Urteil vom Landesarbeitsgericht Köln - 10 Sa 632/92
Tenor
1. Auf die Berufung des Klägers wird das
Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom
26.03.1992 - 6 Ca 6724/91 - teilweise abgeändert:
Die Beklagte wird verurteilt, den
Kläger bis zur rechtskräftigen Beendi- gung des Rechtsstreits als Schadens- sachbearbeiter Kfz weiterzubeschäftigen.
2. Die Berufung der Beklagten wird zurück- gewiesen.
3. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die
Beklagte.
4. Streitwert: 27.250,-- DM.
1
T a t b e s t a n d
2Der Kläger (39 Jahre, verheiratet, 2 Kinder) steht seit dem 01.01.1985 zu den Bedingungen des schriftlichen Vertrages vom 21.12.1984 (Blatt 24 f d.A.) in einem Arbeitsverhältnis als Schadenssachbear- beiter in der Landesdirektion Köln der Beklagten. Seine vorangehende Betriebszugehörigkeit seit dem 01.10.1978 bei der Patria-Versicherungs-AG ist ihm bei der Ein- stellung angerechnet worden. Das Monatsgehalt des Klä- gers betrug zuletzt DM 5.450,-- brutto. Der Kläger ist Vorsitzender des Betriebsrates der Landesdirektion.
3Nach dem Urlaub des Klägers, der bis zum 27.08. 1991 gewährt worden war, erschien der Kläger am 28.08. 1991 nicht zur Arbeit. Seine Ehefrau teilte telefonisch mit, der Kläger halte sich in Berlin auf, er leide unter starken Rückenschmerzen, die es ihm unmöglich machten, nach Köln zurückzukommen. Die seitens der Ehe- frau des Klägers angekündigte Arbeitsunfähigkeitsbe- scheinigung war ausgestellt bis zum 06.09.1991 und ging am 02.09.1991 bei der Beklagten ein. Am Montag, den 09.09.1991, teilte die Ehefrau des Klägers telefonisch mit, dieser sei weiterhin transportunfähig und der Arzt vermute aufgrund der starken Schmerzen einen Bandschei- benvorfall. Die weitere ärztliche Bescheinigung über eine Arbeitsunfähigkeit bis voraussichtlich 13.09.1991, ausgestellt am 06.09.1991 ging am 11.09.1991 bei der Beklagten ein.
4Der Kläger ist geschäftsführender Gesellschafter einer im Handelsregister eingetragenen Firma "Ibing und Zaremba Wärmeisolierungs- und Energiesparprogramme GmbH"; weitere geschäftsführende Gesellschafter sind neben der Ehefrau des Klägers die Eheleute Monika und Mario I. Der im Handelsregister verzeichnete Fir- mensitz stimmt mit der Privatanschrift des Klägers überein. Die Firma unterhält eine Hauptgeschäftsstelle in Brandenburg, wo sich der Kläger während seines Ur- laubs und zu Beginn seiner Arbeitsunfähigkeit aufhielt.
5Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 12.09.1991 (Blatt 3 - 6 d.A.) fristlos, nachdem sie zuvor am 11.09.1991 (Anhörungsschreiben Blatt 74 - 77 d.A.) den Betriebsrat um Zustimmung gebe- ten hatte, die dieser am 12.09.1991 erteilt hat. In dem Kündigungsschreiben legte die Beklagte ausführlich dar, daß sie aufgrund Nachforschungen zu der Feststellung gelangt sei, daß die Angaben der Ehefrau des Klägers über dessen Erkrankung und über die Transportunfähig- keit nachweislich falsch seien. Ferner wird dem Kläger vorgeworfen, er habe durch seine Tätigkeit für die eigene Firma Vertragspflichten verletzt.
6Das Kündigungsschreiben ist dem Kläger am 13.09. 1991 zugegangen. Der Kläger hat mit der am 04.10.1991 bei Gericht eingereichten Klage die Rechtsunwirksamkeit der Kündigung und seinen Weiterbeschäftigungsanspruch geltend gemacht.
7Er hat insbesondere behauptet, aufgrund eines Hexenschusses sei er tatsächlich nicht in der Lage ge- wesen, die Reise nach Köln anzutreten. Dies sei ihm erst ermöglicht worden, nachdem der behandelnde Arzt ihm Schmerzlinderung durch eine Spritze verschafft habe.
