Urteil vom Finanzgericht Münster - 4 K 1882/13 AO
Tenor
Der Bescheid vom 14.11.2012 über die Ablehnung des Teilerlasses von Nachforderungszinsen zur Einkommensteuer 2006 sowie die daraufhin ergangene Einspruchsentscheidung vom 15.05.2013 werden aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, die Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts insoweit neu zu bescheiden.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs der Kläger abwenden, soweit nicht die Kläger zuvor Sicherheit in derselben Höhe leisten.
Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren war notwendig.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1
Tatbestand:
2Streitig ist, ob die Festsetzung von Nachforderungszinsen zur Einkommensteuer (§ 233a der Abgabenordnung - AO -) der Höhe nach sachlich unbillig ist und daher ein Teilerlass nach §§ 163, 227 AO gerechtfertigt erscheint.
3Die Kläger sind Eheleute. Der Ehemann war im Streitjahr 2006 an mehreren Kommanditgesellschaften beteiligt und erzielte hieraus Einkünfte aus Gewerbebetrieb.
4Die Kläger beantragten für das Jahr 2006 in ihren jeweils im März 2008 abgegebenen Einkommensteuererklärungen übereinstimmend zunächst die Durchführung von getrennten Veranlagungen (§§ 26, 26a des Einkommensteuergesetzes - EStG -). Aufgrund von hohen Verlustvorträgen zur Einkommensteuer (§ 10d EStG) setzte der Beklagte gegen den Ehemann mit Bescheiden vom 03.04.2008 und 10.08.2009 die Einkommensteuer für 2006 - jeweils nach Maßgabe der Grundtabelle - zunächst auf EUR Null fest. Die Einkommensteuerfestsetzung für 2006 gegenüber der Ehefrau belief sich ebenfalls auf EUR Null (Bescheid vom 22.04.2008).
5Im März 2011 begann das Finanzamt für Groß- und Konzernbetriebsprüfung X-Stadt mit einer Betriebsprüfung bei einer derjenigen Kommanditgesellschaften, an der der Ehemann als Mitunternehmer beteiligt war. Die Feststellungen der Prüfung führten zu geänderten Gewinnfeststellungsbescheiden und beim Ehemann zu einer Zurechnung von gewerblichen Einkünften aus jener Kommanditgesellschaft für das Jahr 2006 in Höhe von nunmehr EUR x.xxx.xxx (zuvor: ./. EUR xxx.xxx).
6Auf Grundlage des geänderten Gewinnfeststellungsbescheides erließ der Beklagtegegenüber dem Ehemann unter dem 15.05.2012 einen nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO geänderten Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2006, in dem er die Einkommensteuer nunmehr auf EUR 328.175 und - erstmals - Nachforderungszinsen nach § 233a AO in Höhe von EUR 80.396 für den Zeitraum vom 01.04.2008 bis 18.05.2012 (49 Monate / 0,5 %) festsetzte.
7Der Ehemann erhob gegen den geänderten Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2006 Einspruch und beantragte nunmehr - nachträglich - die Durchführung einer Zusammenveranlagung mit seiner Ehefrau; diese stimmte zu. Der Beklagte folgte diesem Antrag und hob zunächst den gegen die Ehefrau ursprünglich erlassenen Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2006 auf. Mit Bescheid vom 06.09.2012 führte er sodann eine Zusammenveranlagung für das Jahr 2006 durch und setzte die Einkommensteuer unter Anwendung der Splittingtabelle auf EUR 150.548 herab. Die Zinsfestsetzung von EUR 80.396 blieb in unveränderter Höhe bestehen.
8Die Kläger beantragten einen Teilerlass der Nachforderungszinsen in Höhe von EUR 40.514. Sie begründeten ihren Antrag mit der Herabsetzung ihrer Einkommensteuerschuld durch die - nachträglich gewählte - Zusammenveranlagung und dem Hinweis, dass im Falle einer von Anfang an durchgeführten Zusammenveranlagung die geforderte Verzinsung von EUR 80.396 einem Zinssatz von 13,08 % p.a. entspräche. Sachlich billig sei dagegen lediglich die Verzinsung auf Grundlage der Einkommensteuernachforderung von EUR 150.548; bei einem Zinslauf von 53 Monaten zu 0,5 % / Monat ergäbe sich eine Verzinsung von lediglich EUR 39.882.
