Urteil vom Landesarbeitsgericht Düsseldorf - 12 Sa 1555/97
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Duisburg vom 14.08.1997 wird zurückgewiesen.
Die Kosten der Berufung trägt der Kläger.
Die Revision wird zugelassen.
1
T a t b e s t a n d
2Die Parteien streiten darüber, ob dem Kläger Krankenvergütung lediglich in gesetzlicher Höhe (80 %) oder aufgrund Tarifvertrages in voller Höhe (100 %) zusteht.
3Der Kläger ist seit dem 08.05.1967 als angestellter Meister zu einem Monatsgehalt von zuletzt DM 5.793,-- brutto bei der Beklagten beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet der Manteltarifvertrag für die Angestellten in der Beton- und Fertigteilindustrie und dem Betonsteinhandwerk (Betonsteingewerbe) Nordwestdeutschlands vom 14.09.1993 Anwendung. Der Kläger war im März 1997 an 23 Arbeitsstunden und im April 1997 an 133 Arbeitsstunden arbeitsunfähig erkrankt. Die Beklagte leistete für diesen Zeitraum Entgeltfortzahlung gemäß § 4 Abs. 1 EFZG in Höhe von 80 %.
4Mit der im Mai 1997 vor dem Arbeitsgericht Duisburg erhobenen und im Juni 1997 erweiterten Klage hat der Kläger unter Hinweis auf § 5 Abschnitt I Nr. 1 MTV-Betonsteingewerbe die Fortzahlung des vollen Arbeitsentgelts begehrt und die Differenzbeträge auf - unstreitig - DM 144,44 brutto und DM 814,67 brutto beziffert. Das Arbeitsgericht hat durch Urteil vom 14.08.1997 die Klage abgewiesen. Mit der form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Berufung verfolgt der Kläger sein Zahlungsbegehren weiter. Er macht geltend, daß es Wille der Tarifvertragsparteien beim Abschluß des MTV-Betonsteingewerbes gewesen sei, die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall bis zu sechs Wochen in voller Höhe zu sichern. Dieser Wille sei in der Tarifregelung, namentlich in Ziff. 2 des § 5 Abschnitt I, erkennbar geworden.
5Der Kläger beantragt,
6das Urteil des Arbeitsgerichts Duisburg vom 14.08.1997 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, an ihn DM 959,11 brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich hieraus ergebenden Nettobetrag seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
7Die Beklagte beantragt,
8die Berufung zurückzuweisen.
9Sie verteidigt mit Rechtsausführungen das erstinstanzliche Urteil.
10Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den von den Parteien vorgetragenen Inhalt ihrer Schriftsätze verwiesen.
11E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
12Die Berufung ist unbegründet. Das Arbeitsgericht hat zu Recht die Klage abgewiesen. § 5 Abschnitt I MTV-Betonsteingewerbe begründet für die Angestellten und Meister in der Beton- und Fertigteilindustrie und dem Betonsteinhandwerk keinen Anspruch auf volle Entgeltfortzahlung, sondern verweist für die ersten sechs Krankheitswochen deklaratorisch auf die jeweils geltende Gesetzesregelung. Damit richtet sich der Anspruch nach § 4 Abs. 1 Satz 1 EFZG in der seit dem 01.10.1996 geltenden Fassung und beträgt 80 % des normalen Arbeitsentgelts. In dieser Höhe hat die Beklagte Entgeltfortzahlung geleistet.
13I. Der MTV-Betonsteingewerbe bestimmt, soweit hier von Interesse, folgendes:
14§ 5
15Gehaltszahlung bei Krankheit und im Todesfall
16I. Krankheit
171. Es gelten die gesetzlichen Bestimmungen.
182. Verheiratete erhalten nach ununterbrochener 5jähriger Betriebszugehörigkeit als Angestellte bis zur Dauer von weiteren 6 Wochen den Unterschiedsbetrag zwischen den Beträgen, die dem Angestellten aus Anlaß der Erkrankung zufließen und 90 % des tatsächlichen Nettogehaltes als Zuschuß. Der Anspruch besteht nur einmal innerhalb von 12 Monaten. Soweit der Angestellte kein Krankengeld bezieht, ermäßigt sich der Zuschuß um die Höhe des Krankengeldes, das er erhalten würde, wenn er versicherungspflichtig wäre.
