Urteil vom Landesarbeitsgericht Köln - 2 (12) Sa 123/01
Tenor
1
T a t b e s t a n d
2Die Parteien streiten um die Frage, ob es sich bei einem dem Grunde nach unstreitigen, aus § 113 BetrVG hergeleiteten Anspruch der Klägerin auf Nachteilsausgleich um eine Insolvenzforderung oder eine Masseforderung handelt. Zusätzlich ist die Höhe dieses Anspruchs, soweit er 29.293,98 DM überschreitet zwischen den Parteien streitig.
3Die Klägerin war seit dem 05.04.1983 Arbeitnehmerin der Gemeinschuldnerin. Ihr durchschnittliches Bruttomonatseinkommen betrug zuletzt 4.882,33 DM.
4Ende 1999 wurde das Insolvenzeröffnungsverfahren über das Vermögen der Gemeinschuldnerin, deren Insolvenzverwalter der jetzige Beklagte ist, eingeleitet. Mit Beschluss des Amtsgerichts Bonn vom 17.11.1999 ( AZ: 99 IN 154/99) wurde der Beklagte zum vorläufigen Insolvenzverwalter bestellt. In dem Beschluss wurde einerseits angeordnet, dass die Gemeinschuldnerin nur noch mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters wirksam über ihr Vermögen verfügen kann (§ 21 Abs. 2 Nr. 2 InsO). Der Beklagte als vorläufiger Insolvenzverwalter wurde ausdrücklich nicht als allgemeiner Vertreter der Gemeinschuldnerin eingesetzt. Allerdings wurde er ermächtigt, auch allein mit rechtlicher Wirkung für die Gemeinschuldnerin zu handeln, wobei er verpflichtet wurde, von dieser Ermächtigung nur in dringend erforderlichen Fällen Gebrauch zu machen.
5Am 18.01.2000 beschlossen der Geschäftsführer der Schuldnerin und der Beklagte als deren vorläufiger Insolvenzverwalter die Betriebsstilllegung.
6Hiervon wurde der Betriebsrat am darauffolgenden Tag unterrichtet. Ein Interessenausgleich mit dem Betriebsrat konnte nicht erzielt werden. Der Betriebsrat unterlag auch in einem arbeitsgerichtlichen Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Verfügung, mit dem der drohende Ausspruch der Kündigungen verhindert werden sollte. Mit Schreiben vom 27.01.2000 wurde der Klägerin wie auch den weiteren Mitarbeitern, deren Kündigung keinem Zustimmungsvorbehalt unterlag, die Kündigung durch die Gemeinschuldnerin mit Zustimmung des Beklagten ausgesprochen. Vorangegangen war eine schriftliche Kündigungsanhörung des Betriebsrats. Am 01.02.2000 wurde das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter über das Vermögen der Gemeinschuldnerin bestellt. Nach der Insolvenzeröffnung einigten sich der Betriebsrat und der Beklagte auf einen Sozialplan. Derzeit ist das Verfahren nicht massearm. Auf die Insolvenzforderungen können voraussichtlich 10 % geleistet werden.
7Der Betrieb ist zwischenzeitlich vollständig stillgelegt worden. Nach der Stilllegung der Verwaltungsabteilung zum 31.05.2000 fand keine betriebliche Tätigkeit mehr statt.
8Die Klägerin hält den dem Grunde nach unstreitigen Anspruch aus § 113 BetrVG für eine Masseforderung im Sinne des § 55 InsO.
9Dies folge daraus, dass das Arbeitsverhältnis erst nach Insolvenzeröffnung ende und unter Entlassung im Sinne des § 113 BetrVG die Einstellung der Arbeit anzusehen sei. Selbst wenn man dieser Argumentation nicht folge, sei jedenfalls wegen der im Bestellungsbeschluss des Amtsgerichts Bonn vom 17.11.1999 enthaltenen Ermächtigung des vorläufigen Insolvenzverwalters zur alleinigen Handlung für die Schuldnerin in dringenden Fällen § 55 Abs. 2 InsO analog anzuwenden, so dass es sich auch aus diesem Grunde bei der Nachteilsausgleichforderung um eine Masseverbindlichkeit handeln müsse.
10Hinsichtlich der Höhe der Nachteilsausgleichsforderung setzt die Klägerin für jedes Beschäftigungsjahr ein Bruttogehalt an, begrenzt durch die Höchstbetragsregelung aus § 10 KSchG.
