Urteil vom Finanzgericht Münster - 4 K 3115/14 Kg
Tenor
Der Änderungsbescheid der Beklagten vom 15. März 2013 und die Einspruchsentscheidung vom 4. September 2014 werden aufgehoben, soweit sie das Kindergeld für das Kind U von Mai 2010 bis Juni 2012 und für das Kind K von Mai 2010 bis September 2012 betreffen.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
1
Tatbestand
2Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Kindergeld ab Mai 2010 und zwar für das Kind U bis einschließlich Juni 2012 und für das Kind K bis einschließlich September 2012.
3Die Klägerin ist deutsche Staatsangehörige. Sie wohnte im Streitzeitraum gemeinsam mit ihren beiden Kindern U (geb. 00. 00 19xx) und K (geb. 00. 00 19xx) sowie dem niederländischen Vater der Kinder, Herrn S I , in Deutschland. Sowohl die Klägerin als auch der Vater der Kinder gingen einer selbständigen Erwerbstätigkeit als Zahnärzte nach, die sie ausschließlich in den Niederlanden ausübten. Die Klägerin war ferner im Streitzeitraum Mitglied im Rat der Gemeinde J (§ 18 des Einkommensteuergesetzes - EStG -). Der Vater der Kinder hatte sein Einverständnis mit der Zahlung des Kindergeldes an die Klägerin erklärt.
4Mit (neuerlichem) Kindergeldantrag vom 24. April 2012 teilte die Klägerin der Beklagten mit, dass sie seit 2002 in den Niederlanden eine selbständige Tätigkeit ausübe.
5Daraufhin fragte die Beklagte mit Schreiben vom 17. Januar 2013 bei der Sociale Verzekeringsbank (SVB) in den Niederlanden an, wie hoch das niederländische Kindergeld bei rechtzeitiger Antragstellung gewesen wäre.
6Mit Bescheid vom 15. März 2013 änderte die Beklagte die für die Kinder U und K bestehenden Kindergeldfestsetzungen betreffend den Zeitraum von Mai 2010 bis Dezember 2012 gem. § 70 Abs. 2 EStG gegenüber der Klägerin auf Differenzkindergeld ab, weil aufgrund der nunmehr bekannt gewordenen Erwerbstätigkeit in den Niederlanden ein - unionsrechtlich vorrangiger - Kindergeldanspruch bestehe. Hinsichtlich der Berechnung der Differenzbeträge wird auf den Bescheid Bezug genommen.
7Gegen die Änderung wandte sich die Klägerin mit dem Einspruch.
8Nachdem die Klägerin (und der Vater der Kinder) zunächst in den Niederlanden keinen Antrag auf niederländisches Kindergeld gestellt und solches auch nicht bezogen hatten, stellte die Klägerin am 31. Oktober 2013 einen solchen Antrag. Aus einer späteren Mitteilung der SVB gegenüber der Beklagten (Schreiben vom 25. September 2014) ergibt sich, dass Familienleistungen höchstens ein Jahr rückwirkend erfolgen und der Klägerin daher ab 1. Oktober 2012 niederländisches Kindergeld gewährt worden ist.
9In der Einspruchsentscheidung vom 4. September 2014 änderte die Beklagte den Bescheid im Hinblick auf den Umfang der zurückzuerstattenden Leistungen für den Zeitraum vom Mai 2010 bis Mai 2012 ab und wies den Einspruch im Hinblick auf dieGewährung nur von Differenzkindergeld im Kern mit der Begründung des Änderungsbescheides vom 15. März 2013 als unbegründet zurück.
10Die Klägerin begehrt mit ihrer Klage die Gewährung vollen deutschen Kindergeldes. Da weder sie noch der Vater der Kinder in den Niederlanden für den Streitzeitraum tatsächlich einen Kindergeldantrag gestellt hätten, könne solches auch nicht angerechnet werden. Die Klägerin sei auch zu keinem Zeitpunkt auf eine Antragstellung in den Niederlanden hingewiesen worden. Im Übrigen wird auf das Vorbringen der Klägerin Bezug genommen.
