Urteil vom Finanzgericht Münster - 9 K 3457/15 E,F
Tenor
Der Einkommensteuerbescheid 2011 und der Bescheid über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags zur Einkommensteuer auf den 31.12.2011, jeweils vom 19.3.2015 und in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 28.9.2015, werden aufgehoben.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
1
Tatbestand
2Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die steuerlichen Folgen einer Restschuldbefreiung im Streitjahr 2011 zu ziehen sind und ob bejahendenfalls der Einkommensteuerbescheid 2011 und der Verlustfeststellungsbescheid auf den 31.12.2011 gemäß § 129 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) entsprechend geändert werden durfte.
3Die Kläger sind im Streitjahr 2011 zusammenveranlagte Eheleute.
4Aus dem Betrieb eines … in Form eines Einzelunternehmens erwirtschaftete der Kläger erhebliche Verluste. Diese resultierten vorwiegend aus dem bei Kauf der Immobilie unterschätzten Sanierungsbedarf der Immobilie.
5Auf den 31.12.2004 stellte der Beklagte (das Finanzamt --FA--) einen verbleibenden Verlustvortrag zur Einkommensteuer von 1.463.000 € fest.
6Nachdem der Kläger noch das Geschäft zum Jahreswechsel 2004/05 mitgenommen hatte, stellte er den Betrieb des … im Januar 2005 ein.
7Über das Vermögen des Klägers eröffnete das Amtsgericht A am ...3.2005 das Insolvenzverfahren. Während des Insolvenzverfahrens ging der Kläger einer nichtselbständigen Arbeit nach. Abgesehen von Einkünften aus Gewerbebetrieb, die aus der Zeit vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens resultierten, erzielte der Kläger Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung (2005 und 2006) sowie aus Kapitalvermögen (2005 bis 2009). Ab 2008 wurde der Kläger zusammen mit seiner Ehefrau, der Klägerin, zur Einkommensteuer veranlagt; diese erzielte Einkünfte aus Gewerbebetrieb und Vermietung und Verpachtung. Der jeweilige positive Gesamtbetrag der Einkünfte wurde mit dem Verlustvortrag verrechnet, so dass alle Steuerfestsetzungen der Jahre 2005 bis 2010 auf 0 € lauten.
8Nach Ablauf der Wohlverhaltensperiode erteilte das Amtsgericht A dem Kläger zum ….3.2011 die Restschuldbefreiung. Gemäß dem Schlussverzeichnis gemäß § 188 der Insolvenzordnung (InsO) betrug die Summe der anerkannten Verbindlichkeiten zu diesem Zeitpunkt noch 5.527.254,87 €. Gläubiger war u.a. auch das FA. Dieses wurde vom Insolvenzgericht über die Restschuldbefreiung informiert.
9Die Einkommensteuererklärung 2011 reichten die Kläger elektronisch ein. Die Klägerin deklarierte gewerbliche Einkünfte aus dem Betrieb eines Hotels/Restaurants sowie aus Vermietung und Verpachtung; der Kläger erzielte Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit und aus einer Beteiligung an der B. Einkünfte aus Gewerbebetrieb aufgrund der Restschuldbefreiung erklärte der Kläger nicht.
10Der Erklärung fügten die Kläger nicht die ausdrückliche Erläuterung bei, dass es sich auch um eine Erklärung zur gesonderten Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags handeln solle. In dem Übersendungsschreiben zu den Belegen zur Einkommensteuererklärung vom 29.1.2013 erläuterten die Kläger jedoch, der festgestellte Verlustvortrag zur Einkommensteuer werde aufgrund der Restschuldbefreiung nicht weiter vorgetragen.
11In dem Einkommensteuerbescheid 2011 vom 3.4.2013 ging das FA von einem Gesamtbetrag der Einkünfte von 66.737 € aus; dieser wurde mit einem Verlustvortrag in Höhe von 66.737 € verrechnet, so dass das FA wiederum eine Einkommensteuerschuld von 0 € festsetzte.
12Den zum 31.12.2010 festgestellten Verlustvortrag von 1.133.924 € reduzierte das FA entsprechend um einen Betrag von 66.737 € und stellte durch Bescheid vom 3.4.2013 für den Kläger einen verbleibenden Verlustvortrag auf den 31.12.2011 in Höhe von 1.067.187 € fest.
