Urteil vom Landesarbeitsgericht Köln - 4 Sa 377/01
Tenor
1
Tatbestand:
2Die Parteien streiten um eine außerordentliche fristlose sowie um eine außerordentliche Kündigung mit Auslauffrist.
3Der Kläger ist am 15.02.1969 geboren und verheiratet. Seit dem 15.06.1994 ist er bei der Beklagten als Süßwarenarbeiter beschäftigt. Sein durchschnittlicher Bruttomonatslohn beträgt 3.707,50 DM. Der Kläger ist in der sog. Schneckenabteilung beschäftigt, die in zwei getrennten Gebäuden untergebracht ist. In dem Teil der Schneckenabteilung, in dem der Kläger untergebracht ist, hat die Abteilungstelefon die Telefonnummer 3 . Am Arbeitsplatz des Klägers werden Lakritzschnecken in sog. Minibeutel verpackt. In der Regel sind dort zwei Mitarbeiter beschäftigt, bei Pausen dieser Mitarbeiter nur einer, auch gelegentlich tageweise nur einer. Die jeweils einzeln verpackten Schnecken fallen in Körbe, die ein Volumen von 10 Kilo fassen. Pro Minute werden ca. 400 bis 700 Beutel ausgestoßen. Ein Korb ist etwa alle zwei Minuten voll. Wenn sich etwas verschiebt, beispielsweise eine Schnecke nicht gerade liegt, bleibt die Maschine stecken. Daher hat einer der beiden an der Maschine eingesetzten Mitarbeiter die Aufgabe, die Maschine einzurichten und zu überwachen. Der andere Mitarbeiter hat die Aufgabe, am Ende der Linie am Abfüllkorb zu stehen, hier die ordnungsgemäße Füllung zu überwachen und während die Maschine weitere Beutel auswirft, die vollen Körbe anschließend auf eine Palette zu stapeln.
4Der Kläger ist Mitglied des bei der Beklagten bestehenden Betriebsrates. Er ist ebenfalls Mitglied in der Gewerkschaft NGG. Er ist in dem fünfzehnköpfigen Betriebsrat das einzige Mitglied, das in dieser Gewerkschaft organisiert ist.
5Im Oktober/November 2000 verteilte der Kläger im Betrieb der Beklagten Flugblätter, die die Arbeitnehmer auf ihr Recht zum Bildungsurlaub hinwiesen. Das Flugblatt endete mit der Formulierung: "Auskünfte und Informationen bei Herrn R S . I. H. Tel.: 3 ". Wegen des weiteren Inhalts des Flugblattes wird auf Blatt 23 d. A. Bezug genommen.
6Am 08.11.2000 fand ein Gespräche zwischen dem Kläger und dem Personalleiter der Beklagten, Herrn M , statt. Herr M teilte dem Kläger mit, er könne außerhalb des Betriebes das Flugblatt verteilen und seine private Nummer angeben, nicht aber die betriebliche. Der Kläger wies darauf hin, dass er Betriebsratsmitglied sei und vertrat die Auffassung, dass er die Telefonnummer angeben und das Flugblatt verteilen dürfe. Herr M wies dabei darauf hin, dass der Kläger bei der Verteilung des Flugblattes nicht in seiner Eigenschaft als Betriebsratsmitglied tätig werde, sondern es sich um ein Verhalten handle, das ihm als Arbeitnehmer und damit als individualvertragliches Handeln zugerechnet werden müsse. Der Kläger hängte darauf das Flugblatt zusammen mit einem dreiseitigen Informationsblatt "Arbeitnehmerweiterbildungsgesetz" (Blatt 92 bis 94 d. A.) im Schaukasten der Gewerkschaft NGG aus, der sich im Betriebsgebäude der Beklagten befindet.
