Urteil vom Landesarbeitsgericht Köln - 1 Sa 975/85
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Bonn vom 14.8.1985 - 3 Ga 55/85 - und sein Hilfsantrag werden kostenpflichtig zurückgewiesen.
Streitwert: 7.000,-- DM.
1
Tatbestand
2Der Verfügungskläger ist seit 1979 bei dem Beklagten als Angestellter tätig. Seine Vergütung richtet sich nach Vergütungsgruppe IV b BAT. Sie beträgt DM 3.500,-- brutto im Monat. Der Verfügungskläger ist mit der Prüfung von Studienbewerbern aus afrikanischen Ländern befaßt, die in aller Regel keine Asylberechtigung haben. Seit Mitte Dezember 1984 ist er erkrankt. Sein behandelnder Arzt hat ihn ab 1.8.1985 aufgrund einer Untersuchung vom 11.7.1985 arbeitsfähig geschrieben. Ob ab 1.8.1985 tatsächlich Arbeitsfähigkeit bestand, ist zwischen den Parteien streitig.
3Der Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis des Verfügungsklägers fristgemäß am 26.6.1985 zum 30.9.1985. Der Betriebsrat hat der Kündigung mit Schreiben vom 13.6.1985 widersprochen (Bl. 4 d.A. 3 Ca 1555/85 Arbeitsgericht Bonn). Begründet wurde die Kündigung mit dem Gutachten eines Arztes für Neurologie und Psychiatrie vom 11.2.1985 und einem weiteren Gutachten des Amtsarztes der Stadt Bonn vom 26.2.1985. Danach war der Verfügungskläger für seinen Arbeitsplatz, auf dem er ständig mit Flüchtlingsschicksalen konfrontiert wurde, wegen der Gefahr einer sonst drohenden Frühinvalidität nicht mehr einsatzfähig. Ein anderer Arbeitsplatz steht beim Beklagten nach seinem Vortrag nicht zur Verfügung.
4Der Kläger hat gegen die Kündigung Kündigungsschutzklage erhoben (3 Ca 1555/85 Arbeitsgericht Bonn). Über die Kündigungsschutzklage ist noch nicht entschieden.
5Im Kündigungsschutz verfahren hat der behandelnde Arzt des Verfügungsklägers aufgrund der Untersuchung vom 11.7.1985 am 24.9.1985 bestätigt, der Verfügungskläger sei für seine bisherige Tätigkeit ständig berufsunfähig.
6Am 19.11.1985 hat derselbe Arzt aufgrund einer erneuten Untersuchung bestätigt, der Verfügungskläger sei für seine Arbeit wieder voll einsatzfähig.
7Der Verfügungskläger hat am 21.8.1985 folgende einstweilige Verfügung beantragt:
8Dem Beklagten aufzugeben, den Kläger auch während des Freistellungszeitraumes bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in dem zur Zeit vor dem Arbeitsgericht Bonn rechtshängigen Kündigungsschutzverfahren - 3 Ca 1555/85 - zu den bisherigen Bedingungen weiter zu beschäftigen.
9Der Beklagte hat Zurückweisung dieses Antrages beantragt mit dem Hinweis, der Kläger sei nach den fachärztlichen Gutachten auf seinem Arbeitsplatz nicht mehr einsatzfähig.
10Das Arbeitsgericht hat den Antrag am 14.8.1985 zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt, der Verfügungskläger sei zur Zeit nicht in der Lage, seine vertragliche Tätigkeit auszuüben. Ein Weiterbeschäftigungsanspruch während des laufenden Kündigungsschutz Verfahrens bzw. ein Beschäftigungsanspruch bestehe daher nicht.
11Der Verfügungskläger hat gegen das am 24.9.1985 zugestellte Urteil am 2.10.1985 Berufung eingelegt und diese am 30.10.1985 begründet. Er macht weiter geltend, nach ärztlicher Bescheinigung sei er ab 1.8.1985 voll einsatzfähig, so daß ihn der Beklagte nach seinem Arbeitsvertrag, aber auch nach § 102 Abs. 5 BetrVG weiter zu beschäftigen habe. Der behandelnde Arzt habe das in einem Gutachten vom 19.11.1985 in der Hauptsache erneut bestätigt. Die unterschiedlichen Beurteilungen vom 24.9.1985 und 19.11.1985 beruhten auf einer falschen Formulierung in der Anfrage des Gerichts.