13Bei der Bearbeitung der Steuererklärung 2013 bemerkte das FA, dass der Verlustvortrag fortgeführt wurde, obwohl bereits 2011 die Restschuldbefreiung erteilt worden war. Das FA sah darin eine offenbare Unrichtigkeit i.S. des § 129 Satz 1 AO. Von dieser Rechtsauffassung ausgehend erließ das FA am 19.3.2015 einen nur in den Besteuerungsgrundlagen geänderten Einkommensteuerbescheid 2011, der weiterhin eine Steuerschuld von 0 € auswies. Die Besteuerungsgrundlagen setzten sich wie folgt zusammen (Beträge in €):
14Ehemann Ehefrau Insgesamt
15Einkünfte aus Gewerbebetrieb
16als Einzelunternehmer 1.067.187 46.735
17laut gesonderter Feststellung ./. 224 ./. 224
18Einkünfte 1.066.963 46.511
19Einkünfte aus nichtselbst. Arbeit 18.720
20Wege zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte ./. 1.242
21Aufwendungen für Arbeitsmittel ./. 110
22Übrige Werbungskosten ./. 16
23Einkünfte 17.352
24Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung 0 3.098
25Summe der Einkünfte 1.084.315 49.609 1.133.924
26Gesamtbetrag der Einkünfte 1.084.315 49.609 1.133.924
27Ab Verlustvortrag ./. 1.133.924
28Den Bescheid für den Kläger über den gesonderten Verlustvortrag auf den 31.12.2011 hob das FA durch den auf § 10d Abs. 4 Satz 4, 5 Einkommensteuergesetzes 2009 i.d.F. des Jahressteuergesetzes 2010 vom 8.12.2010 (BGBl. I 2010, 1768) --EStG 2009 n.F.-- gestützten Änderungsbescheid vom 19.3.2015 auf, weil kein vortragsfähiger Verlust verbleibe.
29Gegen die Änderungsbescheide legten die Kläger am 7.4.2015 Einspruch ein, der durch Einspruchsentscheidung vom 28.9.2015 als unbegründet zurückgewiesen wurde.
30Daraufhin haben die Kläger am 2.11.2015 Klage gegen die Änderungsbescheide erhoben. Sie vertreten die Auffassung, eine offenbare Unrichtigkeit liege nicht vor. Ein eigenes mechanisches Versehen des Sachbearbeiters sei nicht feststellbar. Dieser habe vielmehr allein die Angaben aus der Steuererklärung übernommen. Ebenso habe der Sachbearbeiter keinen Übernahmefehler begangen. Angaben zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb fehlten in der Einkommensteuererklärung.
31Jedenfalls sei der Fehler nicht offenbar. Bei isolierter Betrachtung der Einkommensteuererklärung und auch bei Hinzunahme des Anschreibens zur Steuererklärung sei nicht erkennbar, dass die Angaben zu den Einkünften unzutreffend seien. Die Unterlagen enthielten keine Aussage zu einem Sanierungsgewinn. Insbesondere könne deshalb die Erläuterung in dem Änderungsbescheid, dass dem Sachbearbeiter bekannte Daten nicht eingegeben worden seien, nicht zutreffend sein. Erkennbar sei für den Sachbearbeiter allein der Umstand der Restschuldbefreiung gewesen. Der Sachbearbeiter habe sich dann aber fragen müssen, welche rechtlichen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen gewesen seien.
32Insbesondere müsse berücksichtigt werden, dass die Folgen der Restschuldbefreiung rechtlich umstritten und höchstrichterlich noch nicht abschließend geklärt seien (Hinweis auf das anhängige Revisionsverfahren X R 4/15). Komme man zudem mit dem Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 22.12.2009 zu dem Ergebnis, dass ein Gewinn entstehe, bedürfe es weiterhin einer Klärung, wann und in welcher Höhe dieser anzusetzen sei.
33Zwar sei die Neuregelung des § 10d Abs. 4 des EStG 2009 n.F. gemäß § 52 Abs. 25 Satz 5 EStG 2009 erstmals auf Verluste anzuwenden, für die nach dem 13.12.2010 eine Erklärung zur Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs abgegeben worden sei. Für 2009 sei die Erklärung jedoch am 1.3.2011 übermittelt worden und für 2010 am 26.8.2011.
