452 DM im Jahr 1995 bei 22.418 DM im Jahr 1996 und bei Verheirateten anstatt bei 29.384 DM bei 36.836 DM ( Bertuleit/Binne, "Zunehmende Diskrepanz zwischen Renten- und Pensionsbesteuerung?", DStZ 1996, 537).
42Den Verfassern des Entwurfs eines Jahressteuergesetzes 1996 erschienen diese Unterschiede im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur unterschiedlichen Besteuerung von Renten und Pensionen als "nicht vertretbar" (Bundestagsdrucksache 13/901, S. 137). Der Gesetzentwurf, der die Steuerfreistellung des Existenzminimums ursprünglich über eine Grundentlastung außerhalb des Steuertarifs erreichen wollte, sah deshalb vor, in das Verfahren der Berechnung der jeweils zu gewährenden Grundentlastung nicht nur den Ertragsanteil, sondern auch den grundsätzlich nicht der Besteuerung unterworfenen Kapitalanteil der Rente einzubeziehen (Artikel 1 § 34 h Abs. 3 EStG Entwurf JStG 1996, Bundestagsdrucksache 13/901, S. 11 f, 137). Auf diese Weise sollte der steuerfrei bleibende Teil der Rente eines seit dem 65. Lebensjahr Rente beziehenden Rentners von 62.103 DM auf 33.998 DM (Alleinstehende) und von 109.874 DM auf 67.508 DM (Verheiratete) begrenzt werden. Aufgrund der Beschlußempfehlung des Finanzausschusses des Bundestages wurde die Steuerfreiheit des Existenzminimums aber nicht - wie zunächst geplant - über eine außertarifliche Grundentlastung, sondern über einen in den Steuertarif integrierten Grundfreibetrag gewährleistet (Bundestagsdrucksache 13/1558, S. 6). Der Einbau dieses Grundfreibetrags in den Tarif hat zwar den Tarifverlauf, nicht aber den Besteuerungsbeginn verändert. Da mit der Grundentlastung auch die Korrekturregelung des Artikel 1 § 34 h Abs. 3 EStG Entwurf JStG 1996 entfallen ist, hat der Gesetzgeber eine Fassung des Jahressteuergesetzes 1996 verabschiedet, die er noch in der Begründung seines eigenen Entwurfes als im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts "nicht vertretbar" - mit anderen Worten: als verfassungswidrig - bezeichnet hatte (Bertuleit/Binne, a. a. O.).
43Der Senat verkennt nicht, daß die Erhöhung des Grundfreibetrages im Jahre 1996 für sich betrachtet verfassungsrechtlich geboten war und in Erfüllung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 25.09.1992 - 2 BvL 5/91, 2 BvL 8/91, 2 BvL 14/91 -, BVerfGE 87, 153, BStBl. II 1993, 413 erfolgt ist. Gleichwohl wäre der Gesetzgeber aber verpflichtet gewesen, die dadurch hervorgerufene zunehmende Diskrepanz zwischen der Besteuerung der Versorgungsbezüge und der Renten nicht aufkommen zu lassen. Dies hätte etwa durch die im Entwurf des Jahressteuergesetzes 1996 vorgesehene Regelung des § 34 h Abs. 3 EStG oder durch eine Änderung der Regelung des § 19 Abs. 2 EStG über den Versorgungs-Freibetrag geschehen können. Da dies nicht erfolgt ist, liegt schon allein deswegen eine gegen Artikel 3 Abs. 1 GG verstoßende Gesetzeslage im Jahre 1996 vor.
443. Der vom erkennenden Senat angenommenen Verfassungswidrigkeit des § 19 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 EStG im Jahr 1996 steht nicht entgegen, daß der Gesetzgeber der ihm vom Bundesverfassungsgericht auferlegten Verpflichtung zur Neuregelung der Besteuerung von Ruhegehältern und Renten auch durch die Änderung anderer als der hier für verfassungswidrig gehaltenen Vorschriften nachkommen kann. Eine für verfassungswidrig erachtete Rechtslage kann nämlich grundsätzlich anhand jeder der betroffenen Normen zur verfassungsgerichtlichen Prüfung gestellt werden, auch wenn sie sich etwa aus dem Zusammenwirken mehrerer Einzelregelungen ergibt (Bundesverfassungsgericht, Beschluß vom 29.05.1990 - 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86 -, BVerfGE 82/60, BStBl. II 1990, 653).
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