8Der Kläger hat beantragt,
91. festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die fristlose Kündigung der Beklagten vom 13.09.1991 nicht aufge- löst ist, sondern ungekündigt fortbesteht;
102. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger über den Kündigungszeitpunkt hinaus als Schadenssachbearbeiter Kfz weiterzube- schäftigen.
11Die Beklagte hat beantragt,
12die Klage abzuweisen.
13Sie hat die Auffassung vertreten, die fristlose Kündigung sei aus wichtigem Grund rechtswirksam erklärt worden. Der Kläger habe als Gesellschafter-Geschäfts- führer gegen das vertragliche Verbot der Nebentätigkeit verstoßen und könne sich als Betriebsratsvorsitzender auch nicht darauf berufen, daß ihm dieses Verbot unbe- kannt gewesen wäre. Er habe während einer der Beklagten angezeigten Arbeitsunfähigkeit für seine eigene Firma gearbeitet und dadurch versucht, zum Nachteil der Be- klagten Lohnfortzahlungen zu erschleichen. Die Beklagte hat behauptet: Der Kläger habe zumindest während einer angezeigten Arbeitsunfähigkeit, die angeblich wegen Rückenbeschwerden bestanden habe, Kisten geschleppt, am Schreibtisch gearbeitet und sei Auto gefahren. Damit habe er gegen seine Verpflichtung verstoßen, sich ge- sundheits- und heilungsfördernd zu verhalten. Außerdem habe der Kläger der Wahrheit zuwider behauptet, bzw. durch seine Frau behaupten lassen, er läge seit dem 28.08.1991 krankheitsbedingt bewegungsunfähig in Berlin. Tatsächlich sei er zumindest am 2. September 1991 in seiner Privatwohnung in Köln gewesen, er habe seine mit dem Auto unternommene Reise nach Köln und auch zurück nach Brandenburg später selbst eingeräumt.
14Das Arbeitsgericht Köln hat nach Durchführung einer Beweisaufnahme durch Einvernahme der Zeugen H, K und W durch das am 26.03.1992 ver- kündete Urteil - 6 Ca 6724/91 - der Feststellungsklage stattgegeben und die Klage mit dem Weiterbeschäfti- gungsantrag abgewiesen. In den Entscheidungsgründen des Urteils, auf dessen weiteren Inhalt Bezug genommen wird (Blatt 88 - 101 d.A.), ist unter anderem festgestellt: Die Firmengründung und die Geschäftsführerstellung des Klägers seien kein wichtiger Kündigungsgrund, weil es sich nicht um Konkurrenztätigkeit gehandelt habe. Durch das Nebentätigkeitsverbot könne dem Kläger allenfalls die Unterlassung von Tätigkeiten auferlegt werden, wenn die Beklagte daran ein berechtigtes Interesse habe, daran habe es gefehlt. Daß die Arbeitsunfähigkeit des Klägers nur vorgetäuscht gewesen wäre, sei unbewiesen. Die Zeugenaussage habe nicht den Beweis dafür erbracht, daß der Kläger am 02.09.1991 in Köln gewesen wäre, und auch nicht dafür, daß der Kläger seine Anwesenheit in Köln selbst eingeräumt hätte. Soweit die Beklagte die fristlose Kündigung auch darauf gestützt habe, daß der Kläger nach ihrer Behauptung am 10.09.1991 mit seinem Auto gefahren sei, Gegenstände transportiert und auch die Rückfahrt nach Köln unternommen habe, sei damit ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung nicht schlüssig dargelegt worden. Dem Weiterbeschäftigungsan- spruch könne nicht stattgegeben werden, weil die dies- bezügliche Rechtsprechung des BAG eine unzulässige Rechtsfortbildung darstelle.
15Gegen das dem Kläger am 13.07.1992 und der Beklagten am 10.07.1992 zugestellte Urteil haben der Kläger am 24.07. und die Beklagte am 07.08.1992 Beru- fung eingelegt. Die Berufung des Klägers ist am 24.07. 1992 und die Berufung der Beklagten ist am 07.09.1992 schriftsätzlich begründet worden.
16Die Parteien verfolgen mit der Berufung ihr erstinstanzliches Klageziel weiter.
17Der Kläger wiederholt sein erstinstanzliches Vorbringen und leugnet insbesondere, daß Umstände fest- zustellen wären, die gemäß den Anforderungen des Be- schlusses des Großen Senats vom 27.02.1985 angesichts des Klageerfolges mit der Feststellungsklage ein im Einzelfall überwiegendes Interesse des Arbeitgebers be- gründen könnten, den Kläger nicht zu beschäftigen.