12Der Verfügungskläger macht hilfsweise geltend, der Beklagte habe ihn auf einem anderen Arbeitsplatz weiter, zu beschäftigen. Dazu benennt er einen Platz in der Abteilung II "Prüfung und Beratung", der nach Vergütungsgruppe III vergütet wird.
13Im Berufungsverfahren hat der Berufungskläger folgenden Antrag gestellt:
14Auf die Berufung des Berufungsklägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Bonn vom 14.8,1985 - 3 Ga 55/85 - aufgehoben und dem Berufungsbeklagten aufgegeben, den Berufungskläger bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in den zur Zeit vor dem Arbeitsgericht Bonn rechtshängigen Kündigungsschutzverfahren - 3 Ca 1555/85 - zu den bisherigen Bedingungen weiter zu beschäftigen.
15Hilfsweise beantragt der Berufungskläger:
16Der Berufungsbeklagten aufzugeben, den Berufungskläger bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in dem zur Zeit vor dem Arbeitsgericht Bonn rechtshängigen Kündigungsschutzverfahren - 3 Ca 1555/85 - in sonstiger angemessener Weise weiter zu beschäftigen.
17Der Berufungsbeklagte verteidigt das angefochtene Urteil und bittet um Zurückweisung auch des Hilfsantrages.
18Wegen des Sachvortrages der Parteien im übrigen wird auf den vorgetragenen Inhalt der im Verfahren gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.
19Die Akten - 3 Ca 1555/85 Arbeitsgericht Bonn - waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
20Entscheidungsgründe
21Die nach dem Beschwerdewert an sich statthafte, form- und fristgerecht eingelegte, somit zulässig Berufung hatte in der Sache keinen Erfolg. Der geltend gemachte Verfügungsanspruch besteht nicht.
22Die einstweilige Verfügung setzt einen Verfügungsanspruch und einen Verfügungsgrund voraus. Der Verfügungskläger hat die dafür notwendigen tatsächlichen Grundlagen glaubhaft zu machen.
23Die ganz überwiegende Auffassung in der Rechtsprechung ging bis zur Entscheidung des Großen Senats zum Weiterbeschäftigungsanspruch vom 27.2.1985 - GS 1/84 - EzA § 611 BGB Beschäftigungspflicht Nr. 9 mit Anm. von Gamillscheg = ZIP 1985, 1214 = N ZA 1985, 702) davon aus, daß der Arbeitnehmer unter bestimmten Voraussetzungen einen Weiterbeschäftigungsanspruch . bis zur rechtskräftigen Entscheidung des Kündigungsschutzverfahrens im Wege der einstweiligen Verfügung durchsetzen konnte (vgl. LAG Hamburg DB 1974, 2408; DB 1977, 500; DB 1984, 196 und DB 1983,
24126; LAG Frankfurt BB 1979, 1200; LAG Schleswig-Holstein DB 1976, 826; LAG Düsseldorf BB 1979, 991). Daran ist im Grundsatz festzuhalten. Die vom Großen Senat statuierten Voraussetzungen für den Weiterbeschäftigungsanspruch, denen sich die Kammer im Verfahren der einstweiligen Verfügung anschließt, haben jedoch einschneidende Folgen für die einstweilige Verfügung vor Erlaß des Urteils im Hauptverfahren. War bisher notwendig und neben dem Verfügungsgrund auch wohl ausreichend, daß das Obsiegen im Hauptverfahren mit hoher Wahrscheinlichkeit eintrat, so muß jetzt bereits für die Prüfung des Verfügungsanspruchs glaubhaft gemacht werden, daß die Interessenabwägung abweichend von der Regel auch schon vor Erlaß eines Urteils in I. Instanz im Kündigungsschutzverfahren dafür spricht, einen Weiterbeschäftigungsanspruch anzuerkennen. Zusätzlich muß der Verfügungsgrund gegeben sein. Dieser ist wohl immer anzunehmen, wenn die Interessenabwägung auch schon ausnahmsweise vor Erlaß des Urteils I. Instanz im Kündigungsschutzverfahren zugunsten des Arbeitnehmers ausfällt (so auch Schäfer MZA 1985, 695).