9Der Beklagte lehnte den Teilerlass ab. Sachliche Billigkeitsgründe für einen (Teil)Erlass i.S. von §§ 163, 227 AO lägen nicht vor. Die Zinsfestsetzung nach § 233a AO diene dazu, den Liquiditätsvorteil des Steuerschuldners und den Liquiditätsnachteil des Steuergläubigers auszugleichen, und zwar unabhängig von der konkreten Einzelfallsituation. Durch die Verzinsung solle ein Ausgleich dafür geschaffen werden, dass die Steuern bei den einzelnen Steuerpflichtigen "aus welchen Gründen auch immer" zu unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und fällig würden. Es sei nicht erheblich, ob der Steuerpflichtige tatsächlich Zinsvorteile gezogen habe; die reine Möglichkeit der Kapitalnutzung genüge. Der zulässige Wechsel der Veranlagungsart von der getrennten zur Zusammenveranlagung sei ein rückwirkendes Ereignis i.S. von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO. Für den zu verzinsenden Unterschiedsbetrag, der sich für die durchgeführte Zusammenveranlagung ergebe, begönne der Zinslauf erst mit Ablauf von 15 Monaten nach Ablauf des Kalenderjahres 2012 (§ 233a Abs. 2a AO); in jenem Jahr sei der Antrag auf Wechsel der Veranlagungsart gestellt worden. Aufgrund der gesetzlichen Regelung könne eine Minderung der bisher festgesetzten Nachzahlungszinsen nicht erfolgen.
10Der Einspruch der Kläger, in dem die Kläger ergänzend darauf hinwiesen, dass derFinanzbehörde tatsächlich gar kein Liquiditätsnachteil in voller Höhe entstanden sei, blieb erfolglos. Der Beklagte hielt sowohl in seinem Anhörungsschreiben vom 19.02.2013 als auch in seiner Einspruchsentscheidung vom 15.05.2013 daran fest, dass im Hinblick auf die vorliegende Gesetzmäßigkeit der Zinsfestsetzung ein Teilerlass nicht in Betracht komme.
11Zur Begründung ihrer Klage führen die Kläger an:
12Die Voraussetzungen für die spezielle Zinsfestsetzung nach § 233a Abs. 2a AO lägen im Streitfall nicht vor. Denn die geänderte Steuerfestsetzung vom 06.09.2012 sei vom Beklagten nicht auf § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO, sondern auf § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO gestützt worden. Zudem sei zweifelhaft, ob für ihn - den Kläger - überhaupt ein rückwirkendes Ereignis i.S. von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO gegeben sei; schließlich hätten beide Ehegatten gemeinsam ihr Veranlagungswahlrecht nachträglich zu Gunsten der Zusammenveranlagung ausgeübt.
13Darüber hinaus sei die Höhe der Zinsfestsetzung vorliegend unbillig. Für Zwecke der Zinsfestsetzung sei die nachträgliche Wahl der Zusammenveranlagung als Änderung einer Steuerfestsetzung anzusehen. Hätten sie - die Kläger - bereits bei erstmaliger Veranlagung zur Einkommensteuer 2006 die Zusammenveranlagung gewählt, hätte die Steuer bis zu den durch die Betriebsprüfung erfolgten Änderungen im Jahr 2012 ebenfalls EUR Null betragen. Sie, die Kläger, hätten sich bereits bei erstmaliger Veranlagung für die Zusammenveranlagung entschieden, wären die höheren Besteuerungsgrundlagen aus der Betriebsprüfung bereits bei Abgabe der Einkommensteuererklärung für das Jahr 2006 bekannt gewesen. Dem Beklagten sei letztlich ein "Steuerschaden" in Höhe von EUR 150.548 (Einkommensteuer) entstanden; dieser Betrag müsse auch der Verzinsung nach § 233a AO zugrundegelegt werden. Ihnen, den Klägern, sei auch kein höherer Liquiditätsvorteil entstanden, der durch die Verzinsung nunmehr auszugleichen sei.