18Der Kläger beantragt,
19das angefochtene Urteil teilweise abzuändern, dem Weiterbeschäftigungsantrag des Klägers stattzugeben und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
20Die Beklagte beantragt,
21unter Abänderung des angefochtenen Urteils und Zurückweisung der Berufung des Klägers diesen insgesamt mit der Klage abzuweisen.
22Die Beklagte wiederholt ihr erstinstanzliches Vorbringen und kritisiert insbesondere die Beweisfest- stellungen des angefochtenen Urteils. Äußerst vorsorg- lich, so erklärt die Beklagte, berufe sie sich auf Um- deutung ihrer fristlos ausgesprochenen Kündigung in eine außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauf- frist zum 31.03.1992.
23Wegen des Sach- und Streitstandes im übrigen wird auf den Inhalt der beiderseitigen Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Sitzungsniederschrift vom 07.01.1993 Bezug genommen.
24E n t s c h e d i d u n g s g r ü n d e
25Die beiderseitigen Berufungen der Parteien sind an sich statthaft und auch im übrigen zulässig. In der Sache selbst ist das Rechtsmittel des Klägers erfolg- reich, während die Berufung der Beklagten keinen Erfolg hat.
26Die Klage ist in vollem Umfang zulässig und be- gründet.
27I. Die Feststellungsklage ist begründet, weil zu der seitens der Beklagten erklärten fristlosen Kündigung des Arbeitsverhältnisses der nach dem Gesetz erforder- liche wichtige Grund gefehlt und der Kläger dies frist- gerecht mit der Klage geltend gemacht hat (§§ 626 BGB, 13 Abs. 1 Satz 2, 4 KSchG). Einer Beweisaufnahme hat es dazu nicht bedurft, weil der wichtige Grund schon nach dem eigenen Tatsachenvorbringen der Beklagten nicht vorgelegen hat. Das Berufungsgericht sieht einen wich- tigen Grund zur außerordentlichen Kündigung vielmehr auch dann nicht als gegeben an, wenn man das gesamte Tatsachenvorbringen der Beklagten als zutreffend unter- stellt. Auch dann haben vielmehr keine Tatsachen vorge- legen, die es bei Abwägung der beiderseitigen Interes- sen unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfal- les der Beklagten unzumutbar gemacht hätten, das Ar- beitsverhältnis mit dem Kläger fortzusetzen. Das Gericht geht von folgendem Sachverhalt als Entscheidungsgrund- lage aus:
28Der wegen langjähriger Betriebszugehörigkeit "unkündbare" Kläger war im Zeitpunkt der Kündigung als Betriebsratsmitglied nur mit Zustimmung des Betriebs- rates aus wichtigem Grund außerordentlich kündbar. Er kehrte am 28.08.1991 nicht aus dem Urlaub zurück. Die Beklagte erhielt den Anruf seiner Ehefrau, er liege in Berlin mit starken Rückenschmerzen danieder, sei trans- portunfähig, eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung wer- de nachgereicht. Am 02.09.1991 traf die Bescheinigung bei der Beklagten ein, sie war am 28.08. für die vor- aussichtliche Dauer bis zum 06.09.1991 ausgestellt. "Zeitgleich" erfuhr die Beklagte durch Hinweise aus der Belegschaft, daß der Kläger Geschäftsführer und Mitgesellschafter einer GmbH für "Wärmeisolierung- und Sparprogramme" war, die mit einer geschäftlichen Nie- derlassung in Brandenburg arbeitete. Bei einem Tele- fonanruf in der Wohnung des Klägers in Köln haben zwei Mitarbeiter der Beklagten den für sie völlig sicheren Eindruck gewonnen, daß sich dort am 02.09.1991 der Klä- ger persönlich als anwesend am Telefon gemeldet habe. Sie sind sicher, daß sie die Stimme des Klägers erkannt haben.
29Am 09.09.1991 teilte die Ehefrau des Klägers te- lefonisch der Beklagten mit, sie sei am Wochenende (07./08.09.1991) in Berlin gewesen, um den Kläger abzu- holen. Dieser sei immer noch nicht transportfähig, der Arzt vermute einen Bandscheibenvorfall und halte ein Computertomogramm für erforderlich, man wolle nunmehr eine Woche später versuchen, den Kläger nach Köln zu holen.