25Der Große Senat hat den Weiterbeschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers über den Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist hinaus bis zur rechtskräftigen Entscheidung des Kündigungsschutzprozesses nur anerkannt, wenn die Kündigung unwirksam ist und überwiegende schützwerte Interessen des Arbeitgebers einer solchen Weiterbeschäftigung nicht entgegenstehen. Von dem Fall einer offensichtlich unwirksamen Kündigung abgesehen, begründet nach Auffassung des Großen Senats die Ungewißheit über den Ausgang des Kündigungschutzprozesses ein schutzwertes Interesse des Arbeitgebers an der Nichtbeschäftigung des Arbeitnehmers. Daraus folgt:
26Ein Beschäftigungsanspruch besteht erst dann, wenn in der Hauptsache ein Urteil zugunsten des Arbeitsnehmers ergangen ist.
27Der Große Senat hat für die Zeit bis zum Erlaß des Urteils im Kündigungsschutzverfahren eine Abwägung der Interessen des Arbeitgebers und Arbeitnehmers vorgenommen (vgl. C II 3 b der Gründe). Dabei hat er aus der Unsicherheit über die Wirksamkeit der Kündigung und aus der damit verbundenen Ungewißheit des Prozeßausganges mit den daraus folgenden Risiken, die im einzelnen dargelegt worden sind, ein schutzwertes Interesse des Arbeitgebers anerkannt, den gekündigten Arbeitnehmer für die Dauer des Kündigungsprozesses nicht zu beschäftigen. Berücksichtigt worden sind bei der Abwägung zugunsten des Arbeitnehmers vor allem das für den Beschäftigungsanspruch maßgebliche ideelle Interesse, durch die vertragsmäßige Tätigkeit die Persönlichkeit zu entfalten sowie sich die Achtung und Wertschätzung der Menschen seines Lebenskreises zu erwerben oder zu erhalten. Der Große Senat hat die Nachteile des Arbeitgebers im allgemeinen als schwerwiegender angesehen als die, die der Arbeitnehmer durch ein zeitweiliges Unterbleiben der Beschäftigung erleidet.
28Sie bedeuten für den Arbeitnehmer noch keine gravierende Beeinträchtigung der Entfaltungsmöglichkeiten seiner Persönlichkeit und seines Ansehens in seiner sozialen Umwelt.
29Diese Interessenabwägung ist nicht absolut, sie trifft den Regelfall. Das wird vom Großen Senat klargestellt. Es ist aber zu beachten, daß bis zum Erlaß eines Urteils in I. Instanz im Kündigungsschutzprozeß eim Regel-Ausnahmeverhältnis besteht. Ein Weiterbeschäftigungsanspruch bedarf also in der Interessenabwägung zusätzlicher Kriterien, die es rechtfertigen, die Interessenabwägung anders, d. h. zugunsten des Arbeitnehmers vorzunehmen. Nur dann ist ein Weiterbeschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers vor einem Urteil im Kündigungsschutzprozeß I. Instanz anzuerkennen.
30Für das einstweilige Verfügungsverfahren hat das folgende Konsequenzen: Ein Verfügungsanspruch kann vor Erlaß des Urteils I. Instanz im Kündigungsschutzprozeß, von der offensichtlichen Unwirksamkeit der Kündigung abgesehen, ausnahmsweise nur dann anerkannt werden, wenn der Arbeitnehmer die atypische Interessenlage glaubhaft macht, die zur Anerkennung des Weiterbeschäftigungsanspruchs des Arbeitnehmers führen kann (vgl. auch Schäfer NZA 1985, 694). Dabei muß es sich um wirklich gravierende Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte des Arbeitnehmers handeln, die über die Belastungen durch die Tatsache der vorübergehenden Nichtbeschäftigung als solche hinausgehen.
31Sie sind vom Großen Senat bereits gewichtet worden. Ob und wann solche Voraussetzungen vorliegen, kann nur im Einzelfall entschieden werden. Als denkbare Gründe können die Erhaltung und Sicherung der Qualifikation des Arbeitnehmers in Betracht kommen. Hier kann gegebenenfalls auch bei einer nur zeitweisen Nichtbeschäftigung ein so großer Nachteil für den Arbeitnehmer entstehen, daß eine andere Interessenabwägung gerechtfertigt sein kann.
32Nach diesen Grundsätzen besteht ein Verfügungsanspruch des Klägers nicht.
33Die Kündigung des Verfügungsklägers ist nicht offensichtlich unwirksam. Offensichtlich unwirksam ist eine Kündigung nur dann, wenn sich schon aus dem eigenen Vortrag des Arbeitgebers ohne Beweiserhebung und ohne daß ein Beurteilungsspielraum gegeben wäre, jedem Kundigen die Unwirksamkeit der Kündigung geradezu aufdrängen muß. Die unwirksame Kündigung muß also ohne jeden vernünftigen Zweifel in rechtlicher und in tatsächlicher Hinsicht offen zutage liegen.