14Die Ablehnung des Erlassantrages sei zudem ermessensfehlerhaft. Die Ermessensentscheidung verstoße gegen die Billigkeit. Die Zinsfestsetzung in Höhe von EUR 80.396 sei im vorliegenden Einzelfall unbillig. Sie betrage mehr als 13 % p.a., die sie - dieKläger - aus versteuertem Einkommen zu zahlen hätten. Die gesetzliche Verzinsung betrage nur 6 % p.a., so dass eine derartig überhöhte Verzinsung nicht gerecht sein könne.
15Die Kläger beantragen,
16den Beklagten zu verpflichten, die Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts hinsichtlich des Antrags auf Teilerlass der Nachforderungszinsen zur Einkommensteuer 2006 neu zu bescheiden;
17für den Fall des Unterliegens, die Revision zuzulassen;
18ferner die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären.
19Der Beklagte beantragt,
20die Klage abzuweisen;
21hilfsweise, die Revision zuzulassen.
22Der Beklagte trägt vor:
23Die Festsetzung der Nachzahlungszinsen zur Einkommensteuer für 2006 sei der Höhe nach rechtmäßig; sie entspreche insbesondere der gesetzlichen Lage. Die hohe Zinslast der Kläger ergebe sich aus dem Umstand, dass die nachträglich gewählte Zusammenveranlagung zur Einkommensteuer als rückwirkendes Ereignis i.S. von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO zu werten sei. Hieran knüpfe eine spezielle Verzinsungsregelung gemäß § 233a Abs. 2a AO an.
24Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten und die den Streitfall betreffenden Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
25Der Senat hat in dieser Sache am 31.01.2014 mündlich verhandelt. Auf das Sitzungsprotokoll vom selben Tag wird Bezug genommen.
26Entscheidungsgründe:
27Die Klage ist begründet.
28Die Ablehnung des Antrags auf Teilerlass der Nachforderungszinsen zur Einkommensteuer 2006 aus Billigkeitsgründen vom 14.11.2012 und die hierauf ergangene Einspruchsentscheidung vom 15.05.2013 sind ermessensfehlerhaft und daher rechtswidrig; sie verletzen die Kläger in ihren Rechten. Die Sache ist nicht spruchreif. Der Beklagte ist verpflichtet, die Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtes neu zu bescheiden (§ 101 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
291. Die Ermessensentscheidung einer Behörde - wie eine solche nach §§ 227, 163 AO - kann vom Finanzgericht nur in den von § 102 FGO gezogenen Grenzen überprüft werden. Nach dieser Vorschrift ist die gerichtliche Prüfung darauf beschränkt, ob die Behörde bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem ihr eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (vgl. BFH-Urteile vom 29.03.2007 IX R 9/05, BFH/NV 2007, 1617; vom 14.06.2000 X R 56/98, BStBl II 2001, 60; Kruse inTipke/Kruse, AO/FGO, § 5 AO Rdnr. 75). Das Gericht ist nicht berechtigt, eigenes Ermessen auszuüben und an die Stelle des Ermessens der Finanzbehörden zu setzen. Es hat deshalb auch nicht nachzuprüfen, ob die Ermessensentscheidung richtig oder angebracht ist oder ob sie sich aus anderen als den der Ermessensentscheidung der Finanzbehörde zugrunde liegenden Erwägungen als richtig erweist (BFH-Urteil vom 12.06.1996 II R 71/94, BFH/NV 1996, 873). Nur ausnahmsweise kann das Finanzgericht - sofern vom Kläger beantragt - eine Verpflichtung zum Erlass aussprechen (§ 101 Satz 1 FGO), und zwar dann, wenn der Ermessensspielraum derart eingeschränkt ist, dass nur eine einzige Entscheidung als ermessensgerecht in Betracht kommt (sog. Ermessensreduzierung auf Null; vgl. BFH-Urteil vom 26.10.1994 X R 104/92, BStBl II 1995, 297).