7Mit Schreiben vom 09.11.2000 erteilte die Beklagte dem Kläger eine Abmahnung (Blatt 24 d. A.), mit der sie rügt, dass der Kläger eine Werbung für das Arbeitnehmerweiterbildungsgesetz in dem Schaukasten ausgehängt habe und eine Beratung zu diesem Thema unter Angabe seiner dienstlichen Telefonnummer angeboten habe. Er fordere damit die Mitarbeiter auf, ihn zu Beratungszwecken von seiner Arbeit abzuhalten. Dieses Verhalten stellt eine Verletzung seiner arbeitsvertraglichen Pflichten dar. Verbunden mit einer Androhung von Konsequenzen für das Arbeitsverhältnis wird der Kläger aufgefordert, die Angabe seiner dienstlichen Telefonnummer unverzüglich aus dem Schaukasten zu entfernen.
8Am 20.11.2000 wurde der Kläger erneut durch den Betriebsleiter mündlich aufgefordert, bis 12:00 Uhr die Flugblätter mit der Angabe der dienstlichen Telefonnummer zu entfernen.
9Am 21.11.2000 erhielt der Kläger eine weitere schriftliche Abmahnung mit der Aufforderung, das Flugblatt mit der Abteilungstelefonnummer innerhalb der nächsten zwei Stunden zu entfernen. Sonst werde die Zustimmung zu einer fristlosen Kündigung beantragt. Bei der Übergabe des Abmahnungsschreibens legte der Kläger seine gegenteilige Rechtsauffassung dar und erklärte, er lasse den Aushang hängen.
10Nach Einleitung des Zustimmungsverfahrens des Betriebsrats am 28.11.2000 wurden dem Kläger am 30.11.2000 um 13:30 Uhr zwei Kündigungsschreiben übergeben (Blatt 5/6 d. A.), eines mit einer sofort wirkenden außerordentlichen Kündigung, ein weiteres mit einer Auslauffrist zum 31.01.2001. Die Ordnungsgemäßheit des Zustimmungsverfahrens beim Betriebsrat ist zwischen den Parteien weitgehend streitig. Es existieren zwei Anhörungsschreiben vom 28.11.2000 (Blatt 28 und 91 d. A.). Bei dem letzteren ist nur angekreuzt, dass man beabsichtige außerordentlich zu kündigen. Bei dem ersteren heißt es durch Ankreuzen, Streichen und Verweis "außerordentlich zu kündigen, hilfsweise ordentlich zum nächstzulässigen Kündigungstermin zu kündigen". Jeweils wird verwiesen "Siehe hierzu auch ausführliche Erläuterungen, eine Aktennotiz, zwei Abmahnungsschreiben".
11Im Zusammenhang mit der Erteilung der zweiten Abmahnung hat der Kläger Rücksprache mit seiner Gewerkschaft genommen. Dort wurde ihm nach seinem Vortrag mitgeteilt, aus äußerster Vorsicht rate man ihm, wegen der angekündigten Kündigung den Aushang zu entfernen. Der Kläger vertrat die Auffassung, sein Verhalten könne eine Kündigung nicht rechtfertigen.
12Mit seiner am 15.12.2000 bei Gericht eingegangenen Klage wendet der Kläger sich gegen die ausgesprochenen Kündigungen. Er hat vorgetragen, er habe in einer vorausgegangenen Betriebsratssitzung dem Gremium des Betriebsrats den Gesetzestext des Arbeitnehmerweiterbildungsgesetzes NRW mit dem Hinweis vorgelegt, er wolle die Belegschaft im Betrieb über die Möglichkeit nach dem Arbeitnehmerweiterbildungsgesetz informieren. Als hierauf völlig unverständlicherweise der Betriebsrat im Widerspruch zu seinen ihm durch das Betriebsverfassungsgesetz aufgegebenen Verpflichtungen diesbezügliche Informationen der Belegschaft nicht betrieben habe, habe er, der Kläger, das Flugblatt mit den Informationen ausgelegt. Er habe in dem Bewusstsein gehandelt, im Einklang mit dem Betriebsverfassungsgesetz zu handeln.