11Die Klägerin hat beantragt,
12- den Beklagten zu verurteilen, an sie eine Abfindung in Höhe von 73.235,00 DM nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen
- hilfsweise die Nachteilsausgleichsforderung der Klägerin in Höhe von 73.235,00 DM als Insolvenzforderung gemäß § 38 InsO zur Insolvenztabelle festzustellen, abzüglich bereits anerkannter 4.598,00 DM.
Der Beklagte hat beantragt,
15die Klage abzuweisen.
16Hinsichtlich der Nachteilsausgleichsforderung ist der Beklagte der Ansicht, dass es sich um eine Insolvenzforderung handele, da die Betriebsschließung vor Insolvenzeröffnung beschlossen worden sei und die Kündigungen ebenfalls vor Insolvenzeröffnung ausgesprochen worden seien. Für eine Analogie des § 55 Abs. 2 InsO sei kein Raum, da der Gesetzgeber hier ausdrücklich nur den sogenannten "starken" Insolvenzverwalter gemeint habe. Hinsichtlich der Höhe des Nachteilsausgleichsanspruchs hielt er zunächst ein Bruttomonatsgehalt wegen der Unabweisbarkeit der Betriebsstilllegung für angemessen.
17Das Arbeitsgericht Bonn hat durch Urteil vom 04.10.2000 die Nachteilsausgleichsforderung der Klägerin im Rahmen des geltend gemachten Höchstbetrages zur Insolvenztabelle festgestellt und die Klage im Übrigen abgewiesen. Hiergegen hat die Klägerin Berufung eingelegt. Der Beklagte hat zwischenzeitlich eine Nachteilsausgleichsforderung in Höhe von 6 Bruttomonatsvergütungen zur Insolvenztabelle festgestellt und hinsichtlich der darüber hinaus gehenden Feststellung Berufung eingelegt.
18Die Klägerin beantragt unter Aufhebung des Urteils des Arbeitsgerichts Bonn vom 04.10.2000 - 2 Ca 1345/00 -,
19den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin eine Ab-
20findung in Höhe von 73235,00 DM nebst 4% Zinsen
21seit Rechtshängigkeit bis zum 30. April 2000 und Zinsen
22in Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz seit 1. Mai 2000
23zu zahlen.
24Der Beklagte beantragt,
25die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
26Er beantragt,
27unter teilweiser Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Bonn vom 04.10.2000 - 2 Ca 1345/00 - die Klage insoweit abzuweisen, als ein weiterer Nachteilsausgleich von mehr als 24.695,98 DM zur Insolvenztabelle festgestellt wird.
28Die Klägerin beantragt insoweit,
29die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
30Beide Parteien wiederholen ihren Vortrag und vertiefen ihre Rechtsansichten.
31E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
32Die fristgerechten und im Übrigen zulässigen Berufungen beider Parteien sind nicht begründet.
33Der Klägerin steht der dem Grunde nach unstreitige Nachteilsausgleichsanspruch aus § 113 BetrVG nicht als Masseforderung, sondern lediglich als einfache Insolvenzforderung nach § 38 InsO zu.
34Maßgeblich für die Abgrenzung, ob ein Nachteilsausgleichsanspruch aus § 113 Abs. 3 BetrVG Masseforderung oder Insolvenzforderung ist, ist die Frage, ob die Klägerin zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits einen begründeten Vermögensanspruch an die Gemeinschuldnerin hatte. Für das Vorliegen eines solchen Anspruchs ist es ausreichend, wenn der Rechtsgrund für die Entstehung bereits vor Insolvenzeröffnung gelegt wurde, ob der Anspruch in diesem Zeitpunkt bereits fällig ist, ist ohne Bedeutung (vgl. BAG vom 03.04.1990 - 1 AZR 150/89 - AP-Nr. 20 zu § 113 BetrVG 1972).