19II. Sterbegeld
20Stirbt ein Angestellter, so ist sein Gehalt vom Todestage bis zum Ablauf des Sterbemonats zu zahlen. Dieser Anspruch besteht nicht, wenn dem Angestellten im Sterbemonat keine Ansprüche auf Gehalt oder auf Zuschuß gemäß Abschnitt I Ziffer 2 zustanden. ...
21Die Auslegung des § 5 Abschnitt I MTV-Betonsteingewerbe führt zu dem Befund, daß sich der Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach den jeweils geltenden gesetzlichen Bestimmungen richtet.
22a) Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung (BAG, Urteil vom 16.05.1995, 3 AZR 395/94, AP Nr. 10 zu § 1 TVG Tarifverträge: Papierindustrie, zu I 1 der Gründe, Urteil vom 14.02.1996, 2 AZR 166/95, AP Nr. 21 zu § 1 Tarifverträge: Textilindustrie, zu II 5 a, Urteil vom 24.04.1996, 5 AZR 798/94, AP Nr. 96 zu § 616 BGB, zu 1), der die erkennende Kammer folgt, hat die Auslegung des normativen Teils von Tarifverträgen zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen. Dabei ist über den reinen Wortlaut hinaus der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mitzuberücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefern und nur so Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Verbleiben hiernach noch Auslegungszweifel, kann auf weitere Kriterien, z.B. die Tarifgeschichte, zurückgegriffen werden.
23Verwenden die Tarifvertragsparteien einen Begriff, der in der Rechtsterminologie oder sonst im allgemeinen Sprachgebrauch eine bestimmte Bedeutung hat, ist davon auszugehen, daß er im Tarifvertrag dieselbe Bedeutung haben soll, soweit sich nicht aus dem Tarifvertrag selbst etwas anderes ergibt (BAG vom 24.04.1996, a.a.O.). Insoweit pflegt die Rechtsprechung die allgemeine Sprachbedeutung anhand gängiger Wörterbücher (Brockhaus/Wahrig, Duden) zu ermitteln (z.B. BAG, Urteil vom 15.10.1992, 6 AZR 349/91, AP Nr. 19 zu § 17 BAT, zu II 1 b, Urteil vom 07.02.1995, 3 AZR 483/94, AP Nr. 54 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel, zu II 1 a; abweichend: BAG, Urteil vom 05.12.1995, 9 AZR 871/94, AP Nr. 70 zu § 7 BUrlG Abgeltung,
24zu II 2 e).
25b) Für das Verständnis tariflicher Verweisungsklauseln hat die Rechtsprechung folgende Grundsätze entwickelt.
26(1) Verweist ein Tarifvertrag auf eine gesetzliche Regelung, macht er diese im Zweifel nicht zum Inhalt des Tarifvertrages und zu einer tariflichen Norm (BAG, Urteil
27vom 27.06.1989, 1 AZR 404/88, AP Nr. 113 zu Art. 9 GG Arbeitskampf, zu II 2 c cc; vgl. BAG, Urteil vom 12.11.1964, 5 AZR 507/93, AP Nr. 4 zu § 34 SchwBeschG 1961, zu IIII 1, Beschluß vom 16.01.1980, 4 AZN 87/79, AP Nr. 3 zu § 72 a ArbGG 1979 Grundsatz, Beschluß vom 26.03.1981, 2 AZN 410/80, AP Nr. 17 zu § 72 a ArbGG 1979 Grundsatz, zu II 2 b, Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rz. 417 ff.). Die Verweisungsklausel hat (nur) deklaratorischen Charakter.