34Die Kläger beantragen,
35den Einkommensteuerbescheid 2011 und den Bescheid über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags zur Einkommensteuer zum 31.12.2011, jeweils vom 19.3.2015 und in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 28.9.2015, aufzuheben,
36hilfsweise, die Revision zuzulassen.
37Das FA beantragt,
38die Klage abzuweisen,
39hilfsweise, die Revision zuzulassen.
40Das FA ist der Auffassung, ein die Berichtigung ausschließender Rechtsfehler könne nur dann angenommen werden, wenn das FA aufgrund von rechtlichen Erwägungen angenommen habe, an die Mitteilung über die Restschuldbefreiung nicht gebunden zu sein oder keine Konsequenzen daraus ziehen zu müssen. Dies könne jedoch vom Grundsatz her ausgeschlossen werden. Es gebe keinerlei Aufzeichnungen oder sonstige Indizien dafür, dass diesbezüglich durch das FA überhaupt Überlegungen irgendwelcher Art angestellt worden seien. Dies weise eindeutig auf ein bloßes Übersehen der Restschuldbefreiung hin. Für ein mechanisches Versehen spreche auch, dass die Kläger selbst in dem Übersendungsschreiben vom 29.1.2013 bereits eindeutig erklärt hätten, dass der festgestellte Verlustvortrag zur Einkommensteuer durch die 2011 gewährte Restschuldbefreiung weggefallen sei. Die Kläger hätten es indes unterlassen, einen entsprechenden Sanierungsgewinn in der Steuererklärung zu deklarieren.
41Nach der Neufassung des § 10d Abs. 4 Satz 4 und 5 EStG 2009 n.F. könne der Verlustfeststellungsbescheid zwar nur geändert werden, wenn der Einkommensteuerbescheid ebenfalls berichtigt werden könne. Nach § 52 Abs. 25 Satz 5 EStG 2009 n.F. sei die Neuregelung erstmals für Verluste anwendbar, für die nach dem 13.12.2010 eine Erklärung zur Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags abgegeben worden sei. Diese Voraussetzung sei im vorliegenden Fall aber nicht erfüllt. Für den Kläger sei erstmals zum 31.12.2000 eine gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags zur Einkommensteuer durchgeführt worden. Seitdem sei der verbleibende Verlustvortrag bis zum 31.12.2011 jährlich fortgeschrieben worden.
42Es handele sich auch nicht um einen nachträglich erklärten Verlust. Eine Erklärung zur gesonderten Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs für 2011 sei nicht eingereicht und eine Verlustfeststellung vom Kläger nicht beantragt worden.
43Auf dem übersandten Erklärungsvordruck sei nicht vermerkt worden, dass es sich um eine Erklärung zur Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags handeln solle. Dies sei für eine Feststellungserklärung jedoch erforderlich (Hinweis auf die Rundverfügung der Oberfinanzdirektion --OFD-- Frankfurt vom 18.2.2014 A-9-St 213, Deutsches Steuerrecht --DStR-- 2014, 1114). Eine formlose Antragstellung auf Durchführung der Verlustfeststellung sei nicht möglich.
44Im Gegensatz zu ihrem Verhalten für den Veranlagungszeitraum 2011 hätten die Kläger zudem für die vorangehenden Veranlagungszeiträume eine Verlustfeststellung stets ausdrücklich beantragt. Dies gelte auch für den Veranlagungszeitraum 2013.
45Der Sach- und Streitstand ist am 5.4.2016 mit den Beteiligten erörtert worden. Hinsichtlich der Einzelheiten des Erörterungstermins wird auf den Inhalt des Protokolls des Erörterungstermins Bezug genommen.
46Durch Telefonate vom 13.7.2016 sind die Beteiligten auf den Umstand hingewiesen worden, dass die Frage der Änderungsbefugnis ggf. dahinstehen könne, weil fraglich erscheine, ob die Restschuldbefreiung überhaupt im Jahre 2011 zu berücksichtigen sei; möglicherweise sei von einer Rückwirkung der Restschuldbefreiung auszugehen.
47Am 21.7.2016 hat der Senat mündlich verhandelt. Auch hier ist die Rückwirkungsproblematik mit den Beteiligten erörtert worden. Hinsichtlich des weiteren Inhalts der mündlichen Verhandlung wird auf das Protokoll Bezug genommen.
48Entscheidungsgründe
49Die Klage ist zulässig und begründet.