30Im Streitfall hat der Beklagte die Voraussetzungen der Unbilligkeit i.S. des § 227 AO in nicht ermessensgerechter Weise verneint.
31Nach § 227 AO können Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis - hierzu gehören auch Zinsansprüche (§ 37 Abs. 1, 3 Abs. 4 AO) - ganz oder zum Teil erlassen werden, wenn deren Einziehung nach der Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. SachlicheUnbilligkeit - allein diese kommt im Streitfall in Betracht - liegt nach der ständigen Rechtsprechung des BFH, der sich der erkennende Senat anschließt, vor, wenn die Geltendmachung eines Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis im Einzelfall zwar dem Wortlaut einer Vorschrift entspricht, aber nach dem Zweck des zu Grunde liegenden Gesetzes nicht mehr zu rechtfertigen ist und dessen Wertungen zuwiderläuft (BFH-Urteil vom 23.03.1998 II R 41/96, BStBl II 1998, 396). Dies ist anzunehmen, wenn nach dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers davon ausgegangenwerden kann, dass er die im Billigkeitswege zu entscheidende Frage - hätte er sie geregelt - im Sinne der beabsichtigten Billigkeitsmaßnahme entschieden hätte (BFH-Urteil vom 13.05.1998 II R 98/97, BFH/NV 1998, 1376). Umstände, die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des gesetzlichen Tatbestands einer Vorschrift bewusst in Kauf genommen hat, stehen dem Erlass entgegen (BFH-Urteil vom 20.01.1997 V R 28/95, BStBl II 1997, 716).
322. Die Zinsfestsetzung im Bescheid vom 15.05.2012 in Höhe von EUR 80.396, die durch die erneut geänderte Einkommensteuerfestsetzung im Bescheid vom 06.09.2012 (Zusammenveranlagung) unverändert übernommen wurde, entsprach zwar der Gesetzeslage.
33a. Einkommensteuernachforderungen bzw. -erstattungen sind grundsätzlich zu verzinsen (§ 233a Abs. 1 Satz 1 AO). Die Zinsen betragen für jeden Monat 0,5 %; sie sind von dem Tag an, an dem der Zinslauf beginnt, für volle Monate zu zahlen (§ 238 Abs. 1 AO). Der Zinslauf beginnt im Regelfall 15 Monate nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist, sog. Karrenzzeit (§ 233a Abs. 2 Satz 1 AO). Durch die Verzinsung nach § 233a AO sollen der Zinsvorteil des Steuerpflichtigen und der Zinsnachteil des Steuergläubigers ausgeglichen werden. Der Ausgleich ist deshalb gerechtfertigt, da die Steuern bei den einzelnen Steuerpflichtigen - aus welchen Gründen auch immer - zu unterschiedlichen Zeiten festgesetzt und fällig werden (vgl. BFH-Urteil vom 20.09.1995 X R 86/94, BStBl II 1996, 53 m.w.N.). Die Zinsfestsetzung ist grundsätzlich rechtmäßig, wenn der Schuldner der Steuernachforderung Liquiditätsvorteile gehabt hat oder zumindest erlangen bzw. anderweitige Zinsbelastungen vermeiden konnte. Da es sich bei der Verzinsung nach § 233a AO um eine rein typisierende Regelung handelt und selbst nur potentielle Vorteile die Zinsfestsetzung rechtfertigen, findet die Vorschrift auch dann Anwendung, wenn der Steuerpflichtige den Nachzahlungsbetrag überhaupt nicht oder zu einem geringeren Prozentsatz als 6 % p.a. angelegt hat. Besondere Umstände des Einzelfalls bleiben im Rahmen der Festsetzung der Zinsen - gerade wegen der Typisierung - außen vor (vgl. BFH-Urteile vom 20.09.1995 X R 86/94, BStBl II 1996, 53; vom 19.03.1997 I R 7/96, BStBl II 1997, 446).