28Vor allem dann, wenn das verweisungsgegenständliche Regelungsfeld bereits durch zwingendes Gesetzesrecht besetzt ist, kann regelmäßig der Zweck der tariflichen Verweisungsklausel gerade und nur darin gesehen werden, daß die Arbeitsvertragsparteien zur ihrer vollständigen Unterrichtung auf das Gesetz und dessen Maßgeblichkeit hingewiesen werden sollen. Auch wenn es dieses Hinweises rechtlich nicht bedarf, bleibt er - gegenüber der schlichten Nichtregelung - eine sinnvolle Information für die Arbeitsvertragsparteien und stellt für ihr Rechtsverhalten klar, daß sie sich an das Gesetz zu halten haben (vgl. BAG, Beschluß vom 28.01.1988, 2 AZR 296/87, AP Nr. 40 zu § 622 BGB, zu II 2 c aa).
29Gegen einen eigenen Normsetzungswillen der Tarifvertragsparteien spricht ihre Ausgangssituation. Das zwingende Gesetzesrecht läßt keinen oder einen nur geringfügig eröffneten Gestaltungsspielraum. Zwar sind, wenn es einseitig zwingenden Arbeitnehmerschutz gewährt, tarifliche Verbesserungen zugunsten der Arbeitnehmer möglich. Auf solche Verbesserungen haben sich, wie die Verweisungsklausel belegt, die Tarifvertragsparteien jedoch nicht geeinigt. Damit könnte eine eigene Normsetzung nur gewollt sein, um die sich aus dem bei Inkraftsetzung des Tarifvertrages geltenden Gesetz ergebenden Ansprüche gegen spätere Gesetzesänderungen zu Lasten der Arbeitnehmer abzusichern. Diese Annahme setzt zunächst voraus, daß die Tarifver-
30tragsparteien beim Tarifvertragsabschluß überhaupt Anlaß hatten, mit (einschneidenden) Gesetzesänderungen zu rechnen. Unter dieser Prämisse muß hinzukommen, daß die Intention der einen Partei, die bestehende Gesetzeslage zum bestandsfesten tariflichen Mindeststandard zu machen, von der anderen Partei geteilt wurde. War historisch ein solcher Konsens vorhanden, muß er schließlich im Tarifvertrag einen erkennbaren Niederschlag gefunden haben, denn die Normadressaten
31- Arbeitnehmer und Arbeitgeber - sind auf den Tarifvertragstext angewiesen, die Tarifgeschichte ist ihnen selten geläufig, die Einholung von Tarifauskünften praktisch unmöglich. Daher verlangt das Bundesarbeitsgericht in ständiger Rechtsprechung, daß die Tarifvertragsparteien, wenn sie von einem einseitig zwingenden Gesetz abweichen und eine eigenständige, d.h. in ihrer normativen Wirkung vom Gesetz unabhängige Regelung treffen wollen, dies erkennbar im Tarifvertrag zum Ausdruck bringen müssen; ihr eigenständiger Normsetzungswille trete im Normalfall darin zutage, daß sie eine im Gesetz nicht oder anderes enthaltene Regelung treffen oder eine gesetzliche Regelung übernehmen, die ohne diese Übernahme nicht für die betroffenen Arbeitsverhältnisse gelten würde (BAG, Urteil vom 25.09.1987, 7 AZR 315/86, AP Nr. 1 zu § 1 BeschFG 1985, zu C II 1 a, Urteil vom 25.01.1989, 5 AZR 161/88, AP Nr. 2 zu § 1 BeschFG 1985, zu III 1, Urteil vom 10.05.1994, 3 AZR 721/93, AP Nr. 3 zu § 1 TVG Tarifverträge: Verkehrsgewerbe, zu B II 2 b).