50I. Der Zulässigkeit der Klage gegen den Einkommensteuerbescheid 2011 steht nicht entgegen, dass dieser --wie auch schon die erstmalige Festsetzung vom 3.4.2013-- eine Steuerschuld von 0 € ausweist. Es fehlt gleichwohl nicht an der gemäß § 40 Abs. 2 FGO notwendigen Beschwer, weil nach den allgemeinen Grundsätzen zur Beschwer durch einen Feststellungsbescheid die zu niedrige Verlustfeststellung ohne Berücksichtigung der konkreten steuerlichen Auswirkungen ausreichend ist (Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 40 FGO Rz. 65, m.w.N.) und dem Einkommensteuerbescheid 2011 eine Wirkung gleichsam einem Grundlagenbescheid zukommt. Gemäß § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG 2009 n.F. sind die Besteuerungsgrundlagen bei der Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags so zu berücksichtigen, wie sie den Steuerfestsetzungen des Veranlagungszeitraums, auf dessen Schluss der verbleibende Verlustvortrag festgestellt wird, zugrunde gelegt worden sind. Obwohl die Steuerfestsetzung hierdurch formal nicht den Charakter eines Grundlagenbescheids gewinnt, entfaltet sie inhaltlich doch eine Bindungswirkung für die Verlustfeststellung (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 13.1.2015 IX R 22/14, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs --BFHE-- 248, 530, Bundessteuerblatt --BStBl-- II 2015, 829; vom 10.2.2015 IX R 6/14, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs, ehemals Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des Bundesfinanzhofs --BFH/NV-- 2015, 812).
51Der Senat übersieht nicht, dass nach § 10d Abs. 4 Satz 5 EStG 2009 n.F. die Besteuerungsgrundlagen bei der Feststellung abweichend von Satz 4 berücksichtigt werden dürfen, wenn die Aufhebung, Änderung oder Berichtigung der Steuerbescheide ausschließlich mangels Auswirkung auf die Höhe der festzusetzenden Steuer unterbleibt. Dies ist namentlich der Fall, wenn der Steuerbescheid eine Steuer von 0 € festsetzt (BFH-Urteil in BFH/NV 2015, 812). Ein solcher Fall liegt jedoch nicht vor, weil das FA trotz fehlender betragsmäßiger Änderung der Steuerschuld formal einen Änderungsbescheid erlassen hat und die Änderung daher gerade nicht unterblieben ist (im Ergebnis ebenso Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 16.2.2016 10 K 3686/13 F, Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2016, 662; Zwischengerichtsbescheid des FG Berlin-Brandenburg vom 28.4.2016 3 K 3106/15, EFG 2016, 1091; a.A. Beschluss des Hessischen Finanzgerichts vom 29.10.2015 4 K 307/15, juris).
52Entgegen der Auffassung des FA ist die Regelung des § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG 2009 n.F. auch zeitlich bereits anwendbar. § 10d Abs. 4 Satz 4 und 5 EStG 2009 n.F. ist gemäß § 52 Abs. 25 Satz 5 EStG 2009 n.F. erstmals auf Verluste anwendbar, für die nach dem 13.12.2010 eine Erklärung zur Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags abgegeben wird. Dies war hier der Fall. Denn die Kläger gaben ihre Einkommensteuererklärung am 29.1.2013 ab und teilten mit Schreiben vom selben Tag dem FA mit, der festgestellte Verlustvortrag zur Einkommensteuer werde aufgrund der 2011 erfolgten Restschuldbefreiung nicht weiter vorgetragen. Hierbei mag es sich zwar nicht um eine Erklärung auf amtlichem Vordruck handeln (diese verlangt die Rundverfügung der OFD Frankfurt vom 18.2.2014 A-9-St 213, DStR 2014, 1114 ); der Wortlaut des § 52 Abs. 25 Satz 5 EStG 2009 n.F. verlangt eine solche Erklärung aber nicht ausdrücklich (im Ergebnis ebenso Urteil des Finanzgerichts Köln vom 16.2.2016 10 K 2574/15, EFG 2016, 1109 Rz. 21-22 --Az. des BFH: I R 25/16--). Ebenso wenig wird eine Erklärung auf amtlichen Vordruck in den Gesetzesmaterialien vorausgesetzt (Bundestagsdrucksache --BTDrucks.-- 17/2249, 63). Auch der Sinn und Zweck weder des § 10d Abs. 4 Satz 4 und 5 EStG 2009 n.F. noch des § 52 Abs. 25 Satz 5 EStG 2009 n.F. erfordern eine enge Auslegung dergestalt, dass es sich um eine Erklärung auf amtlichem Vordruck handeln müsste. Der Zweck des § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG 2009 n.F., zeitnah eine verbindliche Entscheidung über die Höhe des in zukünftigen Veranlagungszeiträumen abziehbaren Verlusts zu erreichen und damit der Steuervereinfachung und dem Rechtsfrieden zu dienen (BTDrucks. 17/2249, 51), spricht dafür, auch formlose Mitteilungen über die Höhe des festzustellenden Verlustvortrags ausreichen zu lassen. Den --vom Gesetzgeber gewollten-- größtmöglichen Gleichlauf zwischen dem Steuerbescheid und dem Verlustfeststellungsbescheid konnte dieser nur erreichen, wenn es gleichgültig ist, ob es sich um eine auf amtlichem Vordruck erstellte Feststellungserklärung handelt.