13Der Kläger hat darauf verwiesen, dass die Verteilung der Blätter tatsächlich keinerlei Störung nach sich gezogen habe. Dazu ist unstreitig, dass diesbezüglich keiner der Mitarbeiter der Beklagten auf den Kläger zugekommen ist.
14Im Übrigen hat sich der Kläger darauf berufen, dass es im Betrieb der Beklagten üblich sei, Aushänge betreffend den Verkauf privater Sachen mit der betrieblichen Telefonnummer des jeweiligen Arbeitnehmers zu versehen.
15Der Kläger hat beantragt,
16- festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die fristlose Kündigung der Beklagten vom 30.11.2000 noch durch die vorsorglich erklärte Kündigung der Beklagten vom 30.11.2000 zum 31.01.2001 beendet wird;
- festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien auf unbestimmte Zeit fortbesteht;
- im Falle des Obsiegens mit dem Antrag zu 1) die Beklagte zu verurteilen, den Kläger vertragsgemäß als Süßwarenarbeiter weiterzubeschäftigen.
Die Beklagte hat beantragt,
20die Klage abzuweisen.
21Die Beklagte hält die außerordentliche Kündigung für gerechtfertigt. Die Flugblätter enthielten mit der Angabe der dienstlichen Telefonnummer die Aufforderung, den Kläger bei der Arbeit an seinem Arbeitsplatz anzurufen, wodurch es zwangsläufig zu Störungen des Betriebsablaufs komme. Der Kläger habe hartnäckig und trotz Rechtsberatung durch seine Gewerkschaft an seinem Pflichtverstoß festgehalten. Die Kündigung sei die ultima ratio gewesen.
22Das Arbeitsgericht hat mit Urteil vom 28.02.2001 festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die fristlose Kündigung vom 30.11.2000 noch durch die vorsorglich erklärte Kündigung vom 30.11.2000 zum 31.01.2001 beendet wird. Es hat die Beklagte weiter verurteilt, den Kläger vertragsgemäß als Süßwarenarbeiter weiterzubeschäftigen. Einen allgemeinen Feststellungsantrag hat es als unzulässig abgewiesen. Gegen dieses ihr am 03.04.2001 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 10.04.2001 Berufung eingelegt und diese am 08.05.2001 begründet.
23Die Beklagte beruft sich darauf, es habe ein erhebliches Risiko an Betriebsablaufstörungen bestanden. Unter diesem Aspekt sei sie berechtigt gewesen, solche Ablaufstörungen, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bei häufiger Abberufung des Klägers - wenn gleich auch nur zum Telefon - vorkommen würden, zu verhindern, indem sie entsprechende Maßnahmen ergriffe, die ihrer Auffassung nach geeignet seien, zumindest einen Großteil der Betriebsablaufstörungen im Vorfeld bereits zu vermeiden und ein entsprechendes Risiko so gering wie möglich zu halten.
24Im Übrigen müsse das Verhalten des Klägers als gezielte Provokation angesehen werden. Dem Arbeitgeber müsse es möglich sein, einem Betriebsratsmitglied, das versuche, dem Arbeitgeber zu diktieren, was er in seinem eigenen Unternehmen zu tun und zu lassen habe, in der Form der üblichen arbeitsrechtlichen Mittel, d. h. durch Abmahnung und für den Fall des nochmaligen beharrlichen Pflichtverstoßes durch Ausspruch einer ggf. außerordentlichen Kündigung entgegentreten zu können.
25Zur Betriebsratsanhörung trägt die Beklagte vor: Dem Betriebsrat hätten beide Anhörungsbögen vorgelegen. Zunächst sei nur die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung beantragt worden. Mit diesem ersten Anhörungsbogen seien dem Betriebsrat auch die Aktennotiz vom 21.11.2000 (Blatt 114 d. a.) sowie die zwei Abmahnungen vom 09.11. bzw. 21.11.2000 vorgelegt worden.