30Der Personalleiter H (Landesdirektion Köln) und der Zeuge W (Landesdirektion Berlin) flogen am 10.09.1991 nach Berlin, um den Kläger in den Räumen der genannten GmbH aufzusuchen. Sie trafen ihn zunächst nicht an, erfuhren aber von einem dort tätigen Mitar- beiter, der Kläger werde gegen 14.00 Uhr von einer ge- schäftlichen Fahrt nach Brandenburg zurückerwartet. Die Zeugen H und W beobachteten danach insgeheim, daß der Kläger schon etwa 15 Minuten später allein mit dem PKW zurückkam und, ohne ein Anzeichen von Behinde- rung oder Schmerzen, eine Kiste aus dem Kofferaum ent- nahm, um diese unter einem Zaun hindurchkriechend in das Büro zu tragen. Etwa zehn Minuten später betraten die Zeugen das Büro des Klägers und trafen ihn am Schreibtisch sitzend bei der Arbeit an. Sie hielten ihm vor, er übe eine unerlaubte Nebentätigkeit aus, sei nicht arbeitsunfähig und habe sich noch am 02.09.1991 in Köln aufgehalten, obwohl seine Ehefrau die Trans- portunfähigkeit angezeigt habe. Der Kläger hat auf die letztgenannte Vorhaltung geantwortet: "Woher wissen Sie das?" - Nachdem der Zeuge H sinngemäß sagte, man verfüge über entsprechende Informationen, hat der Klä- ger lediglich geschwiegen.
31Aus der für die Krankenkasse bestimmten Durch- schrift der Folgebescheinigung, die der behandelnde Arzt Klaus Dieter M in Berlin am 06.09.1991 für die Zeit bis zum 13.09.1991 ausgestellt hatte, erkann- te die Beklagte, daß der Arzt der Krankenkasse als Diagnose mitteilte, "Nr. 728". Die Beklagte stellte durch Rückfragen fest, daß es sich um die Diagnose "Rückenmyogenose" handelte und daß dies eine Muskelhär- tung mit Knotenbildung bedeutete und keine Transport- unfähigkeit zur Folge hätte.
32Dieser Sachverhalt ergibt, wie es letztlich auch das Arbeitsgericht überzeugend festgestellt hat, in rechtlicher Hinsicht keinen wichtigen Grund, der die Beklagte zur außerordentlichen Kündigung eines Be- triebsratsmitgliedes (§§ 15 Abs. 1 KSchG, 626 BGB) be- rechtigt hätte.
332. Als wichtiger Grund zur fristlosen Kündigung kommt bei dem gegebenen Sachverhalt allein in Betracht, daß der Kläger durch schuldhaftes Verhalten in einem solchen Maße gegen seine arbeitsvertraglichen Pflichten verstoßen hätte, daß das Arbeitsverhältnis dadurch im Zeitpunkt der Kündigung auch ohne eine vorherige ver- gebliche Abmahnung mit dem Gewicht eines wichtigen Grundes belastet gewesen wäre. Dies ist bei einer eini- germaßen objektiven und sachlichen Wertung des Verhal- tens des Klägers nicht festzustellen. Der Umstand, daß auf Seiten der Beklagten und insbesondere bei dem Vor- gesetzten des Klägers oder bei Mitgliedern des Be- triebsrates das Verhalten des Klägers Empörung ausge- löst hat, kommt es nicht entscheidend an. Ausgangspunkt der Feststellung eines Kündigungsgrundes muß vielmehr zunächst einmal die rechtliche Wertung des tatsächli- chen Verhaltens des Klägers sein, mithin die Frage, ob und in welchem Maße der Kläger überhaupt gegen vertrag- liche Verpflichtungen schuldhaft verstoßen hat.
34Es kommen dreierlei Vertragsverfehlungen in Be- tracht: Der Kläger könnte durch seine Tätigkeit als Ge- schäftsführer und Mitgesellschafter der I + Z gegen ein vertragliches Nebentätigkeitsverbot verstoßen haben, er könnte ferner Nebenpflichten während seiner Arbeitsun- fähigkeit verletzt haben, insbesondere die Pflicht zu gesundheitsförderndem Verhalten. Schließlich könnte zu- mindest der dringende Verdacht bestehen, daß der Kläger die Arbeitsunfähigkeit nur vorgetäuscht und durch Simu- lation zum Zwecke der Gehaltsfortzahlung die Arbeitsun- fähigkeitsbescheinigung erschlichen hätte, mithin der Verdacht eines strafbaren Betrugsversuches. Keiner die- ser genannten drei Gesichtspunkte ist im vorliegenden Fall geeignet, eine fristlose Kündigung auch nur im Sinne eines objektiv bestehenden wichtigen Grundes zu rechtfertigen.