34b. Abweichend vom Grundfall des § 233a Abs. 2 Satz 1 AO beginnt der Zinslauf, soweit die Steuerfestsetzung auf der Berücksichtigung eines rückwirkenden Ereignisses i.S. von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Abs. 2 AO beruht, (erst) 15 Monate nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem das rückwirkende Ereignis eingetreten ist (§ 233a Abs. 2a AO). Der unterschiedliche Beginn des Zinslaufs im Grundfall des § 233a Abs. 2 AO einerseits sowie im Spezialfall des § 233a Abs. 2a AO andererseits rechtfertigt sich daraus, dass ein rückwirkendes Ereignis sowohl zu Gunsten als auch zu Lasten des Steuerpflichtigen bei der ursprünglichen Steuerfestsetzung noch nicht berücksichtigt werden konnte (bzw. durfte) und daher weder der Steuerpflichtige noch das Finanzamt vor Eintritt des rückwirkenden Ereignisses einen Liquiditätsvor- oder -nachteil erlitten hat, den es zu kompensieren gilt. Vor diesem Hintergrund ist es ausgeschlossen, einen Nachzahlungs- oder Erstattungsanspruch, soweit er auf dem rückwirkenden Ereignis beruht, schon für den Zeitraum vor Eintritt des rückwirkenden Ereignisses zu verzinsen (BFH-Urteil vom 17.02.2010 I R 52/09, BStBl II 2011, 340; Rüsken in Klein, AO, 11. Aufl., § 233a Rdnr. 31). Voraussetzung für die besondere Zinslaufregelung des § 233a Abs. 2a AO ist allerdings, dass die geänderte Steuerfestsetzung auf der Berücksichtigung eines rückwirkenden Ereignisses beruht, wobei wiederum nicht erforderlich ist, dass die Bescheidänderung auch tatsächlich auf § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO gestützt wird (vgl. Rüsken in Klein, AO, 11. Aufl., § 233a Rdnr. 31a m.w.N.).
35c. Maßgebend für die Zinsberechnung ist die festgesetzte Steuer, u.a. vermindert um anzurechnende Steuerabzugsbeträge und um die bis zu Beginn des Zinslaufs festgesetzten Vorauszahlungen, sog. Unterschiedsbetrag (§ 233a Abs. 3 Satz 1 AO). Wird die Steuerfestsetzung geändert, ist für die Zinsberechnung der Unterschiedsbetrag zwischen der festgesetzten Steuer und der vorher festgesetzten Steuer - jeweils vermindert um die anzurechnenden Steuerabzugsbeträge - maßgebend (§ 233a Abs. 5 Satz 2 AO). Im Falle der Verzinsung einer Steuernachforderung bzw. -erstattung nach Eintritt eines rückwirkenden Ereignisses, ist der zu verzinsende Unterschiedsbetrag - nacheinem komplizierten Berechnungssystem - in Teil-Unterschiedsbeträge mit jeweilsgleichem Zinslaufbeginn aufzuteilen; für jeden Teil-Unterschiedsbetrag sind Zinsen gesondert und in der zeitlichen Reihenfolge der Teil-Unterschiedsbeträge zu berechnen, beginnend mit den Zinsen auf den Teil-Unterschiedsbetrag mit dem ältesten Zinslaufbeginn (§ 233a Abs. 7 Satz 1 AO). Ergibt sich ein Teil-Unterschiedsbetrag zugunsten des Steuerpflichtigen, entfallen auf diesen Betrag festgesetzte Zinsen frühestens ab Beginn des für diesen Teil-Unterschiedsbetrag maßgebenden Zinslaufs; Zinsen für den Zeitraum bis zum Beginn des Zinslaufs dieses Teil-Unterschiedsbetrags bleiben endgültig bestehen (vgl. § 233a Abs. 7 Satz 2 AO). Hierdurch soll sichergestellt werden, dass ein rückwirkendes Ereignis keinen Einfluss auf Nachzahlungszinsen (Anm.: Gleiches gilt umgekehrt im Erstattungsfall) haben soll, die vor Eintritt des rückwirkenden Ereignisses entstanden sind (Rüsken in Klein, AO, 11. Aufl., § 233a Rdnr. 33); es entsteht eine "neue" Verzinsungsperiode.