26Der Personalleiter, Herr M , habe dem Betriebsrat bei der Übergabe des Anhörungsbogens zudem aufgezeigt, dass dem Arbeitgeber auf Grund der fortgesetzten Weigerungen, anweisungsgemäß die Flugblattverteilung und den Aushang zu unterlassen bzw. in der vom Arbeitgeber gewünschten Form abzuändern, keine Wahl bleibe, als dem Kläger zu kündigen - und zwar außerordentlich -.
27Sodann habe die Beklagte den zweiten Anhörungsbogen nachgeschoben, von dem sie nunmehr meint, er enthalte einen zusätzlichen Antrag wegen einer Kündigung mit sozialer Auslauffrist. Die Beklagte behauptet, Herr M habe bei der Übergabe erklärt, der Arbeitgeber wolle weiterhin in erster Linie das Arbeitsverhältnis durch die fristlose Kündigung beenden, er gedenke aber vorsichtshalber zusätzlich noch hilfsweise eine außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist auszusprechen und wolle aus diesem Grunde die Anhörung auf diesen Antrag erweitern. Der Betriebsratsvorsitzende, Herr S , habe den Bogen entgegengenommen und erklärt, dass der Betriebsrat sehr wohl auch über die Möglichkeit, mit einer Frist zu kündigen, gesprochen habe und der Betriebsrat - dies könne er bereits sagen - beiden Kündigungsansinnen zustimmen werde.
28Etwa eine Stunde später (mittags) sei dann ausweislich des Schreibens des Betriebsrates vom 30. November 2000 die schriftliche Zustimmung sowohl zu der außerordentlichen Kündigung als auch zur außerordentlichen Kündigung mit sozialer Auslauffrist vom Betriebsrat übergeben worden. Wegen des genauen Wortlauts dieser Zustimmungserklärung wird auf Blatt 29 d. A. Bezug genommen. Dort ist angekreuzt "außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung zum nächstzulässigen Termin".
29Direkt im Anschluss an die Übergabe der Zustimmungserklärung habe die Beklagte die Kündigungsschreiben erstellt und dem Kläger übergeben.
30Die Beklagte beantragt,
31das Urteil des Arbeitsgerichts Bonn vom 28.02.2001 - 4 Ca 3.398/00 - abzuändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
32Der Kläger beantragt,
33die Berufung zurückzuweisen.
34Der Kläger verteidigt das erstinstanzliche Urteil. Er meint, selbst bei einem Anruf seien keine Störungen wahrscheinlich gewesen. Im Übrigen sei er als Betriebsratsmitglied verpflichtet gewesen, Fragen zum Problem der Arbeitnehmerweiterbildung zu beantworten. Jeder Arbeitnehmer habe das Recht, sich an ein Betriebsratsmitglied seines Vertrauens zu wenden.
35Der Aushang am sog. Schwarzen Brett sei im Übrigen betriebsüblich für alle privaten Angelegenheiten der Arbeitnehmer genutzt worden. Dazu bezieht sich der Kläger auf drei in Kopie beigefügte Aushänge (auf Blatt 96 ff. d. A.), mit denen ein Dach-Fahrradträger, ein Gasherd, eine Spülmaschine und eine Wohnungsvermietung angeboten werden und die jeweils die betrieblichen Durchwahlnummern angeben. Vor drei bis vier Jahren habe es auch - das ist ebenfalls unstreitig - einen Aushang des Betriebsleiters L gegeben, der selbst einen Dachgepäckträger zu verkaufen gehabt habe.
36Zur Betriebsratsanhörung bestreitet der Kläger insbesondere, dass die Beklagte auch den zweiten Anhörungsbogen übergeben habe, dass die Aktennotiz und die zwei Abmahnungen der Anhörung, die dem Betriebsrat zugegangen seien, beigefügt gewesen seien. Auch sei die Aktennotiz vom 21.11.2000 insofern falsch, als dort dem Kläger die Aussage unterstellt werde, er habe schon seinerzeit die Auflage von der Beklagten erhalten, sich in seiner Abteilung am Arbeitsplatz aufzuhalten und habe dies ignoriert und werde auch jetzt nicht anders verfahren.