32Unter Zugrundelegung dieser Rechtsprechung enthalten schlichte Verweisungsklauseln keine tarifliche Normsetzung. Hinzu kommt, daß den Tarifvertragsparteien die Regeln der Normierungstechnik ebenso bekannt sind wie die Auslegungsregeln der Rechtsprechung. Indem sie zu einer (Blankett-)Verweisung greifen, können sie also nicht im Unklaren darüber sein, daß sich Gesetzesänderungen auf die tarifgebundenen Arbeitsverhältnisse auswirken. Diese Konsequenz stellt sich zudem als durchaus
33sachgerecht dar, denn sie gewährleistet auf dem verweisungsgegenständlichen Regelungsfeld die einheitliche Behandlung der tarifunterworfenen mit den anderen Arbeitsverhältnissen. Außerdem wird die Gefahr der konstitutiv-statischen Verweisung vermieden, infolge Änderung zwingenden Gesetzesrecht obsolet zu werden oder hinter dem vom Gesetzgeber später berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Wandel zurückzubleiben.
34Schließlich ist mit der deklaratorischen Verweisung zwar das Risiko einer künftigen Verschlechterung gesetzlicher Ansprüche, aber ebenso die Chance einer Aufbesserung dieser Ansprüche bei (tarif-)dispositiven Gesetzesänderungen verbunden. So hat sich - vom gewerkschaftlichen Standpunkt aus betrachtet (vice versa für die Arbeitgeberverbände) - mit der Verlängerung der Kündigungsfristen für Arbeiter eine Chance
35realisiert, mit der Absenkung der Entgeltfortzahlung ein Risiko. Die judizielle Auslegung tariflicher Verweisungs- oder Widerspiegelungsklauseln muß hinnehmen, daß beide Tarifvertragsparteien mit der Fixierung einer solchen Klausel ein Risiko einge-gangen sind, und kann ihnen nicht mit spekulativen, ergebnisorientierten Überlegungen etwa den Willen unterstellen, die bestehende Gesetzeslage zum tariflichen Mindeststandard der Arbeitnehmerrechte zu machen.
36Ebensowenig existiert eine Auslegungsmaxime, wonach die Gerichte bei einer unklaren Tarifregelung das für den Arbeitnehmer günstigere Ergebnis auszuwählen hätten (BAG, Urteil vom 23.06.1992, 9 AZR 296/90, AP Nr. 33 zu § 11 BUrlG, zu 2 h; abw. Kempen/Zachert, TVG, 3. Aufl., Grundl. Rz. 330). Tarifverträge werden nicht einseitig vorformuliert und angewendet, sondern von den Parteien, die als hinreichend gleichgewichtig, sach- und rechtskundig anzusehen sind, ausgehandelt. Daher ist die
37Unklarheitenregel unanwendbar.
38Begründet danach eine Tarifklausel, die pauschal auf die gesetzliche Regelung verweist, selbst keine Ansprüche, können sich diese nur aus dem Gesetz in seiner jewei-
39ligen Fassung ergeben. In diesem Sinne ist die deklaratorische Verweisung stets dynamisch.
40(2) Auch wenn der Tarifvertrag eine in Bezug genommene gesetzliche Regelung zur Tarifnorm macht, also die Verweisungsklausel konstitutiven Charakter hat, bleibt
41klärungsbedürftig, ob eine statische oder dynamische Verweisung beabsichtigt ist. Im Zweifel gilt letzteres (vgl. BAG, Beschluß vom 30.01.1990, 1 ABR 98/88, AP Nr. 78 zu § 99 BetrVG 1972, zu B II 1,2, Urteil vom 29.01.1991, 3 AZR 44/90, AP Nr. 23 zu § 18 BetrAVG, zu II b, ferner: Urteil vom 20.03.1991, 4 AZR 455/90, AP Nr. 2 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz, zu B II 1 b, Urteil vom 16.08.1988, 3 AZR 61/87, AP Nr. 8 zu § 1 BetrAVG Beamtenversorgung, zu 2 b), dies aus den bereits erwähnten Gründen der Einheitlichkeit, Sachgerechtigkeit und Praktikabilität. Daher muß der Wille, Tarifansprüche mit dem statischen Inhalt einer bestimmten Gesetzesfassung zu begründen, hinreichend deutlich aus dem Tarifvertrag selbst hervorgehen.