35a) Eine vertragliche Verpflichtung des Klägers, seine Nebentätigkeit als Geschäftsführer und Mitge- sellschafter der Firma I + Z zu unterlassen, hat, wie es auch das angefochtene Urteil zutreffend feststellt, nicht bestanden. Erst recht mangelt es in dieser Hin- sicht an einem Sachverhalt, der objektiv geeignet wäre, ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung zu sein. Eine Vertragsklausel, die dem Arbeitnehmer jede vom Arbeitgeber nicht genehmigte Nebentätigkeit verbietet, ist unter Beachtung der in Artikel 12 GG zum Ausdruck gekommenen Wertvorstellungen über die Berufsfreiheit und die Freiheit der beruflichen Tätigkeit verfas- sungskonform dahin auszulegen, daß nur solche Nebentä- tigkeiten bzw. Nebenbeschäftigungen von einer vorheri- gen Zustimmung des Arbeitgebers abhängig gemacht werden dürfen oder verboten werden können, an deren Unterlas- sung der Arbeitgeber ein berechtigtes Interesse hat. Dies ist etwa der Fall, wenn durch die Ausübung der Ne- bentätigkeit die vertraglich geschuldeten Leistungen beeinträchtigt werden oder wenn eine Konkurrenztätig- keit vorliegt. Insbesondere eine außerordentliche Kün- digung kann durch die Ausübung einer Nebentätigkeit nur dann gerechtfertigt werden, wenn die vertraglich ge- schuldete Leistung im Arbeitsverhältnis beeinträchtigt wird. Letztlich wird dieser Sachverhalt sogar grund- sätzlich nicht ohne eine Abmahnung als wichtiger Grund geeignet sein. Konnte der Arbeitgeber die Ausübung der Nebentätigkeit nicht rechtswirksam verbieten oder ver- hindern, dann muß nach dem Grundsatz der Verhältnis- mäßigkeit vor dem Ausspruch einer Kündigung dem Arbeit- nehmer die Chance eröffnet werden, durch eine Rückfüh- rung der nebenberuflichen Tätigkeiten den Interessen des Arbeitgebers Rechnung zu tragen. Nur in Ausnahme- fällen wird diese Abmahnung entbehrlich sein.
36Das Tatsachenvorbringen der Beklagten bietet keinen einzigen Anhaltspunkt dafür, daß der Kläger in- folge der ausgeübten Nebentätigkeit seine vertrag- lichen Verpflichtungen als Schadenssachbearbeiter Kfz nicht mehr ordnungsgemäß erfüllt hätte. Um eine Kon- kurrenztätigkeit hat es sich unstreitig nicht gehandelt.
37b) Ein Umstand, der an sich geeignet wäre, ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung zu sein, kann im vorliegenden Fall auch nicht dadurch ein- getreten sein, daß der Kläger seine Nebentätigkeit noch während der Arbeitsunfähigkeit ausgeübt hat. Es kommt hierbei durchaus in Betracht, daß der Kläger damit eine Nebenpflicht zu gesundheitsförderndem Verhalten ver- letzt und insofern gegen den Arbeitsvertrag verstoßen hat (vgl. dazu KR-Becker, 3. Aufl. § 1 KSchG Rdz. 276). Ein Grund zur außerordentlichen Kündigung kann darin jedoch erst dann erblickt werden, wenn es sich um einen groben Verstoß gegen die genannte vertragliche Neben- pflicht handelte. Im Normalfall wird auch wegen dieses Verhaltens eher an eine verhaltensbedingte fristgerech- te Kündigung zu denken sein als an das letzte Mittel einer außerordentlichen Kündigung aus wichtigem Grund. Wenn der Kläger tatsächlich am 02.09.1991 mit dem PKW nach Köln gefahren ist und alsbald wieder zurück nach Berlin, dann ist zwar nicht auszuschließen, daß dies seinen Gesundheitszustand nachteilig beeinflußt hat. Die Annahme jedoch, daß der Kläger durch unvorsichtiges Verhalten unter Verstoß gegen seine vertragliche Treue- pflicht schuldhaft den Gesundungsprozeß verzögert hätte, ist damit allein nicht zu rechtfertigen. Der Kläger hat, wenn man das Vorbringen der Beklagten zugrundelegt, während seiner Arbeitsunfähigkeit seinen Aufenthalt in Berlin und Brandenburg fortgesetzt, er ist zu geschäftlichen Zwecken zumindest am 10.09.1991 mit dem PKW unterwegs gewesen. Ferner hat der Kläger ungeachtet seiner Rückenbeschwerden eine Kiste von dem Auto in das Büro getragen. Ferner hat er an diesem Tag in dem Geschäftslokal seiner Firma am Schreibtisch sit- zend gearbeitet. Weitere Feststellungen über die kör- perliche Betätigung des Klägers hat die Beklagte letzt- lich nicht treffen können. Ihre Vermutung, daß der Klä- ger damit seine alsbaldige Genesung schuldhaft gefähr- det habe, reicht nicht für die erforderliche Feststel- lung aus, daß der Kläger sich in grobem Maße über die Verpflichtungen hinweggesetzt hätte, die er mit Rück- sicht auf das vertragliche Interesse der Beklagten hatte.