37Schließlich bestreitet der Kläger auch ausdrücklich, der Betriebsrat habe um etwa 11:45 Uhr die schriftliche Zustimmung zur außerordentlichen und zur außerordentlichen Kündigung mit sozialer Auslauffrist dem Arbeitgeber überreicht.
38Wegen des übrigen Vorbringens der Parteien wird auf die zwischen diesen gewechselten Schriftsätze Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.
39Entscheidungsgründe :
40Die zulässige, form- und fristgerecht eingelegte und begründete Berufung der Beklagten hat in der Sache keinen Erfolg.
41- Für die außerordentliche Kündigung eines Betriebsratsmitglieds gelten grundsätzlich folgende Maßstäbe: Die durch § 15 KSchG geschützten Personen sind, wenn es um die Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten geht, bezüglich des Rechts des Arbeitgebers zur Kündigung grundsätzlich nicht anders zu behandeln als "normale" Arbeitnehmer. Die Eigenschaft als Amtsträger darf weder zu Gunsten noch zu Lasten des Arbeitnehmers berücksichtigt werden (BAG 16.10.1986 AP BGB § 626 Nr. 95, weitere Nachweise bei APS/Böck § 15 KSchG Rnr. 125).
Danach gilt hier wie allgemein zu § 626 Abs. 1 BGB, dass bei der Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs "wichtiger Grund" eine abgestufte Prüfung stattzufinden hat, die systematisch in zwei Prüfungsabschnitte zu trennen ist (vgl. z. B. BAG NZA 1985, 91, 92). Zunächst ist festzustellen, ob der zu beurteilende Sachverhalt ohne die besonderen Umstände des Einzelfalles an sich geeignet ist, einen wichtigen Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB abzugeben. Hierzu gehören vor allem besonders schwere Vertragsverletzungen. Ist der zu beurteilende Sachverhalt an sich geeignet, einen wichtigen Grund im Sinne des § 626 BGB abzugeben, ist im zweiten Schritt zu prüfen, ob die außerordentliche Kündigung nach einer Interessenabwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles als gerechtfertigt angesehen werden kann. Dies ist nur dann der Fall, wenn die außerordentliche Kündigung die unausweichlich letzte Maßnahme (ultima ratio) für den Kündigungsberechtigten war und mildere Mittel unzumutbar sind (BAG aaO.).
43Bei einem Betriebsratsmitglied ist dabei aber zu beachten, dass bei der Beurteilung, ob dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zugemutet werden kann, nicht zu Lasten des Arbeitnehmers verwertet werden darf, dass der Arbeitnehmer ordentlich nicht kündbar ist. Würde man bei der Unzumutbarkeitsprüfung diesen Umstand mit berücksichtigen, so würde das die Kündigungsmöglichkeit des Arbeitgebers stark erweitern, weil die vorzunehmende Interessenabwägung in vielen Fällen zu dem Ergebnis führen würde, dass die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses auf eine nicht absehbare Zeit dem Arbeitgeber bei Vorliegen einer "an sich" einen wichtigen Kündigungsgrund darstellenden Vertragsverletzung nicht zugemutet werden kann. Damit würde sich aber der durch § 15 KSchG gezeigte Schutzzweck ins Gegenteil verkehren (vgl. insbesondere APS/Böck aaO. Rn. 126). Deshalb muss bei der im Rahmen des § 626 Abs. 1 BGB vorzunehmenden Prüfung der Unzumutbarkeit die fiktive Kündigungsfrist des Arbeitnehmers zu Grunde gelegt werden, d. h. also diejenige Kündigungsfrist, mit der ihm ordentlich gekündigt werden könnte, wenn er nicht besonderem Kündigungsschutz unterläge (vgl. z. B. BAG 18.02.1993 AP KSchG 1969 § 15 Nr. 35).