42(3) Allerdings kann die Änderung eines Gesetzes, auf das deklaratorisch im Tarifvertrag verwiesen wird, die Geschäftsgrundlage für den Tarifabschluß berühren. Auch wenn das Tarifwerk eine bestimmte Materie (i.c. Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall) der gesetzlichen Regelung überläßt, beziehen üblicherweise die Tarifvertragsparteien die aus dieser Regelung resultierende Leistungspflicht in ihre Vorstellung von der tarifvertraglich herzustellenden Äquivalenz ein. Die unvorhergesehene Änderung gesetzlicher Eckpunkte stört nachträglich den austarierten Gesamtausgleich von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberleistungen. Entsprechend ihrer singulären Wertigkeit und relativen Bedeutung im tariflichen Ausgleichskonzept kann die gesetzlich einseitige
43Veränderung des Leistungsvolumens u.U. zum Wegfall der Geschäftsgrundlage führen (Buchner, a.a.O.). Dies legitimiert indessen keine gerichtliche Anpassung. Vielmehr unterliegt es der tarifautonomen Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien, ob und wie sie - nach Verhandlungen bzw. außerordentlicher Kündigung - der Gesetzesänderung Rechnung tragen (vgl. BAG, Urteil vom 05.03.1997, 1 AZR 420/56, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Rückwirkung, zu 3, Urteil vom 23.04.1957, 1 AZR 477/56, AP Nr. 1 zu § 1 TVG, zu II, Urteil vom 10.11.1982, 4 AZR 1203/9, AP Nr. 8 zu § 1 TVG Form, Urteil vom 18.12.1996, 4 AZR 129/96, zu II 2.1).
44c) Der Wortlaut des § 5 Abschnitt I Nr. 1 MTV-Betonsteingewerbe spricht gegen einen Normsetzungswillen der Tarifvertragsparteien. Die Formulierung, daß die gesetzlichen Bestimmungen gelten , ist eindeutig und kann nur so verstanden werden, als daß der Tarifvertrag auf eine eigenständige Regelung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall verzichtet und - lediglich zur Vervollständigung und Information - auf die Maßgeblichkeit der gesetzlichen Regelung hinweist. Dabei kann nicht daraus, daß die Worte jeweils gültigen (gesetzlichen Bestimmungen) fehlen, auf eine statische Verweisung geschlossen werden (vgl. BAG, Urteil vom 29.01.1991, 3 AZR 44/90, EzA Nr. 6 zu § 3 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag, zu II). Wenn eine solche gewollt gewesen wäre, hätte nichts näher gelegen, als die gesetzlichen Bestimmungen zu benennen und tariflich die Höhe der Gehaltsfortzahlung festzuschreiben.
452. Allerdings darf die Tarifauslegung die Unterscheidung, ob eine Verweisungsklausel lediglich deklaratorische Bedeutung hat oder eine konstitutive Regelung beinhaltet, nicht zum Ausgangspunkt nehmen. Indem sich die Parteien mit den normativen Vorschriften im Tarifvertrag an die Arbeitnehmer und Arbeitgeber wenden, kommt es in erster Linie darauf an, wie dieser Adressatenkreis die Tarifvorschriften verstehen muß. Da eine juristische, insbesondere tarifrechtliche Kundigkeit der Normadressaten nicht unterstellt werden kann, darf die Auslegung nicht im Vorverständnis fachjuristischer Kategorien (i. c. deklaratorisch - konstitutiv) erfolgen, sondern muß sich an den Tarifwortlaut und an den aus dem tariflichen Gesamtzusammenhang erkennbaren Regelungsvorstellungen der Tarifvertragsparteien halten. Die Auslegungsmaxime, daß die tarifliche Verweisung auf gesetzliche Bestimmungen nur deklaratorische Bedeutung hat, kommt daher erst in Zweifelsfällen zum Zuge. Auch hier darf die Annahme eines Zweifelfalles nicht aus subtilen juristischen Erwägungen gefolgert werden, sondern es ist darauf abzustellen, ob - aus objektiver Sicht - bei den normunterworfenen Arbeitsvertragsparteien nach vernünftiger Betrachtung echte Zweifel verbleiben, wie die Tarifregelung zu verstehen ist. Dabei hat selbst dann, wenn die verwendete Formulierung eindeutig ist, die Tarifauslegung den maßgeblichen Sinn der Erklärung zu erforschen, ohne am Buchstaben zu haften (BAG, Urteil vom 21.07.1993, 4 AZR 468/92, AP Nr. 144 zu § 1 TVG Auslegung, zu B I 1 a aa, Urteil vom 16.05.1995, a. a. O., zu I 1).
