Urteil vom Niedersächsisches Finanzgericht (15. Senat) - 15 K 249/11

Tatbestand

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Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte (Familienkasse) den Kindergeldantrag des Klägers für seine drei Kinder für die Monate Mai 2004 bis Dezember 2005 neu zu bescheiden hat.

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Der Kläger wohnt mit seiner Ehefrau und seinen drei Kindern … in Polen. Der polnische Arbeitgeber entsandte den Kläger u. a. in den Zeiten vom 26. September 2004 bis 25. September 2005 … in einen Betrieb in Deutschland. Ausweislich der Arbeitgeberbescheinigungen bestand in diesen Zeiten kein Versicherungspflichtverhältnis zur Bundesagentur für Arbeit.

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Mit Schreiben seines späteren Prozessbevollmächtigten bat der Kläger am 30. Dezember 2009 die Familienkasse um Mitteilung des Sachstandes bei der Bearbeitung eines vor einem Jahr gestellten Kindergeldantrags. Weitere Angaben enthielt dieses Schreiben nicht, auch waren keine Anlagen beigefügt. Die Familienkasse teilte dem Kläger hierauf mit Schreiben vom 4. Januar 2010 mit, dass bei ihr keinerlei Unterlagen über eine Beantragung von Kindergeld vorlägen. Mit Anwaltsschreiben vom 21. Juli 2010 - bei der Familienkasse eingegangen am 4. August 2010 - legte der Kläger die Ablichtung eines undatierten Antrags auf Kindergeld vor. Der Prozessbevollmächtigte teilte hierzu mit, der Kläger habe das Original des Antrags am 23. Dezember 2008 zur Post gegeben.

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Die Familienkasse erteilte am 16. Februar 2011 zwei Ablehnungsbescheide, die dem Kläger unter Verwendung der Anschrift in Polen bekannt gegeben wurden. … Durch den anderen Bescheid lehnte die Familienkasse die Festsetzung von Kindergeld für die Zeit vor Januar 2006 ab. Die Kindergeldansprüche bis Dezember 2005 seien verjährt.

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Der Kläger legte gegen die Ablehnungsbescheide … Einspruch ein. Zur Glaubhaftmachung seiner Behauptung, den Kindergeldantrag am 23. Dezember 2008 abgeschickt zu haben, legte er die Ablichtung eines Einlieferungsbeleges vor. Auf diesem befindet sich ein Ausdruck der Sendungsnummer … und des Vermerks „Einschreiben Einwurf“. Außerdem sind handschriftlich der Name des Klägers … und das Datum „23.12.2008“ vermerkt. Eine Überprüfung der Übersendung anhand der Sendungsnummer … sei - was zwischen den Beteiligten unstreitig ist - leider nicht mehr möglich.

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Mit Einspruchsentscheidung vom 11. Juli 2011 wies die Familienkasse den Einspruch gegen die Ablehnung der Kindergeldfestsetzung für die Zeit vor Januar 2006 als unbegründet zurück.

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Der Kläger begehre mit seinem Antrag vom 4. August 2010 u. a. die Festsetzung des Kindergeldes für den Zeitraum vom 26. September 2004 bis 25. September 2005. Für diesen Zeitraum sei jedoch bereits vor Antragstellung Festsetzungsverjährung eingetreten. Die vierjährige Festsetzungsfrist für Ansprüche aus dem Jahr 2004 sei am 31. Dezember 2008 und für Ansprüche aus dem Jahr 2005 am 31. Dezember 2009 abgelaufen. Ein vor dem 4. August 2010 eingereichter Antrag auf Kindergeld liege der Familienkasse nicht vor. Wiedereinsetzungsgründe seien nicht gegeben.