44- Der Kläger hat eine Vertragsverletzung begangen. Er hat gegen das Direktionsrecht der Beklagten verstoßen und dies trotz zweifacher Abmahnung. Das kann grundsätzlich ein Grund "an sich" für eine fristlose Kündigung sein.
Der Kläger hat durch Angabe der Telefonnummer seiner Abteilung dazu aufgefordert, ihn - auch - während der Arbeitszeit anzurufen, um Informationen über die Arbeitnehmerweiterbildung nach dem Arbeitnehmerweiterbildungsgesetz einzuholen. Da der Kläger zu einer solchen Auskunftserteilung während seiner Arbeitszeit nicht berechtigt war, vielmehr die Beklagte in Ausübung ihres Direktionsrechtes zu Recht darauf bestand, dass der Kläger solche Informationen nicht erteilte, entsprach die Ausübung des Direktionsrechtes dahingehend, dem Kläger zu verbieten, seine Telefonnummer in dem Flugblatt anzugeben bzw. ihn aufzufordern, das entsprechende Flugblatt zu entfernen, billigem Ermessen.
46- Das Direktionsrecht der Beklagten war nicht etwa deshalb eingeschränkt, weil - wie der Kläger meinte - er durch sein Betriebsratsamt zu entsprechender Auskunftserteilung berechtigt war. Dabei kann dahinstehen, ob es überhaupt Aufgabe des Betriebsrates ist, entsprechende Auskünfte zu geben. Denn nach des Klägers eigenem Vortrag hat er das Anliegen, über das Arbeitnehmerweiterbildungsgesetz zu informieren, dem Betriebsrat unterbreitet. Dieser hat es sich gerade nicht zu Eigen gemacht. Die Geschäftsführung des Betriebsrates obliegt dem Betriebsratsvorsitzendem (§ 26 Abs. 3 BetrVG) bzw. - soweit ein solcher eingerichtet ist - einen Betriebsausschuss (§ 27 BetrVG). Der Kläger ist weder Betriebsratsvorsitzender noch hat er vorgetragen, einem Betriebsausschuss anzugehören, dem entsprechende Aufgaben übertragen gewesen wären.
Dass der Kläger auf Grund seiner Gewerkschaftszugehörigkeit und der Nichtzugehörigkeit der übrigen Betriebsratsmitglieder im Betriebsrat in einer Minderheitsposition ist, berechtigt ihn nicht zur eigenmächtigen Übernahme und Durchführung von Geschäften des Betriebsrates.
48- Der Kläger war auch nicht auf Grund seiner Gewerkschaftszugehörigkeit zu der entsprechenden Beratung während der Arbeitszeit berechtigt. Dabei kann dahinstehen, ob es sich insoweit überhaupt um eine Aktion der Gewerkschaft handelte. Das vom Kläger ausgehängte Flugblatt weist nicht auf die Gewerkschaft als Autorin der Aktion hin, wenngleich er es - offenbar mit Billigung der Gewerkschaft - in deren Schaukasten ausgehängt hatte. Selbst wenn es sich um eine gewerkschaftliche Aktion gehandelt hätte, so wäre der Kläger dadurch nicht berechtigt gewesen, entsprechende Aktivitäten während seiner Arbeitszeit zu entfalten.
- Der Verstoß gegen das Direktionsrecht der Beklagten geschah auch schuldhaft. Zwar ist dem Kläger nicht zu widerlegen, dass er - subjektiv - der Auffassung war, er sei auf Grund seines Betriebsratsamtes zu entsprechendem Handeln berechtigt gewesen. Es lässt sich auch nicht - mangels entsprechenden substantiierten Vortrags und Beweisantritts der Beklagten - feststellen, dass dem Kläger von Seiten der Gewerkschaft eine klare Rechtsauskunft dahingehend gegeben worden wäre, dass er insofern eine unrichtige Rechtsauffassung vertrete. Immerhin aber räumt der Kläger ein, dass er von der Gewerkschaft auf Risiken hingewiesen worden sei und dass ihm selbst von dort geraten worden sei, zur Vorsicht wegen der angedrohten Kündigung das Flugblatt zu entfernen. Der Kläger war also gewarnt. Er hätte unter allen Sorgfaltsmaßstäben in dieser Situation das Flugblatt nicht hängen lassen dürfen, sondern hätte es zunächst abnehmen müssen, um dann die sich auch für ihn zumindest als zweifelhaft darstellende Rechtssituation bei einer wirklich rechtskundigen Stelle klären zu lassen.