36d. Die von den Klägern mit Schreiben vom 19.06.2012 geänderte Wahl, für das Streitjahr 2006 zur Einkommensteuer zusammen- statt - wie bisher - getrennt veranlagt zu werden, stellte verfahrensrechtlich ein Ereignis mit steuerlicher Rückwirkung i.S. von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO dar, das für Zwecke der Zinsfestsetzung nach §§ 233a Abs. 2a und Abs. 7 AO zu beurteilen war.
37Eheleute, die nicht dauernd getrennt leben, konnten im Streitjahr 2006 nach § 26 Abs. 1 Satz 1 EStG zwischen der getrennten Veranlagung (§ 26a EStG) und der Zusammenveranlagung (§ 26b EStG) wählen. Die Wahl konnte bis zur Bestandskraft eines der beiden Einzelveranlagungsbescheide oder des Zusammenveranlagungsbescheidesjederzeit in die eine oder andere Richtung ausgeübt werden - und zwar bis zum Eintritt der Festsetzungsverjährung ohne zeitliche Beschränkung (vgl. zur insoweit durch das Steuervereinfachungsgesetz 2011 geänderten Rechtslage § 26 Abs. 2 Satz 4 EStGn.F.). Beantragten die Ehegatten innerhalb der laufenden Rechtsbehelfsfrist eines Einkommensteuer(änderungs)bescheides des einen Ehegatten bei zuvor getrennter Veranlagung übereinstimmend eine Zusammenveranlagung, führt(e) dies dazu, dass derandere (ggf. bestandskräftige) Einzelveranlagungsbescheid nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO aufzuheben und erstmals ein Zusammenveranlagungsbescheid zu erlassen war/ist. Die steuerliche Rückwirkung des geänderten Veranlagungswahlrechts wird begründet mit dem Erfordernis einer einheitlichen Veranlagung der Ehegatten. Die Wahl einer bestimmten Veranlagungsart oder deren Änderung durch einen Ehegatten wirkt sich materiell-rechtlich auch auf die Einkommensteuerschuld des anderen Ehegatten aus, und zwar rückwirkend auf den Zeitpunkt der Entstehung der Steuer nach § 36 Abs. 1 EStG. Mit der Ausübung des Veranlagungswahlrechts im Sinne einer Zusammenveranlagung nach zuvor durchgeführter getrennter Veranlagung ändert sich der Sachverhalt in der Weise, dass nunmehr die gesetzlichen Voraussetzungen der Zusammenveranlagung vorliegen (§§ 26 Abs. 2 und 3, 26b EStG). Bei der Wahl der Veranlagungsart handelt es sich nicht nur um einen aus verfahrensrechtlichen Gründen erforderlichen Antrag mit Wirkung für die Zukunft, sondern um ein Merkmal des gesetzlichen Tatbestands, das auf den Veranlagungszeitraum zurückwirkt (vgl. BFH-Urteil vom 03.03.2005 III R 22/02, BStBl II 2005, 690 für den Fall des Wechsels von der Zusammen- zur getrennten Veranlagung; zudem Rüsken in Klein, AO, 11. Aufl., § 175 Rdnr. 73 m.w.N.).
38Im Streitfall erfolgte die geänderte - zur Zinsfestsetzung führende - Einkommensteuerfestsetzung gegenüber dem Ehemann nach Ablauf der 15monatigen Karenzzeit des § 233a Abs. 2 Satz 1 AO. Gleiches galt für die erneut geänderte Steuerfestsetzung vom 06.09.2012, mit der die beantragte Zusammenveranlagung durchgeführt wurde und die eine Steuerherabsetzung zur Folge hatte. Für die Zinsberechnung war daher von Gesetzes wegen zu berücksichtigen, dass die ursprüngliche Zinsfestsetzung nach § 233a Abs. 7 Satz 2 Halbs. 2 AO trotz rückwirkender Herabsetzung der Einkommensteuerschuld unberührt blieb. Für den Erstattungs-Unterschieds-Teilbetrag erfolgte deshalb (noch) keine Verzinsung zu Gunsten der Kläger, da insoweit die 15monatige Karenzzeit nach Eintritt des rückwirkenden Ereignisses noch nicht abgelaufen war.