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Der Kläger begehrt mit seiner hiergegen erhobenen Klage die Neubescheidung seines Kindergeldantrags unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts. Die Familienkasse hätte das ihr am 30. Dezember 2009 zugegangene Anwaltsschreiben als (erneuten) Antrag auf Kindergeld werten und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren müssen. Da sich die Familienkasse noch nicht mit den materiell-rechtlichen Voraussetzungen eines Kindergeldanspruchs für Monate vor Januar 2006 befasst habe, müsse sie den Kindergeldantrag insoweit neu bescheiden.

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Die Familienkasse ist der Klage entgegengetreten. Sie ist der Ansicht, dass dem Kläger für den betroffenen Zeitraum wegen Eintritts der Festsetzungsverjährung kein Kindergeld für seine drei Kinder zustehe.

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Dem Gericht lag zur Entscheidung ein Band Kindergeldakten vor.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist unbegründet.

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Der angefochtene Ablehnungsbescheid ist nicht rechtswidrig und verletzt den Kläger nicht in dessen Rechten. Der Bescheid war deshalb nicht aufzuheben, und der Kläger hat keinen Anspruch auf Neubescheidung seines Kindergeldantrags (§ 101 der Finanzgerichtsordnung  - FGO -). Als am 4. August 2010 der Kindergeldantrag bei der Familienkasse einging, war der Anspruch auf Kindergeld für die Monate vor Januar 2006 bereits verjährt. Zuvor war kein den Ablauf der Festsetzungsverjährung hemmender Antrag gestellt worden.

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1. Das Kindergeld wird nach § 31 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) als Steuervergütung gezahlt. Auf Steuervergütungen sind nach § 155 Abs. 4 der Abgabenordnung (AO) die Vorschriften über die Steuerfestsetzung (§§ 155 bis 177 AO) sinngemäß anzuwenden, somit auch die Vorschriften über die Festsetzungsverjährung nach §§ 169 bis 171 AO (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 9. Februar 2012 III R 45/10, BFHE 236, 413, BFH/NV 2012, 1048; vom 18. Mai 2006 III R 80/04, BFHE 214, 1, BStBl II 2008, 371). Die Festsetzungsfrist für Steuervergütungen beträgt vier Jahre (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO) und war im August 2010, als der Kindergeldantrag bei der Familienkasse einging, für die Monate vor Januar 2006 bereits abgelaufen. Es ist daher nicht zu beanstanden, dass die Familienkasse für die Monate vor Januar 2006 die materiell-rechtlichen Voraussetzungen des Anspruchs auf Kindergeld nicht geprüft hat.

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2. Der Ablauf der Verjährungsfrist wurde durch das am 30. Dezember 2009 bei der Familienkasse eingegangene Anwaltsschreiben nicht nach § 171 Abs. 3 AO gehemmt. Denn dieses Schreiben ist nicht als Antrag auf Kindergeld für die drei Kinder des Klägers zu verstehen.

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a) Der BFH hat durch sein Urteil in BFHE 236, 413, BFH/NV 2012, 1048 entschieden, dass im Einzelfall die Auslegung eines Kindergeldantrags hinsichtlich des Zeitraums, für den Kindergeld begehrt wird, erforderlich sein kann. Als außerprozessuale empfangsbedürftige Verfahrenserklärung ist ein Kindergeldantrag entsprechend §§ 133, 157 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) auszulegen, sofern er auslegungsbedürftig ist. Hiernach ist entscheidend, wie die Familienkasse als Erklärungsempfängerin einen Antrag nach seinem objektiven Erklärungswert verstehen musste. Dabei kann ggf. auch auf Umstände zurückgegriffen werden, die außerhalb der auszulegenden Erklärung liegen und einen Rückschluss auf den vom Antragsteller erklärten Willen erlauben.

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b) Diese Grundsätze sind entsprechend bei der Klärung der Frage anzuwenden, ob eine Verfahrenserklärung überhaupt als Kindergeldantrag auszulegen ist.