11Die Klägerin beantragt,
12den Bescheid vom 15. März 2013 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom4. September 2014 insoweit aufzuheben, als der Einspruch als unbegründet zurückgewiesen wird.
13Die Beklagte beantragt,
14die Klage abzuweisen.
15Sie verweist auf die Einspruchsentscheidung.
16Der Berichterstatter hat die Sache am 4. Mai 2016 mit den Beteiligten in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht erörtert. Auf das Terminsprotokoll wird Bezug genommen.
17Die Beteiligten haben auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung verzichtet (§ 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
18Entscheidungsgründe
19Die Klage ist begründet.
20Die angefochtenen Änderungsbescheide und die Einspruchsentscheidung sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten, § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO. Der Klägerin steht für den Streitzeitraum unvermindertes Kindergeld zu.
211. Die in Deutschland wohnende Klägerin erfüllt in Bezug auf ihre beiden im Streitzeitraum noch minderjährigen Kinder die national-rechtlichen Anforderungen an die Gewährung von Kindergeld (§§ 62 Abs. 1 Nr. 1, 63 Abs. 1, 64 Abs. 2 Satz 2 EStG). Das bedarf keiner näheren Darlegung und ist zwischen den Beteiligten auch nicht umstritten. Hinsichtlich des Streitzeitraums wird auf das Protokoll des Erörterungstermins vom4. Mai 2016 Bezug genommen.
222. Eine Anrechnung niederländischen Kindergeldes kommt aus unionsrechtlichen Gründen nicht in Betracht.
23a) Im Streitfall ist die seit Mai 2010 - und damit im Streitzeitraum - geltende Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO Nr. 883/2004) i.V.m. Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO Nr. 987/2009) anzuwenden (vgl. Art. 91 Abs. 2 VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 97 Abs. 1 Satz 2 VO Nr. 987/2009). Ihr persönlicher und sachlicher Anwendungsbereich sind eröffnet. Die Klägerin ist deutsche Staatsangehörige (Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004) und das Kindergeld ist eine Familienleistung i.S. des Art. 3 Abs. 1 Buchst. j) i.V.m. Art. 1 Buchst. z) der VO Nr. 883/2004 (vgl. dazu etwa BFH-Urteil vom 10. März 2016 III R 62/12, BFHE 253, 236). Die Klägerin unterliegt nach Art. 11 Abs. 1, Abs. 3 Buchst. a) der VO Nr. 883/2004 aufgrund ihrer selbständigen Erwerbstätigkeit in den Niederlanden den niederländischen Rechtsvorschriften. Das gilt unbeschadet der Frage, ob die ehrenamtliche Tätigkeit der Klägerin als Ratsmitglied als Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit anzusehen sein könnte, weil der Tätigkeit als Ratsmitglied allenfalls eine untergeordnete Bedeutung beizumessen ist und sie jedenfalls keinen wesentlichen Teil ihrer gesamten Tätigkeit ausmacht (vgl. Art. 13 der VO Nr. 883/2004). Der Anwendung der deutschen Kindergeldvorschriften steht die unionsrechtliche Unzuständigkeit Deutschlands indessen nicht entgegen (vgl. BFH-Urteil vom 4. Februar 2016 III R 9/15, BFHE 253, 139).
24b) Sind für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren, gilt Art. 68 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 - der der Sache nach an die Stelle der zuvor anwendbaren Art. 76 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (VO Nr. 1408/71) sowie Art. 10 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der VO (EWG) Nr. 1408/71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (VO Nr. 574/72) getreten ist. Die Vorschrift unterscheidet den vorrangig zuständigen Staat, der ohne Weiteres uneingeschränkt Kindergeld zu gewähren hat (Art. 60 Abs. 2 der VO Nr. 987/2009; vgl. auch DA 214.2 Abs. 4, 214.5), vom nachrangig zuständigen Staat, in dem die Ansprüche auf Familienleistungen ausgesetzt werden und zwar bis zur Höhe der vom vorrangig zuständigen Staat vorgesehenen Leistungen (Art. 68 Abs. 2 der VO Nr. 883/2004).