393. Allerdings ist die ablehnende Entscheidung des Beklagten, die Zinsen bis auf einen Betrag von EUR 39.882 aus Gründen der Billigkeit im Einzelfall nach § 227 AO zu erlassen, nicht frei von Ermessensfehlern.
40Der Senat braucht vorliegend nicht darüber zu befinden, ob der Beklagte sogar verpflichtet ist, den von den Klägern begehrten Teilerlass deshalb auszusprechen, da das Ermessen zu Gunsten eines Teilerlasses auf Null reduziert ist. Die Kläger haben - aus Sicht des erkennenden Senats zu Recht - lediglich beantragt, den Beklagten unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtes neu zu bescheiden (§ 101 Satz 2 FGO).
41Der Beklagte hat sowohl im Ablehnungsbescheid als auch in der nachfolgenden Einspruchsentscheidung sein Ermessen i.S. von § 5 AO insoweit fehlerhaft ausgeübt, als er seine Entscheidung im Wesentlichen auf die Gesetzmäßigkeit der Zinsfestsetzung im Streitfall stützte und die von den Klägern vorgebrachten besonderen Erwägungen des Einzelfalls unberücksichtigt ließ; hierdurch unterschritt er sein Ermessen (vgl. hierzu v.Groll in Gräber, FGO, 7. Aufl., § 102 Rdnr. 2 m.w.N.).
42a. Der Beklagte setzte sich insbesondere nicht damit auseinander, in welcher Höhe für die Kläger - bei abstrakter Betrachtung - überhaupt ein Liquiditätsvorteil entstehen konnte. Der für rückwirkende Ereignisse spezielle Verzinsungszeitraum nach § 233a Abs. 2a AO erfasst den besonderen Umstand, dass bis zum Eintritt eines rückwirkenden Ereignisses auf Seiten des Steuerpflichtigen hinsichtlich des Steueränderungsbetrages kein Liquiditätsplus bestand, das zu Gunsten des Fiskus auszugleichen wäre. So verhielte es sich z.B. im Fall der nach § 16 EStG zu besteuernden Veräußerung eines Gewerbebetriebs, bei der zu späterer Zeit aufgrund vertraglicher Absprachen zwischen Veräußerer und Erwerber - gewinnerhöhend - der Kaufpreis erhöht würde und aufgrund dessen der Bescheid des Veräußerungsjahres nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AOzu ändern wäre (Wacker in Schmidt, EStG, 32. Aufl., § 16 Rdnr. 351, 360 ff.). EinLiquiditätsvorteil, der zu verzinsen wäre, träte im vorgenannten Beispielsfall erst zum Zeitpunkt der Verwirklichung des Anspruchs auf einen höheren Veräußerungspreis ein. Eine rückwirkende Verzinsung wäre - wie gesetzlich in § 233a Abs. 2a und Abs. 7 AO auch vorgesehen - nicht gerechtfertigt.