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Was den Mindestinhalt eines Kindergeldantrags angeht, wird in der Literatur - soweit ersichtlich - übereinstimmend die Ansicht vertreten, dass erkennbar für ein ganz bestimmtes Kind ein Kindergeldanspruch geltend gemacht wird (Wendl in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 67 EStG Rz 2). Nur insoweit hat der Antrag Gültigkeit. Deshalb muss der Antrag erkennen lassen, dass und für welches Kind der Antragsteller Kindergeld begehrt (Blümich/Treiber, § 67 EStG Rz 11; Felix in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 67 Rz B 16).

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Diesen Grundsätzen schließt sich der erkennende Senat an. Aus Gründen der Rechtssicherheit muss die Familienkasse erkennen können, für welches Kind der Antragsteller Kindergeld begehrt. Ist der Kindergeldantrag auslegungsbedürftig, hat die Familienkasse zur Auslegung des Antrags die für den Antragsteller geführten Kindergeldakten heranzuziehen. Zwar verlangt das Schriftformerfordernis nach § 67 EStG nicht, dass der amtliche Vordruck verwandt wird oder für jedes von mehreren Kindern ein einzelner Kindergeldantrag gestellt werden muss (vgl. Pust in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 67 EStG Rz. 4; Blümich/Treiber, § 67 EStG Rz 11; Wendl in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 67 Rz 2). Auch mit Blick auf die in § 171 Abs. 3 AO geregelten verfahrensrechtlichen Folgen eines Antrags auf Festsetzung einer Steuervergütung müssen aber im Antrag neben der Person des Antragstellers auch die Kinder, für die Kindergeld begehrt wird, namentlich benannt werden. Dies gilt auch dann, wenn der Antragsteller, wie im Streitfall, für alle Kinder Kindergeld begehrt. Nach diesen Maßstäben stellt das am 30. Dezember 2009 bei der Familienkasse eingegangene Anwaltsschreiben keinen gültigen Kindergeldantrag, der den Ablauf der Verjährungsfrist nach § 171 Abs. 3 AO hemmt, dar. Bei Eingang der Sachstandsanfrage am 30. Dezember 2009 hatte die Familienkasse weder Kenntnis von der Anzahl der Kinder des Klägers, auch waren ihr die Namen und die Geburtsdaten der Kinder nicht bekannt. Da der Kläger bislang kindergeldrechtlich nicht geführt wurde, konnte die Familienkasse auch nicht auf andere, außerhalb der auszulegenden Sachstandsanfrage liegende Umstände zurückgreifen. Die Angaben in diesem Anwaltsschreiben erfüllen deshalb die Anforderungen an einen Kindergeldantrag und damit an eine den Ablauf der Festsetzungsverjährung hemmende Verfahrenserklärung nicht.

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3. Der Ablauf der vierjährigen Verjährungsfrist ist auch nicht durch einen bereits im Jahre 2008 gestellten Kindergeldantrag gehemmt worden. Ein Antrag ist i. S. des § 171 Abs. 3 AO „gestellt“, wenn er bei der zuständigen Behörde eingeht. Nicht maßgebend ist, wann der Berechtigte den Antrag zur Post gegeben hat (Urteil des Finanzgerichts - FG - Düsseldorf vom 8. Mai 2008 14 K 2450/07 Kg, EFG 2008, 1685). Da der angeblich am 23. Dezember 2008 zur Post aufgegebene Kindergeldantrag der Familienkasse nicht zugegangen ist, ist der Fristablauf hierdurch nicht gehemmt geworden.

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4. Auch das sonstige Vorbringen des Klägers ist nicht geeignet, eine Pflicht der Familienkasse zur Neubescheidung seiner Anträge zu begründen. Insbesondere ist die gesetzliche Festsetzungsfrist keine wiedereinsetzungsfähige Frist (BFH-Urteil vom 19. August 1999 III R 57/98, BFHE 191, 198, BStBl II 2000, 330; Ratke in Klein, AO, 11. Aufl., § 110 Rz 2).

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5. Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 90 Abs. 2 FGO). Die Beteiligten hatten sich hiermit einverstanden erklärt. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

 


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