25Zur Anwendbarkeit des Art. 68 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 hat der EuGH allerdings im Urteil vom 22. Oktober 2015 C-378/14 „Trapkowski“, Rn. 32 - unter Verweis auf seinUrteil vom 14. Oktober 2010 C-16/09 „Schwemmer“, Rn. 52 - darauf hingewiesen, dass es nach seiner ständigen Rechtsprechung für die Annahme, dass in einem bestimmten Fall eine Kumulierung vorliegt, nicht genügt, dass Leistungen in dem Mitgliedstaat, in dem das betreffende Kind wohnt, geschuldet werden und zugleich in einem anderen Mitgliedstaat, in dem ein Elternteil dieses Kindes arbeitet, lediglich potenziell gezahlt werden können (i.d.S. auch FG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21. Oktober 20133 K 3137/12, EFG 2014, 214). Diesen Gedanken hat der BFH unter Geltung der VO Nr. 1408/71 auch dann für anwendbar gehalten, wenn die Kumulation in der Person desselben Steuerpflichtigen vorliegt (vgl. BFH-Urteile vom 5. September 2013 XI R 52/10, BFH/NV 2014, 33; vom 18. Juli 2013 III R 51/09, BFHE 242, 222). Der Senat erkennt keinen Grund dafür, dass es sich nach neuer Unionsrechtslage anders verhalten könnte, zumal der Wortlaut des Art. 68 Abs. 1 Hs. 1 der VO Nr. 883/2004 ohne Weiteres auch die intrapersonelle Kollision erfasst.
26c) Nach diesen Maßgaben bedarf es keiner weiteren Ausführungen zum Vor- oder Nachrang Deutschlands im Rahmen des Art. 68 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004, weil Deutschland auch als nachrangig zuständiger Staat unter den Umständen des Streitfalls keine Anrechnung nur fiktiven, nicht tatsächlich gezahlten niederländischen Kindergeldes vornehmen dürfte. Weder die Klägerin noch der Kindesvater haben im Streitfall- trotz (seinerzeit) unstreitig bestehenden Anspruchs - in den Niederlanden tatsächlich niederländische Familienleistungen bezogen.
27Dem steht unter den Umständen des Streitfalls nicht entgegen, dass Art. 68 Abs. 3 Buchst. a) der VO Nr. 883/2004 nahelegen könnte, dass der nachrangig zuständige Staat - unbeschadet der tatsächlichen Gewährung von Kindergeld im Ausland - (lediglich) Differenzkindergeld zu gewähren hat. Die Regelung hat den verordnungsmäßigen Regelablauf des Art. 68 Abs. 2, 3 der VO Nr. 883/2004 vor Augen. Dieser sieht vor, dass ein nachrangig zuständiger Staat - und nur dann käme im Streitfall die Gewährung von Differenzkindergeld in Betracht - den Antrag auf Grundlage der Verordnung an den vorrangig zuständigen Staat weiterleitet, damit dieser den dortigen Kindergeldanspruch auf der Grundlage der zeitlichen Fiktionswirkung (Art. 68 Abs. 3 Buchst. b) der VO Nr. 883/2004) prüfen kann. Dieser Ablauf, der im Übrigen auch der Durchführungsanweisung zum über- und zwischenstaatlichen Recht der Familienkasse Direktion (DA 214.821) entspricht, ist indessen im Streitfall nicht eingehalten worden. Die Beklagte bzw. die zuvor zuständige Familienkasse D gingen vielmehr (fälschlich) davon aus, dass aus Rechtsgründen ohne Weiteres eine fiktive Anrechnung vorzunehmen ist (vgl. etwa Vermerk Bl. 55, 71 der elektronischen Kindergeldakte). Und auch die spätere tatsächliche Kindergeldgewährung in den Niederlanden ab Oktober 2012 erfolgte auf Antrag der Klägerin vom 31. Oktober 2013 und daher ohne Rücksicht auf die unionsrechtliche zeitliche Fiktionswirkung. Jedenfalls für eine solche (Ausnahme‑)Konstellation kommt nach den Grundsätzen der dargelegten Trapkowski/Schwemmer-Rechtsprechung des EuGH eine fiktive Anrechnung jedenfalls nicht in Betracht.