38Eine Nebentätigkeit darf prinzipiell auch wäh- rend einer ärztlich bescheinigten Arbeitsunfähigkeit weiter ausgeübt werden.
39Nebenbeschäftigungen während der Arbeitsunfähig- keit können eine Kündigung nur rechtfertigen, wenn sie aus Gründen des Wettbewerbs den Interessen des Arbeit- gebers zuwider laufen oder durch sie der Heilungsprozeß verzögert wird (BAG Urteil vom 13.11.1979 - 6 AZR 934/77 = AP Nr. 5 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit). Zu- treffend kann auch davon ausgegangen werden, daß es nicht erforderlich ist, die tatsächliche Verzögerung des Heilungsprozesses nachzuweisen, daß es vielmehr ausreicht, wenn der Arbeitnehmer während der Tageszei- ten, in denen er sonst im Betrieb der Beklagten zu ar- beiten gehabt hätte, Tätigkeiten verrichtet, die grund- sätzlich geeignet sind, die Genesung zu verzögern (so etwa LAG Hamm, Urteil vom 28.08.1991 - 15 Sa 437/91 = LAGE § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 34 = DB 1992, 431 f). Abgesehen davon, daß der Tatsachenvortrag der Beklagten zur tatsächlichen Verzögerung des Hei- lungsprozesses gänzlich fehlt und der Vortrag zu dem tatsächlichen Umfang der Nebentätigkeiten des Klägers höchst unvollständig und unsubstantiiert ist, muß für den vorliegenden Fall darauf hingewiesen werden, daß gerade der in dem letztgenannten Urteil des LAG Hamm erörterte mögliche Kündigungsgrund nur eine verhaltens- bedingte ordentliche Kündigung rechtfertigen könnte, nicht aber eine außerordentliche Kündigung.
40c) Ein wirklich ernstzunehmender wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung könnte unter diesen Um- ständen allenfalls dann vorgelegen haben, wenn im Zeit- punkt der Kündigung die Beklagte nach der vorangegange- nen Anhörung des Klägers den dringenden Verdacht haben mußte, die Arbeitsunfähigkeit sei nur vorgetäuscht wor- den und der Kläger habe zwecks Erlangung der Gehalts- fortzahlung die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen durch Simulation erschlichen. Die Verdachtsmomente, welche die Beklagte anführt, reichen jedoch entweder von vornherein nicht für die Annahme eines dringenden Verdachts aus oder sie sind inzwischen durch ärztliche Bescheinigungen widerlegt.
41Die Beklagte trägt folgende Verdachtsmomente vor: Die Nebentätigkeit des Klägers, seine Anwesenheit in Köln am 02.09.1991, die Tätigkeiten des Klägers und die Rückfahrt nach Köln am 10.09.1991, ferner die Ein- lassungen bzw. das Stillschweigen des Klägers bei seiner Anhörung und schließlich die der Beklagten be- kanntgewordene Diagnosefeststellung auf einer Arbeits- unfähigkeitsbescheinigung. Mit keinem dieser Umstände kann der behauptete Verdacht der Beklagten als ein dringender Verdacht einer strafbaren Handlung gewertet werden, der an sich geeignet wäre, die fristlose Kündi- gung zu rechtfertigen.