53Im vorliegenden Fall kommt erschwerend hinzu, dass unstreitig die Erklärungen zu der gesonderten Feststellung des vortragsfähigen Verlusts auf den 31.12.2010 am 26.8.2011 und auf den 31.12.2009 am 1.3.2011, jeweils also deutlich nach dem 13.12.2010 bei dem FA abgegeben worden sind. Da für diese beiden Verlustfeststellungen unstreitig § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG 2009 n.F. anwendbar ist, geht der Senat davon aus, dass allein deshalb auch für die Verlustfeststellung auf den 31.12.2011 die Neuregelung Anwendung findet. § 52 Abs. 25 Satz 5 EStG 2009 n.F. befasst sich mit der erstmaligen Anwendbarkeit des § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG 2009 n.F. Es ist nicht davon auszugehen, dass es dem Willen des Gesetzgebers entspricht, dass die Regelung, nachdem sie einmal einschlägig war, in Folgejahren unbeachtlich sein sollte. Der Zweck der Neuregelung gebietet es vielmehr, die einmal hergestellte Konnexität der Steuerfestsetzung und der Verlustfeststellung lückenlos fortzuführen.
54II. Die Klage ist auch begründet. Die Änderungsbescheide sind rechtswidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten (vgl. § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Zu Unrecht ist das FA davon ausgegangen, dass der Einkommensteuerbescheid 2011 und die Verlustfeststellung auf den 31.12.2011, jeweils vom 3.4.2013, geändert werden durften. Eine Anwendung der im schriftlichen Verfahren diskutierten Korrekturvorschriften (§ 129 Satz 1 AO bzw. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO) scheidet im vorliegenden Fall schon deshalb aus, weil die Ausgangsbescheide materiell nicht rechtswidrig waren Die Restschuldbefreiung wirkte sich auf die Besteuerungsgrundlagen des Jahres 2011 nicht aus. Zwar führte die Restschuldbefreiung zu einem Gewinn, weil sie sich auf betriebliche Schulden eines Einzelunternehmers bezog; steuerlich wirkte sie aber auf den Zeitpunkt der Betriebsaufgabe i.S. des § 16 EStG 2002 zurück, d.h. hier auf den Zeitpunkt der Betriebseinstellung, die nach dem unbestrittenen Vortrag der Kläger in der mündlichen Verhandlung etwa im Januar 2005 vor der Insolvenzeröffnung erfolgte.