43Der Beklagte hat in seine Ermessenserwägungen nicht einbezogen, dass der Streitfall der Kläger anders liegt als der gesetzliche Regelfall des § 233a Abs. 2a AO. Zwar ist es auch hier so, dass bis zum Ereigniseintritt - d.h. bis zur geänderten Ausübung des Veranlagungswahlrechts - die Steuernachforderung des Beklagten gegen den Ehemann in voller Höhe rechtmäßig war und erst die anderweitige Ausübung des Gestaltungsrechts "Zusammenveranlagung/getrennte Veranlagung" zur Herabsetzung der Steuerschuld führte. Allerdings lässt die Entscheidung des Beklagten die Besonderheit des vorliegenden Einzelfalls unberücksichtigt, dass für den Ehemann bestenfalls ein virtueller Liquiditätsvorteil bestanden haben dürfte, die mit Bescheid vom 06.09.2012 festgesetzte Steuer von EUR 328.175 erst nach Ablauf der 15monatigen Karenzzeit zahlen zu müssen. Denn mit der durch die Feststellungen der Betriebsprüfung begründeten Steuernachforderung ging wirtschaftlich untrennbar einher die geänderte Wahl der Veranlagung der Kläger zur Einkommensteuer 2006; die gemeinsame Wahl der Zusammenveranlagung war somit bedingt durch die geänderte - belastende - Einkommensteuerfestsetzung gegenüber dem Ehemann im Jahr 2012.
44b. In diesem Zusammenhang hat sich der Beklagte auch nicht mit dem Einwand der Kläger auseinandergesetzt, dass sie von Beginn an die Zusammenveranlagung zur Einkommensteuer gewählt hätten, wenn sie bereits ursprünglich Kenntnis von den steuerlich belastenden Feststellungen der Betriebsprüfung bei den Kommanditgesellschaften des Ehemanns gehabt hätten. Hierbei verkennt der Senat nicht, dass sich der Steuerpflichtige grundsätzlich an der Ausübung von steuerlichen Gestaltungsrechten festhalten lassen muss, auch wenn sie ihm bei späterer Erkenntnis zum Nachteil gereichen können. Allerdings hätte der Beklagte - gerade unter Berücksichtigung des vorliegend relevanten Aspekts der Abschöpfung von Liquiditätsvorteilen - in seine Entscheidung einbeziehen müssen, dass die Höhe der Besteuerungsgrundlagen, so wie sie sich in der geänderten Festsetzung vom 06.09.2012 darstellten, im Hinblick auf § 10d Abs. 2 EStG in der im Streitjahr geltenden Fassung (erhöhtes Verlustvortragsrecht bei Zusammenveranlagung) bei ökonomischer Betrachtung ausschließlich eine Zusammenveranlagung der Kläger zuließ. Somit verhält sich der vorliegende Einzelfall hinsichtlich der Wertung der Verzinsung nach § 233a Abs. 2a und Abs. 7 AO nach Auffassung desSenats deutlich anders, als hätten die Kläger bei einer durchgängig unveränderten Besteuerungssituation nachträglich ihr Wahlrecht zu Gunsten der Zusammenveranlagung ausgeübt.
45c. Vor diesem Hintergrund wird sich der Beklagte in seiner erneuten Bescheidung über den Teilerlassantrag auch mit dem Argument auseinandersetzen müssen, dass die Effektivverzinsung nach Maßgabe der Berechnungen der Kläger im Schriftsatz vom 11.09.2012 tatsächlich 13,08 % p.a. und daher mehr als das Doppelte des gesetzlichen Zinssatzes betrug. Zwar sieht das Gesetz - wie dargelegt - bei dem Eintritt eines rückwirkenden Ereignisses unter den Voraussetzungen des § 233a Abs. 7 AO den Lauf mehrerer Zinsreihen sowie die Beibehaltung "erdienter" Zinsen vor. Allerdings wird im Zuge einer billigen Entscheidung im Einzelfall nach § 227 AO vom Beklagten darüber zu befinden sein, ob dies auch dann Geltung beanspruchen kann, wenn bei wirtschaftlicher Betrachtung der Liquiditätsvorteil tatsächlich geringer war als im Änderungsbescheid vom 06.09.2012 zum Ausdruck kam.
464. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 und § 139 Abs. 3 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
475. Revisionszulassungsgründe i.S. von § 115 Abs. 2 FGO liegen nicht vor. Es handelt sich im Hinblick darauf, dass die Aufhebung des Ablehnungsbescheides auf einem Ermessensfehler des Beklagten beruhte, um eine Einzelfallentscheidung auf Grundlage höchstrichterlicher Rechtsprechungsgrundsätze.
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.
Referenzen
This content does not contain any references.