42Der Verdacht, die Arbeitsunfähigkeit sei nur vorgetäuscht und die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sei lediglich erschlichen, kann sich allenfalls dann ergeben, wenn die Nebentätigkeit während der Arbeitsun- fähigkeit in besonders intensivem Maße ausgeübt wurde und in Anbetracht der damit vom Arbeitnehmer durchge- standenen körperlichen Belastungen der dringende Ver- dacht besteht, daß die Arbeitsunfähigkeit auch im Zeit- punkt der ärztlichen Feststellungen nicht vorgelegen hätte. Allerdings trägt die Beklagte für die Umstände, aus denen sich ergeben soll, daß der Kläger trotz Ar- beitsfähigkeit der Arbeit ferngebleiben wäre, die Be- weislast (BAG aaO m.m.N.). Wenn der Kläger am 10.09. 1991 tatsächlich mit dem PKW nach Brandenburg gefahren ist, die Kiste aus dem PKW in das Büro getragen und dort am Schreibtisch sitzend eine Bürotätigkeit ausge- übt hat, dann folgt daraus allein nicht die Unrichtig- keit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Ein Verdacht in dieser Hinsicht ist schließlich auch dadurch ausge- räumt, daß der Kläger ausweislich der Bescheinigung des ihn behandelden Arztes an diesem Tage nicht nur unter- sucht, sondern auch vom Arzt mit Hilfe einer Injektion so behandelt worden ist, daß erwartet werden konnte, er werde an diesem Tag mit dem PKW nach Köln zurückfahren können. Die Einlassung des Klägers, daß der Arztbesuch bereits am Vormittag stattgefunden habe, bevor die Mit- arbeiter der Beklagten ihn in seinem Geschäftslokal in Berlin aufsuchten, kann nicht widerlegt werden. Unter diesen Umständen reichen die Vermutungen der Beklagten für die Annahme eines Betrugsversuchs des Klägers nicht aus.
43Auch die Tatsache, daß der Kläger am 02.09.1991 in Köln gewesen ist, begründet nicht den Verdacht, daß der Kläger in Wahrheit am 28.08.1991 weder arbeitsun- fähig noch transportunfähig gewesen wäre. Ausweislich der ärztlichen Bescheinigungen war vielmehr in diesem Zeitpunkt noch zu erwarten, daß sich die Beschwerden des Klägers alsbald besserten.
44Auch durch das Verhalten des Klägers bei seiner Anhörung und im Anschluß an die gegen ihn erhobenen Vorwürfe wird nicht der dringende Verdacht begründet, daß der Kläger seine Krankschreibung in betrügerischer Absicht erschlichen hätte. Wenn es der Kläger ange- sichts der offensichtlichen Drucksituation vorzog, zu schweigen und die Fragen der Beklagten unbeantwortet zu lassen, dann ist dies nicht ohne weiteres ein Umstand, der in verdächtig machte. Daß der Kläger die Beklagte belogen hätte, hat diese nicht konkret behauptet. Die Beklagte hat vielmehr lediglich berichtet, welche Rück- schlüsse die Zeugen H und W aus dem Verhalten des Klägers gezogen haben. Diese Zeugen waren jedoch nach eigenem Bekunden von vornherein davon überzeugt, daß der Kläger durch sein Verhalten schwerwiegend gegen seinen Arbeitsvertrag verstoßen hätte. Der Kläger hatte, nachdem die Zeugen erklärt hatten, sie verfügten über alle notwendigen Informationen, keine Veranlassung mehr, weitere Angaben zum Sachverhalt beizusteuern. Er mußte sich vielmehr sagen, daß dies zwecklos wäre.
45Soweit der den Kläger behandelnde Arzt auf der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eine Diagnose ver- merkt hat, ist selbst dann, wenn die medizinischen Be- wertungen, welche die Beklagte daran knüpft, zutreffen, kein Verdacht begründet, daß der Kläger die von dem Arzt behandelten weiteren Beschwerden simuliert hätte, daß es insbesondere Rückenbeschwerden, die den Kläger transportunfähig gemacht hätten, zu keinem Zeitpunkt gegeben habe. Zweifel in dieser Hinsicht, die auch von vornherein nicht den dringenden Verdacht einer straf- baren Handlung des Klägers begründet hätten, sind spä- testens durch die ärztlichen Bescheinigungen ausge- räumt, die der Kläger im Laufe des Rechtsstreits dem Gericht vorgelegt hat. Der Facharzt für Orthopädie Dr. O in Köln, bei dem der Kläger im Anschluß an die zuletzt von dem Berliner Arzt bescheinigte Ar- beitsunfähigkeit während der Zeit vom 16.09. bis zum 26.09.1991 fachärztlich behandelt worden ist, hat unter dem 13.01.1992 bescheinigt: "Bei ihm besteht ein akutes L 5-Sydrom rechts mit extremen Beschwerden. Es waren Wurzelblockaden und hochdosierte Analgetika erforder- lich. Arbeitsunfähigkeit bestand hier vom 16.09. bis 27.09.1991." - Dementsprechend hat die Barmer Ersatz- kasse dem Kläger für die Zeit vom 02.09.1991 bis zum 30.09.1991 das tägliche Krankengeld gezahlt, nachdem die Beklagte die Gehaltsfortzahlung verweigert hatte.