28Anders als die Beklagte meint, ändert es an diesem Ergebnis nichts, dass die Klägerin ihr die Änderung ihrer beruflichen Verhältnisse im Jahr 2002 erstmals im Jahr 2012 mitgeteilt hat. Zum einen ist - angesichts des unterlassenen verordnungsmäßigen Vorgehens der Beklagten - im Streitfall schon nicht hinreichend erkennbar, inwieweit sich diese Mitwirkungspflichtverletzung der Klägerin überhaupt ausgewirkt hat. Zum anderen gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin hinsichtlich der unterlassenen Antragstellung in den Niederlanden missbräuchlich gehandelt haben könnte („bewusste Schädigung“, vgl. Blümich/Treiber, § 65 EStG, Rn. 13, 57). Diesbezüglich gibt weder die Aktenlage noch der Vortrag der Beklagten etwas her. Auch drängt es sich jedenfalls nicht auf, dass in den Niederlanden ein Kindergeldanspruch (auch) aufgrund einer Erwerbstätigkeit gewährt wird; die Klägerin ging offenbar von der alleinigen Maßgeblichkeit des Wohnsitzes aus (vgl. Hinweis der Klägerin Bl. 7 der elektronischen Kindergeldakte). Im Übrigen spricht für einen Missbrauch aber auch deswegen nichts, weil sich die Klägerin durch ihr Verhalten nicht hätte besserstellen können. Denn die von ihr insgesamt zu beanspruchende Zahlung wäre bei einer Differenzkindergeldpflicht Deutschlands im Ergebnis ebenso hoch gewesen.
29Sollte das unionsrechtlich vorgesehene Verfahren der Antragsweiterleitung - nachträglich - mit abweichendem Ergebnis (wegen der (zeitlichen) Fiktionswirkung des Art. 68 Abs. 3 Buchstabe b) der VO Nr. 883/2004) später noch durchlaufen werden und in den Niederlanden für die streitigen Zeiträume noch Kindergeld gewährt werden, wäre in Deutschland eine nachträgliche Anrechnung auf der Grundlage von § 70 Abs. 2 EStG (zur rückwirkenden Änderung der Verhältnisse s. BFH-Urteil vom 28. November 2006III R 6/06, BFHE 216, 138, BStBl II 2007, 717) oder § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO (rückwirkendes Ereignis) in Betracht zu ziehen. Der Senat hält es aus diesem Grund weder für geboten noch für zweckmäßig, das Klageverfahren auszusetzen, um der Beklagten eine Weiterleitung des Kindergeldantrags aufzugeben.
30d) Im (sachlichen und persönlichen) Anwendungsbereich des Unionsrechts bleibt die Anwendung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG auch nach neuer Verordnungslage ausgeschlossen (vgl. BFH-Urteil vom 4. Februar 2016 III R 9/15, BFHE 253, 139; zur alten Rechtslage BFH-Urteile vom 5. September 2013 XI R 52/10, BFH/NV 2014, 33 und vom 18. Juli 2013 III R 51/09, BFHE 242, 222; wohl a.A. Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, VO Nr. 883/2004, Art. 68, Rn. 10 f.).
314. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
325. Die Revision war nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen.
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