Beschluss vom Finanzgericht Münster - 7 V 2115/03 E
Tenor
Der Antrag wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens werden der Antragstellerin auferlegt
1
G r ü n d e :
2I.
3Streitig ist, ob aufgrund nachträglich erklärter Spekulations- bzw. privater Veräußerungsgewinne festgesetzte Einkommensteuer (ESt) von der Vollziehung auszusetzen ist.
4Die Antragstellerin (Astin.), eine Ärztin, erzielte in den Streitjahren u. a. Einkünfte aus selbständiger Arbeit, Kapitalvermögen und Vermietung und Verpachtung (VuV). Im Jahr 2001 erklärte sie Einkünfte aus Spekulations- bzw. privaten Veräußerungsgeschäften in Höhe von 5.070 DM (1997), 2.108 DM (1998) und 7.810 DM (1999) nach. Gegen die vom Antragsgegner (Ag.) am 28.01.2003 entsprechend geänderten ESt-Bescheide legte die Astin. Einspruch ein und beantragte die AdV der geänderten Bescheide. Zur Begründung führte sie die Verfassungswidrigkeit der Besteuerung von Spekulationsgewinnen an. Das Finanzamt (FA) lehnte den Antrag auf AdV ab (Bescheid vom 25.02.2003).
5Dagegen legte die Astin. Einspruch ein, der ohne Erfolg blieb (Einspruchsentscheidung -EE- vom 25.03.2003). Die Ablehnung begründete der Ag. damit, dass verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Gültigkeit einer Rechtsnorm zwar grundsätzlich eine AdV rechtfertigen könnten. Im Hinblick auf den Geltungsanspruch eines formell verfassungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes müsse jedoch ein besonderes berechtigtes Interesse des Ast. vorliegen, um eine AdV zu rechtfertigen. Im Streitfall seien keine individuellen Rechte der Astin. ersichtlich, die die öffentlichen Belange, insbesondere das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltsführung, überstiegen. Außerdem sei davon auszugehen, dass die streitigen Rechtsnormen im Fall der Verfassungswidrigkeit nicht für nichtig erklärt würden, sondern lediglich Neuregelungen für die Zukunft zu treffen seien.
6Am 16.04.2003 hat die Astin. die AdV der ESt-Bescheide 1997 - 1999 gemäß
7§ 69 Abs. 3 Finanzgerichtsordnung (FGO) beantragt.
8Sie ist der Ansicht, dass der Ag. die öffentlichen Belange nicht höher bewerten dürfe, als die individuellen Belange der Astin. Der BFH habe die Verfassungswidrigkeit der Besteuerung der Spekulationsgewinne damit begründet, dass ein Vollzugsdefizit bei der Durchsetzung der Norm bestehe. In einem solchen Fall könne der Ag. sich nicht auf eine geordnete öffentliche Haushaltsführung berufen.
9Die Astin. beantragt,
10folgende Beträge von der Aussetzung der Vollziehung auszusetzen:
11Einkommensteuer 1997 | 1.375,37 Euro |
rk. Kirchensteuer 1997 | 123,78 Euro |
Solidaritätszuschlag 1997 | 103,15 Euro |
Zinsen | 310,06 Euro |
Einkommensteuer 1998 | 524,59 Euro |
rk. Kirchensteuer 1998 | 47,22 Euro |
Solidaritätszuschlag 1998 | 28,85 Euro |
Zinsen | 85,00 Euro |
Einkommensteuer 1999 | 456,19 Euro |
rk. Kirchensteuer 1999 | 55,80 Euro |
Solidaritätszuschlag 1999 | 44,00 Euro |
Zinsen | 34,10 Euro. |
Der Ag. beantragt,
13den Antrag abzuweisen.
14Er hält an seiner in der EE vertretenen Rechtsauffassung fest.
15II.
16Der Antrag ist unbegründet.
17Nach § 69 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 Sätze 2, 7 FGO soll das Gericht der Hauptsache die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes ganz oder teilweise aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Ernstliche Zweifel sind zu bejahen, wenn bei überschlägiger Prüfung des angefochtenen Verwaltungsaktes im Aussetzungsverfahren neben den für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige, gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung von Tatfragen bewirken. Diese Grundsätze sind auch anzuwenden, wenn die Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes mit Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit einer dem Bescheid zugrunde liegenden Norm begründet werden (BFH, Beschluss vom 29. März 2001, III B 79/00, BFH/NV 2001, 1244, mit weiteren Nachweisen, BFH-Beschluss vom 27. August 2002, XI B 94/02, BFHE 199, 566, BStBl. II 203, 18).
18Die Astin. leitet die ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der auszusetzenden Steuerbescheide aus Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 b Einkommensteuergesetz (EStG) her. Der BFH hat in seinem Beschluss vom 16. Juli 2002 (IX R 62/99, BFHE 199, 451, BStBl. II 203, 74) die Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschrift bereits verneint; ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der streiterheblichen Rechtsnorm liegen somit vor (vgl. dazu Hübschmann/Hepp/Spitaler-Birkenfeld, AO/FGO, § 69 Rdnr. 330).
19Wird der Antrag auf AdV mit der Verfassungswidrigkeit einer Norm begründet, verlangt die Rechtsprechung - der der Senat folgt - für eine AdV zusätzlich zu den sonstigen Voraussetzungen eine zugunsten des Ast. ausfallende Interessenabwägung zwischen den individuellen Interessen des Ast. auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes und den Belangen des Staates an einer verlässlichen Haushaltsplanung (BFH-Beschlüsse vom 21. Mai 1992 X B 106/91, BFH/NV 1992, 721, vom 20. Juli 1990, III B 144/89, BFHE 162, 542, BStBl. II 1991, 104, vom 12. August 2002, VIII B 69/02, BFH/NV 2002, 1579).