- Gleichwohl ist die Kammer der Auffassung, dass der Beklagten unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der - fiktiv zu berechnenden (s. o.) - Kündigungsfrist zuzumuten war.
- Zwar verkennt die Kammer nicht, dass der Kläger sein Handeln über einen Zeitraum von mindestens drei Wochen trotz zweier Abmahnungen fortgesetzt hat. Dieses erfüllt den Tatbestand der "Beharrlichkeit", der nach herkömmlicher Auffassung bei einer dauernden Arbeitsverweigerung zu einer außerordentlichen Kündigung berechtigt, wobei es vorliegend indes nur um die Verletzung einer Nebenpflicht handelt. Die Kammer verkennt auch nicht, dass das Verhalten des Klägers etwas Provokatives hatte.
- Gleichwohl erscheint der Kammer die Sanktion der außerordentlichen Kündigung zu hart. Die Beklagte hätte sich - wäre diese nicht ausgeschlossen - mit einer ordentlichen Kündigung begnügen müssen. Dass sie ausgeschlossen ist, kann, wie oben ausgeführt, nicht zum Nachteil des Klägers gereichen und die härtere Sanktion der außerordentlichen Kündigung rechtfertigen. Im Rahmen der Interessenabwägung berücksichtigt die Kammer dabei Folgendes:
- Die Bedrohung der Interessen der Beklagten an einem reibungslosen Betriebsablauf durch das Handeln des Klägers muss als eher geringfügig angesehen werden. Zwar kann es angesichts des Ablaufes an der Maschine, an der der Kläger tätig war, durch einen längeren Anruf dazu kommen, dass beim Steckenbleiben der Maschine und einer Beschäftigung des zweiten Mannes mit dem Abpacken eine gewisse Verzögerung im Wiederbereitmachen der Maschine eintritt.
Es war aber nicht so, dass die Beklagte einer solchen eventuellen Betriebsstörung ohne die ergriffene Maßnahme wehrlos ausgesetzt gewesen wäre. Die einfachste Maßnahme dagegen wäre gewesen, die Abteilung anzuweisen, eingehende Telefonate an den Kläger nicht weiterzugeben bzw. solche Telefonate selektiv nur so weiterzugeben, dass ihn Anrufe von Vorgesetzten oder von seitens des Betriebsrates erreichten.
55Die Beklagte hätte dieses auch z. B. dadurch flankieren können, dass sie neben den Aushang des Klägers einen Aushang gehängt hätte, der den übrigen Mitarbeitern entsprechende Anrufe beim Kläger untersagt hätte.
56- Zu berücksichtigen ist ferner - in Übereinstimmung mit dem Arbeitsgericht - dass es bis zum Ausspruch der Kündigung tatsächlich noch zu keiner Betriebsstörung gekommen war. Der Kläger hat unwidersprochen vorgetragen, dass ihn seit Auslegung der Flugblätter bis zur außerordentlichen Kündigung keine entsprechenden Anrufe erreicht hätten. Da der Kläger die Flugblätter bereits mehrere Wochen durch Auslegen und Aushängen an verschiedenen Stellen im Betrieb bekannt gemacht hatte, muss es als eher unwahrscheinlich angesehen werden, dass ihn überhaupt während der Arbeitszeit entsprechende Anrufe erreicht hätten.