551. Durch die Restschuldbefreiung des Klägers ist dem Grunde nach ein steuerbarer Gewinn entstanden. Die Erteilung der Restschuldbefreiung wirkt faktisch ähnlich wie ein Forderungsverzicht der Gläubiger und führt bei einem Schuldner, der vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens einen Geschäftsbetrieb geführt hat, hinsichtlich der zum Betrieb gehörenden Verbindlichkeiten zu einer Betriebsvermögensmehrung, die grundsätzlich einen außerordentlichen Ertrag darstellt (Roth, Insolvenzsteuerrecht, 2. Aufl. 2016, 2016, Rz. 4.33; i. Erg. ebenso BMF-Schreiben vom 22.12.2009 IV C 6-S 2140/07/100001-01, BStBl I 2010, 18; Boochs, Betriebs-Berater --BB-- 2011, 857, 860; a.A. Thouet/Baluch, Der Betrieb --DB-- 2008, 1595, 1597 f., unter Annahme einer rein privaten Natur der Restschuldbefreiung). Zwar mag die Restschuldbefreiung rechtlich nicht zu einem Erlöschen der Verbindlichkeiten des Insolvenzschuldners führen, sondern lediglich zu deren Umwandlung in unvollkommene Verbindlichkeiten, deren Erfüllung von da ab --d.h. ex nunc-- freiwillig möglich ist, jedoch nicht mehr erzwungen werden kann (so BFH-Urteil vom 3.2.2016 X R 25/12, BFHE 252, 486, BStBl II 2016, 391; Braun/Pehl, InsO, 6. Aufl. 2014, § 301 Rz. 2; Stephan in Kirchhof/Stürner/Eidenmüller, Münchener Kommentar InsO, 3. Aufl. 2014, § 301 Rz. 18; Waltenberger in Kayser/Thole, Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 8. Aufl. 2016, § 301 Rz. 1). Derartige Schulden stellen jedoch zumindest in der Regel keine wirtschaftliche Belastung mehr dar und die entsprechenden Verbindlichkeiten sind deshalb gewinnerhöhend aufzulösen (vgl. BFH-Urteil vom 27.3.1996 I R 3/95, BFHE 180, 155, BStBl II 1996, 470; BFH-Beschluss vom 15.02.2000 X B 121/99, BFH/NV 2000, 1450). Dies ist im vorliegenden Fall nach Lage der Akten in Höhe von 5.527.254,87 € der Fall.
562. Auch wenn die Restschuldbefreiung zu einem Wegfall der Belastung durch die entsprechenden betrieblichen Verbindlichkeiten führt, entsteht der Gewinn in dem hier vorliegenden Fall einer Betriebsaufgabe bereits vor der Insolvenzeröffnung steuerrechtlich nicht im Jahr der Restschuldbefreiung, sondern ist dem Jahr zuzurechnen, in dem der Betrieb i.S. des § 16 EStG 2002 aufgegeben worden ist (wie hier Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 175 AO für den Fall einer Betriebsaufgabe zeitgleich mit der Insolvenzeröffnung, aber anders zu § 251 AO Rz. 121a; zur Rückwirkung ebenso, allerdings einen betrieblichen Vorgang verneinend Thouet/Baluch, DB 2008, 1595, 1596; a.A. BMF-Schreiben vom 22.12.2009 IV C 6-S 2140/07/10001-01, BStBl I 2010, 18; Boochs, BB 2011, 857, 860; offen gelassen im Urteil des Finanzgerichts Baden-Württemberg vom 21.10.2014 5 K 4719/10, juris --Az. des BFH: X R 4/15--).
57a) Bei den laufend veranlagten Steuern wie der Einkommensteuer sind die aufgrund des Eintritts neuer Ereignisse materiell-rechtlich erforderlichen steuerlichen Anpassungen regelmäßig nicht rückwirkend, sondern in dem Besteuerungszeitraum vorzunehmen, in dem sich der maßgebende Sachverhalt ändert (BFH-Beschluss vom 19.7.1993 GrS 2/92, BFHE 172, 66, BStBl II 1993, 897; BFH-Urteil vom 19.8.2009 I R 3/09, BFHE 226, 486, BStBl II 2010, 249). Dieser Grundsatz gilt jedoch nur, als sich nicht aus den einschlägigen gesetzlichen Regelungen ergibt, dass eine Änderung des nach dem Steuertatbestand rechtserheblichen Sachverhalts zu einer rückwirkenden Änderung steuerlicher Rechtsfolgen führt. Eine solche Rechtslage ist insbesondere bei Steuertatbeständen gegeben, die an einen einmaligen Vorgang anknüpfen, und bei denen nachträgliche Änderungen nicht in einer Folgebilanz oder nach den Grundsätzen des Zuflussprinzips in einem späteren Veranlagungszeitraum berücksichtigt werden können (BFH-Urteil in BFHE 226, 486, BStBl II 2010, 249). Durch die Rückwirkung soll eine sachgerechte (Einmal-) Besteuerung nach Maßgabe des einschlägigen Besteuerungstatbestandes erfolgen (BFH-Urteil vom 22.12.2010 I R 58/10, BFHE 232, 185, BStBl II 2015, 668). Von einer derartigen Rückwirkung geht der BFH auch in Bezug auf späteren Erlass fortgeführter Betriebsschulden nach einer Betriebsaufgabe aus (BFH-Urteile vom 6.3.1997 IV R 47/95, BFHE 183, 78, BStBl II 1997, 509; vom 12.10.2005 X R 20/03, BFH/NV 2006, 713; vom 23.2.2012 IV R 31/09, BFH/NV 2012, 1448; vgl. auch zur späteren Uneinbringlichkeit der Kaufpreisforderung nach einer Betriebsveräußerung BFH-Beschluss in BFHE 172, 66, BStBl II 1993, 897). Zu den Maßstäben einer sachgerechten Besteuerung zählt insbesondere, ein verfassungsrechtlich bedenkliches Übermaß an Besteuerung, andererseits aber auch eine Überentlastung zu vermeiden (Schmidt/Wacker, EStG, 35. Aufl. 2016, § 16 Rz. 351), m.a.W. eine Besteuerung nach der tatsächlichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen zu gewährleisten.