34Diese Voraussetzungen liegen ersichtlich nicht vor. Der Beklagte hat die Kündigung mit der Unfähigkeit des Verfügungsklägers begründet, seine vertraglichen Dienste weiter zu erbringen. Dafür hat er sich auf fachärztliche Gutachten gestützt. Zwar sind diese aus Februar 1985 - die Kündigung wurde im Juni 1985 ausgesprochen - jedoch ist die Kündigung deswegen keinesfall bereits offensichtlich unwirksam im Sinne der oben aufgeführten Definitionen in der Entscheidung des Großen Senats des BAG. Zudem hat der Hausarzt des Verfügungsklägers noch am 24.9.1984 die Diagnose der früheren Gutachten bestätigt, wenn er auch später aufgrund einer neueren Untersuchung zu einem anderen Urteil kommt. Die irrtümlich falsche Fragestellung des Gerichts gibt dafür keine zureichende Erklärung, denn der Hausarzt hat den Kläger aufgrund einer Untersuchung am 11.7.1985 einerseits per 1.8.1985 für arbeitsfähig befunden, andererseits aufgrund derselben Untersuchung das Gutachten vom 24.9.1985 abgegeben, daß den Kläger als ständig berufsunfähig für seine vertragliche Tätigkeit bezeichnet.
35Die augenscheinlichen Divergenzen in diesen ärtzlichen Beurteilungen schließen jedenfalls eine offensichtlich unwirksame Kündigung aus.
36Ob der Kläger nach den vorliegenden Gutachten die Möglichkeit des Obsiegens bzw. sein Obsiegen die notwendige hohe Wahrscheinlichkeit hat, bedarf keiner Entscheidung, denn der Kläger hat nichts dafür vorgetragen, daß eine der atypischen Interessenlagen anzunehmen wäre, die Voraussetzung für den Weiterbeschäftigungsanspruch bis zum Erlaß eines Urteils im Kündigungsschutzprozeß I. Instanz ist. Sein Interesse an der Weiterbeschäftigung ist das typische ideelle Interesse des Arbeitnehmers, das der Große Senat bei der von ihm vorgenommenen Interessenabwägung bereits gewichtet hat. Ihm entgegen steht das überwiegende Interesse des Arbeitgebers wegen des ungewissen Ausgangs des Kündigungsschutzprozesses .
37Der Hilfsantrag des Verfügungsklägers ist zulässig, aber unbegründet. Die Klageänderung ist sachdienlich, denn mit der Änderung wird der Streit der Parteien um eine Weiterbeschäftigung bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Kündigungsschutzverfahren endgültig behoben und ein neuer Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Verfügung vermieden (vgl. Zöller, § 263 ZPO Anm. 14). Der Antrag ist für das Verfahren der einstweiligen Verfügung auch hinreichend bestimmt, nachdem der Verfügungskläger im Schriftsatz vom 25.11.1985 eine konkrete Möglichkeit der anderweitigen Weiterbeschäftigung genannt hat.
38Der Hilfsantrag scheitert aber an denselben Erwägungen wie der Hauptantrag. Auch für eine Beschäftigung auf einem anderen Arbeitsplatz muß der Verfügungskläger ein ganz besonderes Beschäftigungsinteresse darlegen, das es rechtfertigt, von der für den Regelfall geltenden Interessenabwägung des Großen Senats abzuweichen. Der Verfügungskläger hat auch insoweit nichts vorgetragen.
39Der Weiterbeschäftigungsanspruch kann schließlich nicht auf § 102 Abs. 5 BetrVG gestützt werden, denn der Widerspruch des Betriebsrates ist nicht ordnungsgemäß. Im Schreiben vom 13.6.1985 wird nur formelhaft der Gesetzestext wiederholt ohne ausreichende konkrete Hinweise, die den Kündigungsfall und eine anderweitige Beschäftigung im Betrieb betreffen.
40Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO.
41Die Festsetzung des Streitwertes, die zu erfolgen hatte, nachdem im Berufungsverfahren weitere Anträge gestellt wurden, beruht auf § 12 Abs. 7 ArbGG i.V.m. § 19 Abs. 5 GKG.
42Gegen das Urteil findet nach § 72 Abs. 4 ArbGG kein Rechtsmittel statt.
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