46Danach ist vorliegend zu prüfen, ob der tarifliche Gesamtzusammenhang den eindeutigen Willen der Tarifvertragsparteien erkennbar macht, daß dem Arbeitnehmer für die ersten sechs Krankheitswochen Entgeltfortzahlung in voller Höhe zustehen soll.
47a) § 5 Abschnitt 1 Nr. 2 verpflichtet den Arbeitgeber dazu, Verheiratete nach ununterbrochener 5jähriger Betriebszugehörigkeit als Angestellte bis zur Dauer von weiteren sechs Wochen einen Zuschuß zum Krankengeld bis zur Höhe von 90 % des bisherigen Nettoarbeitsentgeltes zu gewähren.
48(11) Bei tariflichen Krankengeldzuschußregelungen, die allen Arbeitnehmern 100 % des Arbeitsverdienstes gewähren, liegt nahe, daß die Tarifvertragsparteien die Arbeitnehmer so (nicht besser, aber auch nicht schlechter) stellen wollten, als hätten sie weitergearbeitet. In diesen Zuschußregelungen kommt daher das Lohnausfallprinzip,
49das grundsätzlich die Fortzahlung des vollen und nicht eines verringerten Arbeitsverdienstes beinhaltet, zum Ausdruck. Die Zuschußregelungen erweisen sich dann nach ihrem sozialen Zweck als Fortführung der gesetzlichen Entgeltfortzahlung und reflektieren die Vorstellungen der Tarifvertragsparteien, daß die Arbeitnehmer in den ersten sechs Wochen durch die Entgeltfortzahlung ( i. c. Zahlung des vollen Bruttoentgelts) finanziell abgesichert sind. Die Tarifvertragsparteien haben damit die volle Entgeltfortzahlung in ihren Rechtsetzungswillen aufgenommen. Ihr Wille umfaßte nicht eine unter 100 % liegende Entgeltfortzahlung in den ersten sechs Wochen.
50Nach der gegenteiligen Auffassung würden die Arbeitnehmer in den ersten sechs Wochen 80 % und anschließend 100 % erhalten. Diese Konsequenz widerspricht nicht nur dem Lebensstandardprinzip, sondern auch den allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen im Arbeitsleben (vgl. BAG, Urteil vom 15.12.1994, 2 AZR 320/94, AP Nr. 66 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung, zu B III 3 [3] der Gründe). Danach nimmt mit der Dauer der Arbeitsversäumnis die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers nicht zu, sondern ab. Umgekehrt gesagt: Wenn allen Arbeitnehmern nach sechs Wochen 100 % des Nettoarbeitsentgeltes zustehen soll, dann kann vorher die Entgeltfortzahlung keine geringere sein. Dabei ist unerheblich, daß die tarifliche Zuschußregelung auf Netto-Basis konzipiert ist. Der Nettoausgleich ist üblich (vgl. § 14 Abs. 1 MuSchG) und knüpft daran an, daß die Arbeitnehmer nach Ablauf der sechswöchigen Entgeltfortzahlung Kranken- bzw. Unfallgeld zu beziehen pflegen. Die Tarifvertragsparteien tragen insoweit lediglich der Typik Rechnung, daß Arbeitnehmer ihren Lebensstandard nach dem regelmäßigen Nettoverdienst und nicht nach dem Bruttoverdienst ausrichten (vgl. BAG, Urteil vom 24.04.1996, 5 AZR 798/94, AP Nr. 96 zu § 616 BGB, zu 4, Urteil vom 10.12.1986, 5 AZR 570/85, AP Nr. 1 zu § 42 MTB II, zu II 1, Urteil der Kammer vom 27.06.1996, 12 Sa 464/96, LAGE Nr. 39 zu § 112 BetrVG 1972, zu 2 d), und verfolgen erkennbar den Zweck, den arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmer auch nach Ablauf des sechswöchigen Entgeltfortzahlungszeitraums unter bestimmten Voraussetzungen für eine bestimmte Zeit finanziell so zu stellen, als ob er weiterarbeiten würde. Sinn und Zweck der tariflichen Zuschußregelung und der Entgeltfortzahlung unterscheiden sich insoweit nicht voneinander. Sie konkretisieren die allgemeine Fürsorgepflicht des Arbeitgebers dahingehend, daß sichergestellt wird, daß dem Arbeitnehmer im Falle krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit für eine gewisse Zeit die Lebensgrundlage des Arbeitseinkommens nicht entzogen wird bzw. ihm zur Aufrechterhaltung des Lebensstandards die bisherigen Nettoeinkünfte verbleiben (vgl. BAG, Urteil vom 06.09.1989, 5 AZR 621/88, AP Nr. 45 zu § 63 HGB, zu I 4 b).
51Die 8. Kammer des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf (Urteil vom 02.09.1997, 8 Sa 881/97, dort Seite 16) hat zu § 4 Nr. 2.1 RTV-Angestellte Bau vom 19.05.1992 die Auffassung vertreten, daß die gesetzliche Absenkung der Entgeltfortzahlung zu einem Wegfall der Geschäftsgrundlage für die Krankengeldzuschußregelung geführt habe. Diese Erwägung ist nur dann tragfähig, wenn dem Arbeitgeber die Gewährung von Zuschußleistungen künftig weder möglich noch wirtschaftlich zumutbar wäre. Dies dürfte nur selten der Fall sein. Allerdings mag die gesetzliche Abgeltung der Entgeltfortzahlung die Tarifvertragsparteien zur außerordentlichen Kündigung eines Manteltarifvertrages oder nur der tariflichen Entgeltfortzahlungsregelung berechtigen, um in Verhandlungen auch über die Krankengeldzuschußregelung eintreten zu können. Solange sie die Tarifregelung nicht gekündigt haben, braucht auf diesen Gesichtspunkt jedoch nicht weiter eingegangen zu werden (Urteil der Kammer vom 07.05.1997, 12 Sa 252/97, zu I 1 b [3] der Gründe). Weiterhin hat die 8. Kammer des Landesarbeitsgerichts darauf hingewiesen, daß der im Zeitpunkt des Tarifabschlusses fehlende Regelungsbedarf für den deklaratorischen Charakter von Verweisungsklauseln spreche. In der Tat ist es zutreffend, daß die Tarifvertragsparteien es bei der Regelung im Gesetz belassen konnten, zumal es ohnehin nur geringe Abweichungsmöglichkeiten eröffnete und eine Aufbesserung der Entgeltfortzahlung über 100 % unrealistisch war. Indessen darf sich die Tarifauslegung zunächst nicht an dem Regelungsbedarf ausrichten, sondern an dem Regelungswillen. Kommt dieser Wille im Tarifvertrag hinreichend zum Ausdruck, ist er zu respektieren. Auch in diesem
52Zusammenhang gilt die Feststellung, daß sich die Tarifvertragsparteien daran festhalten lassen müssen, was sie für die Normadressaten erkennbar im Tarifvertrag zum Ausdruck gebracht haben.
53(22) Die durch den Arbeitgeberverband vertretene Beklagte zieht selbst nicht die Gültigkeit der Zuschußregelung und deren konstitutiven Charakter in Zweifel. Sie meint aber, daß sie keine Schlußfolgerungen auf die Verweisung in § 5 Abschnitt I Nr. 1 MTV-Betonsteingewerbe zulasse. Diese Beurteilung trifft im Ergebnis zu.