20Zwar werden durch dieses zusätzliche Abwägungserfordernis an die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes bei behaupteter Verfassungswidrigkeit einer Norm höhere Anforderungen gestellt als bei einem Verstoß gegen das einfache Recht (vgl. dazu Tipke/Kruse, AO/FGO, § 69 FGO Rdnr. 96 ff.). Dies ist jedoch gerechtfertigt, weil formell ordnungsgemäß zustande gekommene Gesetze zunächst die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit für sich haben (BFH-Beschlüsse, BFH/NV 2002, 1579 und BFHE 199, 566, BStBl. II 2003, 18 und Hübschmann/Hepp/Spitaler/Birkenfeld, AO/FGO, § 69 FGO Rdnr. 3319). Erst und nur durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kann eine Norm als mit dem Grundgesetz unvereinbar oder für nichtig erklärt werden (§ 31 Abs. 2 Satz 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht, BVerfGG). Durch die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes in Form der AdV würde aber eine von den Fachgerichten für verfassungswidrig gehaltene Norm praktisch zeitweilig außer Kraft gesetzt, ohne dass eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, dem die alleinige Verwerfungskompetenz zukommt, vorliegt (vgl. dazu auch BFH-Beschluss vom 10. Februar 1984 III B 40/83, BFHE 140, 396, BStBl. II 1984, 454).
21Im Streitfall geht die Abwägung zwischen den Interessen der Astin. und denen des Staates zu Lasten der Astin.
22Ein berechtigtes Interesse eines Ast. an der AdV des angefochtenen Steuerbescheides wird von der Rechtsprechung angenommen, wenn das zu versteuernde Einkommen des Ast. so niedrig ist, dass nach Entrichtung der Steuer zur Bestreitung des Lebensunterhalts nur ein unter dem sozialhilferechtlichen Existenzminimum liegender Betrag verbleibt (BFH-Urteile vom 29. Dezember 1991, III B 83/91, BFH/NV 1992, 246 und vom 25. Juli 1991, III B 555/90, BFHE 164, 570, BStBl. II 1991, 876 und Hübschmann/Hepp/Spitaler/Birkenfeld, AO/FGO, § 69 Rdnr. 333) oder wenn ihm durch den Vollzug irreparabele Nachteile drohen (Gräber/Koch, FGO, 5. Auflage, § 69 Rdnr. 113).
23Die Astin., welcher es im Verfahren des vorläufigen Rechtschutzes obliegt, die entscheidungserheblichen Tatsachen vorzutragen und glaubhaft zu machen (Gräber/Koch, FGO, § 69 Rdnr. 120 ff. mit weiteren Nachweisen) hat weder derartige noch andere Gründe vorgetragen, die ihr besonderes Interesse an der AdV der streitigen Bescheide rechtfertigen. Auch aus den dem Senat vorliegenden Akten sind derartige Gründe nicht ersichtlich. Die begehrte Aussetzung liegt in den Streitjahren zwischen 590 und 1.913 Euro; das zu versteuernde Einkommen der Astin. liegt zwischen 106.857 Euro und 178.800 Euro.
24Demgegenüber besteht, entgegen der Aussetzung der Astin., ein berechtigtes Interesse des Staates am Vollzug der streitigen Steuerbescheide.
25Zwar hat der Bundesfinanzhof in seinem Beschluss vom 16. Juli 2002 (BFHE 1999, 451, BStBl. II 203, 74) die verfassungsrechtlichen Bedenken an der Vorschrift des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 b EStG mit einem Vollzugsdefizit bei der Durchsetzung der Norm begründet. Dies führt aber nicht dazu, dass das Interesse an einer geordneten Haushaltsführung in diesem Fall nicht schutzwürdig ist (so etwa P. Schmidt, DB 2003, 473). Das Interesse des Staates an einer geordneten und verlässlichen Haushaltsplanung und -führung wird gerade durch den Geltungsanspruch eines formell ordnungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes gewährleistet. Der Haushaltsgesetzgeber soll bei seiner Finanzplanung darauf vertrauen dürfen, dass die im jährlichen Staatshaushalt berücksichtigten Einnahmen nicht wieder herausgegeben werden müssen. Einer derartigen Haushaltsplanung würde es aber zuwiderlaufen, wenn die Einkünfte aus Spekulationsgewinnen über die - vom BFH festgestellten - erhebungsbedingten Defizite hinaus gänzlich entfielen.
26Weiter ist bei der Entscheidung zu beachten, dass das Bundesverfassungsgericht bei seinen neueren Entscheidungen zur Verfassungsmäßigkeit von Steuergesetzen Unvereinbarkeitserklärungen wegen des Erfordernisses einer verlässlichen Haushaltsplanung und -sicherheit nur für die Zukunft ausgesprochen hat (Bundesverfassungsgericht, Beschlüsse vom 25. September 1992, 2 BvL 5/91, BVErfGE 87, 153, BStBl. II 1993, 413; vom 22. Juni 1995, 2 BvR 552/91, BVErfGE 93, 165, BStBl. II 1995, 671 und vom 10. November 1998, 2 BvL 42/93, BVErfGE 99, 246, BStBl. II 1999, 174).
27Auch aus diesem Grund geht nach Ansicht des Senats die Interessenabwägung zu Lasten der Astin., welche - wie bereits dargelegt - keine berechtigten Interessen für eine AdV vorgebracht hat.
28Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
29Die Beschwerde wird gem. § 128 Abs. 3 i. V. m. § 115 Abs. 2 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.
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