46Die fachärztliche Bescheinigung des Artzes K. D. M, Facharzt für Chirurgie, aus Berlin, über- mittelt unter dem 21. Februar 1992 und ergänzt durch die in der Berufungsverhandlung überreichte Zusatzbe- scheinigung, besagt, daß der Kläger am 27.08.1991 wegen eines "Hexenschusses" mit starken Schmerzen in der Len- denregion erschienen sei, die in das rechte Bein aus- strahlten und die Beweglichkeit desselben einschränken. Die nach dem Erstbefund erstellte Diagnose lautete: "Akute Lumboischialgie". Der Arzt stellte ferner fest, daß sich bei späteren Vorstellungen am 28.08., 31.08. und 06.09. eine Besserung gezeigt habe, daß sich der Kläger jedoch am 09.09. wegen erneuter Schmerzen wieder vorgestellt habe. Am 10.09. sei der Kläger vor der Heimfahrt in der Arztpraxis erschienen und behandelt worden um die Wegefähigkeit sicherzustellen. Nach Lei- tungsblockade und weiteren Injektivionen sei eine Lin- derung eingetreten, so heißt es in der ärztlichen Be- scheinigung. Unter Berücksichtigung dieser ärztlichen Stellungnahme gibt es keinen ausreichenden Anhaltspunkt für den von der Beklagten als Kündigungsgrund behaupte- ten dringenden Betrugsverdacht.
47Ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündi- gung hat sich nach alledem nicht feststellen lassen.
482. Der Weiterbeschäftigungsanspruch des Klägers ist begründet, weil der Kläger die Weiterbeschäftigung ver- langt und das Arbeitsgericht mit dem angefochtenen Ur- teil auf die Kündigungsschutzklage hin die Unwirksam- keit der Kündigung festgestellt hat (BAG, Großer Senat, Beschluß vom 27.02.1985 - GS 1/84 = AP Nr. 14 zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht). An dem durch den Großen Senat festgestellten Rechtsgrundsatz hat das Bundesarbeitsge- richt bisher in ständiger Rechtsprechung festgehalten (vgl. z.B. BAG Urteil vom 02.04.1987 - 2 AZR 418/86 = AP NR. 96 zu § 626 BGB) der schlichte Hinweis des ange- fochtenen Urteils, die Entscheidung des Großen Senats stelle einen Akt unzulässiger richterlicher Rechtsfort- bildung dar, kann unter diesen Umständen schon im Hin- blick auf das Gebot der Rechtssicherheit und den damit für die Vertragspartner nach § 242 BGB bestehenden Ver- trauensschutz keinesfalls ausreichen, um den Weiterbe- schäftigungsanspruch im konkreten Streitfall zu ver- neinen. Auch von Seiten der Beklagten ist kein Anhalts- punkt dafür vorgetragen worden, daß abweichend von der durch den Großen Senat des BAG im einzelnen angeführten Interessenlage für sie ein besonderes Interesse an der Nichtbeschäftigung des Klägers vorläge. Im Gegenteil muß im vorliegenden Fall beachtet werden, daß auch die Tätigkeit des Klägers als Betriebsratsvorsitzender die weitere Teilnahme am Betriebsgeschehen erforderlich machen muß. Zumal das Berufungsgericht in der Beurtei- lung des Kündigungsgrundes mit dem Arbeitsgericht über- einstimmt, mußte unter diesen Umständen dem Kläger schon aus rechtsstaatlichen Gründen die Weiterbeschäf- tigung bis zum rechtskräftigen Abschluß des Verfahrens zugestanden werden.
49Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91, 97 Abs. 1 ZPO.
50Für eine Zulassung der Revision hat keine ge- setzliche Veranlassung bestanden (§ 72 Abs. 2 ArbGG); auf die Vorschriften über die Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 72 a ArbGG wird hingewiesen.
51R e c h t s m i t t e l b e l e h r u n g
52Gegen dieses Urteil ist kein Rechtsmittel gegeben.
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