54Die tarifliche Krankengeldzuschußregelung gilt lediglich für verheiratete Angestellte mit einer Mindestbetriebszugehörigkeit von fünf Jahren und sichert nach sechs Wochen auch nicht das volle (Netto-)Entgelt, sondern nur 90 % des bisherigen Entgelts ab. Man kann zwar eine Ungereimtheit darin sehen, daß der privilegierte Personenkreis in den ersten sechs Krankheitswochen nur 80 % des Bruttoarbeitsentgelts erhält, danach jedoch regelmäßig etwas mehr, nämlich 90 % des Nettoarbeitsentgeltes. Die Zuschußregelung ist jedoch derart gruppenspezifisch abgefaßt, daß sie weitergehende Schlußfolgerungen nicht zuläßt, insbesondere aus ihr nicht der eindeutige Wille der Tarifvertragsparteien hervorgeht, daß - abweichend vom Gesetz - den Angestellten in den ersten sechs Krankheitswochen volle Entgeltfortzahlung zustehen soll. Vielmehr kann § 5 Abschnitt I Nr. 2 MTV-Betonsteingewerbe als eine soziale Sonderregelung für verheiratete Angestellte verstanden werden. Ob die Begünstigung gerade und nur von Verheirateten mit längerer Betriebszugehörigkeit angemessen ist, steht nicht zur Beurteilung der Gerichte für Arbeitssachen. Tarifnormen unterliegen keiner Überprüfung auf ihre Angemessenheit.
55Eine sachwidrige Ungleichbehandlung der nicht begünstigten Arbeitnehmergruppen ist in § 5 Abschnitt I Nr. 2 MTV - Betonsteingewerbe nicht zu erblicken, so daß sich Erörterungen zu den Rechtsfolgen einer Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) erübrigen.
56b) Enthält § 5 Abschnitt I Nr. 1 MTV-Betonsteingewerbe somit eine deklaratorische Verweisung, besteht keine Veranlassung, entsprechend dem Antrag des Klägers eine Auskunft darüber einzuholen, daß es bei Abschluß des Tarifvertrages Wille der Tarifvertragsparteien gewesen sei, die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall bis zu sechs Wochen in voller Höhe zu sichern. Abgesehen davon, daß es der Kläger hinsichtlich seines Antrages an substantiierten Vortrag zur tariflichen Entstehungsgeschichte fehlen läßt, steht auch nicht zu erwarten, daß die Tarifauskunft einheitlich beantwortet wird (vgl. BAG, Urteil vom 16.10.1985, 4 AZR 149/84, AP Nr. 108 zu §§ 22, 23 BAT 1975, Urteil vom 18.11.1988, 8 AZR 238/88, AP Nr. 27 zu § 11 BUrlG, zu V, Urteil vom 19.11.1996, 9 AZR 712/95, zu I 2 d).
57II. Die Kosten der erfolglos gebliebenen Berufung hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO der Kläger zu tragen.
58Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, so daß die Kammer die Revision zugelassen hat, § 72 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 1 ArbGG.
59RECHTSMITTELBELEHRUNG
60Gegen dieses Urteil kann von dem Kläger
61REVISION
62eingelegt werden.
63Für die Beklagte ist gegen dieses Urteil kein Rechtsmittel gegeben.
64Die Revision muß
65innerhalb einer Notfrist von einem Monat
66nach der Zustellung dieses Urteils schriftlich beim
67Bundesarbeitsgericht,
68Graf-Bernadotte-Platz 5,
6934119 Kassel,
70eingelegt werden.
71Die Revision ist gleichzeitig oder
72innerhalb eines Monats nach ihrer Einlegung
73schriftlich zu begründen.
74Die Revisionsschrift und die Revisionsbegründung müssen von einem bei einem deutschen Gericht zugelassenen Rechtsanwalt unterzeichnet sein.
75Dr. Plüm Friederichs Stammer
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Referenzen
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