- Nicht unberücksichtigt bleiben kann im Rahmen der Interessenabwägung auch, dass der Kläger zumindest subjektiv - das Gegenteil ist ihm nicht nachzuweisen - davon ausging, im Rahmen seiner Befugnisse als Betriebsrat zu handeln, war dieser Irrtum auch vermeidbar.
- Das Handeln des Klägers stellt sich nicht als ein eigennütziges Handeln dar wie im typischen Fall einer beharrlichen Arbeitsverweigerung, sondern - subjektiv - als ein Handeln im Interesse der übrigen Arbeitnehmer.
- Zu berücksichtigen ist auch, dass es sich bei dem Kläger um einen einfachen Maschinenarbeiter handelt, nicht um einen im arbeitsrechtlichem Denken geschulten Angestellten. Auch das Trotzverhaltens des Klägers lässt eher auf Unbeholfenheit schließen als auf durchdachte und die Interessen des Arbeitgebers ernsthaft gefährdende Strategie.
- Berücksichtigt man schließlich, dass der Kläger bereits seit 1994 beschäftigt ist und gerade als einfacher Maschinenarbeiter und bisheriges Betriebsratsmitglied bei Ausscheiden durch außerordentliche Kündigung nur schlechte Chancen hätte, auf dem Arbeitsmarkt wieder eine Arbeit zu finden, so erscheint die außerordentliche Kündigung angesichts der eher geringfügigen realen Bedrohung der Interessen der Beklagten als zu harte Sanktion.
- Daran ändert es auch nichts, dass die Beklagte vorsorglich zusätzlich mit einer Auslauffrist zum Ende der ordentlichen Kündigungsfrist gekündigt hat. Denn die Gewährung einer Auslauffrist ändert nichts daran, dass die Beklagte nur außerordentlich kündigen konnte, was gemäß § 626 Abs. 1 BGB voraussetzt, dass dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Dienstverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zuzumuten ist.
Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass das Bundesarbeitsgericht diese sog. Auslauffrist nicht im Zusammenhang mit § 15 KSchG entwickelt hat, sondern bei dauerhaftem Ausschluss der ordentlichen Kündigung auf Grund tarifvertraglicher Vorschriften.
62Dahinstehen kann dabei, dass der Betriebsrat auch einer zusätzlichen außerordentlichen Kündigungsfrist mit Auslauffrist nicht zugestimmt hat. Schon der Anhörungsbogen der Beklagten besagt, dass die Zustimmung zu einer "hilfsweise ordentlichen, zum nächst zulässigen Kündigungstermin" auszusprechenden Kündigung erbeten wird. Ganz ausdrücklich auch hat der Betriebsrat nur einer "hilfsweise ordentlichen Kündigung zum nächstzulässigen Termin" zugestimmt. Die Zustimmung zu einer ordentlichen Kündigung beinhaltet aber nicht zugleich die Zustimmung zu einer außerordentlichen.
63- Die Kammer legt Wert darauf, dass der Kläger das vorstehende Urteil nicht dahingehend versteht, dass er diese oder gleichartige Aktionen fortsetzen bzw. wiederholen kann. Ihm ist ganz im Gegenteil dringend anzuraten, gerade als Arbeitnehmervertreter genauestens die gesetzlichen Grenzen zu respektieren und sich vor zweifelhaften Aktionen Rechtsrat auch von kompetenter Stelle zu holen. Er riskiert anderenfalls nicht nur seine Arbeitsstelle und damit die Existenzgrundlage seiner Familie, sondern tut auch den Arbeitnehmern, die ihn in das Betriebsratsamt gewählt haben, mit solchen "Kopf durch die Wand" Aktionen einen schlechten Dienst.
Rechtsmittelbelehrung:
65Gegen diese Entscheidung ist ein Rechtsmittel nicht gegeben. Auf die Möglichkeit der Nichtzulassungsbeschwerde nach § 72 a ArbGG wird hingewiesen.
66(Dr. Backhaus) (Zerlett) (Schreck)
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