58b) Die vorliegend in Rede stehende Restschuldbefreiung ist --wie bereits dargelegt-- wirtschaftlich mit einem Erlass der fortgeführten Betriebsschulden vergleichbar, und bereits dies spricht dafür, ihr ebenso Rückwirkung für die Höhe des Betriebsaufgabegewinns beizumessen.
59c) Außerdem lässt sich eine sachgerechte Besteuerung nach der tatsächlichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit im vorliegenden Fall nur durch die Annahme realisieren, dass die Restschuldbefreiung im Jahre 2011 auf das Jahr 2005 zurückwirkt.
60Hierbei wird nicht bestritten, dass die Umwandlung in eine Naturalobligation erst durch den Beschluss erfolgt, mit dem die Restschuldbefreiung gewährt wird und daher auch erst in diesem Zeitpunkt der Gewinn entstanden sein kann (so auch Loose in Tipke/Kruse, a.a.O., § 251 AO Rz. 121a; Thouet/Baluch, DB 2008, 1595, 1596). Dieser Umstand steht einer Rückwirkung aber nicht entgegen, sondern ist im Gegenteil ihr Ausgangspunkt (vgl. auch Thouet/Baluch, DB 2008, 1595, 1596).
61Ginge man davon aus, dass die Restschuldbefreiung nicht nur im Jahre 2011 zu einem Gewinn geführt hat, sondern dass dieses Ereignis auch nicht auf den Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens zurückwirkt, hätte dies zur --nicht überzeugenden-- Konsequenz, dass der Kläger als Insolvenzschuldner rückblickend zwar seit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens durch die Verbindlichkeiten wirtschaftlich allenfalls noch eingeschränkt belastet war, er (und teilweise auch die Klägerin) aber gleichwohl die festgestellten und vorgetragenen Verluste nutzen konnten, die ihre Ursache in den nämlichen betrieblichen Verbindlichkeiten hatten. Hierdurch würde der Sinn des Verlustvortrags, die intertemporale wirtschaftliche Leistungsfähigkeit angemessen steuerlich widerzuspiegeln (Blümich/Schlenker, § 10d EStG Rz. 6), konterkariert.
62Gegenüber den Klägern waren während des Insolvenzverfahrens Einkommensteuerbescheide erlassen worden, in denen auch Teile des festgestellten Verlustvortrags verbraucht worden sind und deshalb jeweils eine Einkommensteuerschuld von 0 € festgesetzt worden ist. Der Erlass der Einkommensteuerbescheide war verfahrensrechtlich trotz der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Klägers möglich. Gegenüber dem Insolvenzschuldner kann auch dann noch ein Steuerbescheid erlassen werden, soweit die Einkommensteuerschulden keine Masseverbindlichkeiten darstellen, bspw. bei Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit (vgl. BFH-Urteile vom 24.2.2011 VI R 21/10, BFHE 232, 318, BStBl II 2011, 520, und vom 27.7.2011 VI R 9/11, BFH/NV 2011, 2111). Solche hatte auch der Kläger während der Dauer des Insolvenzverfahrens bezogen.
63Mit dem Gebot einer Besteuerung nach der tatsächlichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit erscheint dem erkennenden Senat diese Bescheidlage nicht vereinbar. Denn die Kläger haben Nullfestsetzungen durch die Nutzung von Verlusten erreicht, durch die der Kläger rückblickend seit Eröffnung des Insolvenzverfahrens wirtschaftlich allenfalls noch eingeschränkt belastet war und die deshalb auch nicht zum Ausgleich positiver Einkünfte dienen durften. Bei einem planmäßig ablaufenden Insolvenzverfahren bildet die Restschuldbefreiung lediglich den Schlusspunkt, durch den feststeht, dass Verbindlichkeiten endgültig nicht mehr erfüllt werden müssen. Begonnen hat dies aber bereits mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Bereits mit diesem Zeitpunkt entsteht ein Durchsetzungshindernis (vgl. §§ 87, 89 InsO). Gläubiger können ihre Forderungen nur noch nach den Vorschriften der Insolvenzordnung verfolgen (§ 87 InsO), d.h. sie müssen ihre Forderungen nach § 174 InsO zur Insolvenztabelle anmelden und können nur aus der vorhandenen Insolvenzmasse befriedigt werden, aber nicht mehr selbst und unmittelbar auf den Insolvenzschuldner zugreifen. Der Insolvenzverwalter ist nicht verpflichtet und grundsätzlich auch nicht berechtigt, auf in der Durchsetzbarkeit eingeschränkte Forderungen zu leisten. Dieses Durchsetzbarkeitshindernis wird durch die Restschuldbefreiung (§ 286 InsO) endgültig (Roth, a.a.O., Rz. 4.34).
64Nicht von der Hand zu weisen ist, dass die Rückwirkung --auch im vorliegenden Fall-- zu erheblichen steuerlichen Auswirkungen führt. Ebenfalls wird nicht verkannt, dass allein hierdurch im unmittelbaren Anschluss an die Restschuldbefreiung eine erneute wirtschaftliche Notlage der Kläger eintreten kann. Dies ändert aber nichts an der Richtigkeit des Auslegungsergebnisses des Senats; vielmehr stellt sich die Frage, ob die ggf. eintretenden und unbillig erscheinenden Folgen durch einen Billigkeitserweis i.S. der §§ 163, 227 AO abzumildern sind, weil es nicht im Sinne des Gesetzgebers sein kann, durch die Restschuldbefreiung ggf. unmittelbar ein neues Insolvenzverfahren zu provozieren (Kroeschel/Wellisch, DStR 1998, 1661, 1664; vgl. auch Loose, EFG 2011, 647). Hiervon geht jedenfalls die Finanzverwaltung dem Grunde nach aus (BMF-Schreiben vom 22.12.2009 IV C 6-S 2140/07/100001-01, BStBl I 2010, 18). Gerade der Umstand, dass auch sie die Notwendigkeit einer Billigkeitsmaßnahme bejaht, obwohl sie sich gegen die Rückwirkung der Restschuldbefreiung ausspricht, zeigt zudem, dass auch ohne Rückwirkung ein existenzgefährdender Widerspruch zu dem Sinn und Zweck der Restschuldbefreiung entstehen kann.
65Dem Ergebnis des erkennenden Senats kann schließlich nicht entgegen gehalten werden, von einer Rückwirkung dürfe aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung nicht ausgegangen werden. Zwar übersieht der Senat nicht, dass durch die Annahme eines rückwirkenden Ereignisses ggf. bestandskräftige Veranlagungen und Feststellungen zu ändern sind. Die Auslegung eines Steuertatbestandes muss sich jedoch an der materiellen Richtigkeit des Ergebnisses ausrichten; die Verfahrenspraktikabilität ist in erster Linie vom Gesetzgeber bei Erlass des materiellen Tatbestands zu beachten (BFH-Urteil vom 9.1.2013 I R 33/11, BFHE 240, 226). Sie kann jedenfalls nicht Anlass sein, das Ergebnis der Auslegung eines materiellen Tatbestands in ihr Gegenteil zu verkehren. Darüber hinaus vermag der Senat auch nicht zu erkennen, dass durch die Annahme einer Rückwirkung ein Verwaltungsaufwand verursacht wird, der die steuerliche Behandlung der Restschuldbefreiung letztlich nicht handhabbar macht.
66III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
67IV. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
68V. Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) zuzulassen. Die Frage, ob die Restschuldbefreiung steuerlich zurückwirkt, ist bislang nicht abschließend geklärt.
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