35Die erkennende Kammer folgt dem Bundesarbeitsgericht auch dahingehend, dass die Grundlage für den Nachteilsausgleichsanspruch bereits dann gelegt ist, wenn mit der Betriebsänderung ohne zuvor versuchten Interessenausgleich begonnen wurde und damit das betriebsverfassungswidrige Vorgehen des Arbeitgebers feststeht. Denn § 113 BetrVG ist die Sanktion dafür, dass der Arbeitgeber den Verhandlungsanspruch des Betriebsrates vereitelt. Die Entlassung einzelner Arbeitnehmer im Sinne des Ausspruchs der Kündigung kann dabei auch erst nach Insolvenzeröffnung vorgenommen werden. Denn ausgehend von dem Zweck des § 113 BetrVG ist der Verhandlungsanspruch des Betriebsrates dann zunichte gemacht, wenn bereits so viele Kündigungen zugegangen sind, dass der Arbeitgeber die geplante Betriebsstilllegung nicht mehr einseitig rückgängig machen kann. Aus der Sicht des Betriebsrates werden Verhandlungen mit dem Arbeitgeber dann sinnlos, wenn dieser bereits in der Weise Fakten geschaffen hat, dass er die Planungshoheit über die Stilllegung oder Fortführung des Betriebes verloren hat. Das ist der Fall, wenn der Arbeitgeber als Verhandlungspartner ein mögliches Ergebnis, welches auf Fortsetzung des Betriebes lauten würde, nicht mehr alleine umsetzen kann, weil er hierzu der Zustimmung aller bereits gekündigten Arbeitnehmer bedürfte.
36Aus den vorgenannten Urteil des Bundesarbeitsgerichts sowie aus dem Urteil vom 23.08.1988 - 1 AZR 276/87 - NZA 1989 Seite 31 ergibt sich zudem auch, dass das Bundesarbeitsgericht den Tatbestand der Entlassung im Sinne des § 113 BetrVG nicht mit dem letzten Verlassen des Betriebsgeländes gleichsetzt, sondern unter diesen Begriff sowohl die arbeitgeberseitige als auch die Arbeitnehmerkündigung und den Aufhebungsvertrag subsumiert.
37Danach ergibt sich, dass die geplante Betriebsstilllegung bereits mit dem 27.01.2000, dem Tag, an dem durch den Geschäftsführer der Gemeinschuldnerin alle nicht zustimmungsbedürftigen Kündigungen ausgesprochen wurden, begonnen wurde. Nach diesem Datum war der Verhandlungsanspruch des Betriebsrates vereitelt, da ein anderes Ergebnis als die Betriebsstilllegung vom Arbeitgeber nicht mehr einseitig betrieblich umgesetzt werden konnte. Demgegenüber ist die Entlassung der Klägerin im Sinne des Ausspruchs der letztendlich ihr Arbeitsverhältnis beendenden Kündigung vom 14.02.2000 für die Begründung des Anspruchs als Insolvenzforderung nicht mehr maßgeblich. Es handelt sich insoweit lediglich um den noch erforderlichen Schadenseintritt, der zu der Vereitelung des Verhandlungsanspruchs des Betriebsrates hinzutreten muss. Dieser Schadenseintritt kann, wie das Bundesarbeitsgericht in der Entscheidung vom 03.04.1990 ausgeführt hat, auch erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens liegen.
38Die Nachteilsausgleichsforderung aus § 113 BetrVG ist auch nicht deshalb als Masseforderung zu behandeln, weil es sich um eine Verbindlichkeit im Sinne des § 55 Abs. 2 InsO handeln würde. Aus dem Beschluss des Amtsgerichts Bonn (99 IN 155/99) vom 17.11.1999 ergibt sich, dass der Beklagte gerade nicht als sogenannter "starker" vorläufiger Insolvenzverwalter im Sinne des § 21 Abs. 2 Nr. 2 erste Alternative eingesetzt wurde. Zwar ist der Wortlaut des § 55 Abs. 2 InsO (Verfügungsbefugnis übergegangen) und derjenige des § 21 Abs. 2 Nr. 2 erste Alternative (Allgemeines Verfügungsverbot auferlegt) nicht identisch. Allerdings ergibt sich aus § 22 Abs.1 InsO, dass die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis nur dann auf den vorläufigen Insolvenzverwalter übergeht, wenn ein Verfügungsverbot für den Schuldner angeordnet wurde. Daneben kann das Gericht Einzelanordnungen nach § 22 Abs. 2 InsO treffen, die nicht zum Übergang der Verfügungsbefugnis führen. Damit ergibt sich, dass bei unmittelbarer Anwendung des § 55 Abs.2 S.1 InsO vorliegend keine Masseverbindlichkeiten entstanden sind, da die Verfügungsbefugnis nicht durch Erlass eines allgemeinen Verfügungsverbots übergegangen war.
39Vorliegend kann allerdings dahingestellt bleiben, ob auf eine im Einzelfall erteilte Ermächtigung an den vorläufigen Insolvenzverwalter, in dringenden Fällen allein zu handeln, während grundsätzlich lediglich Zustimmungsvorbehalt angeordnet ist, § 55 Abs.2 InsO zumindest analog angewandt werden kann. Insoweit wird eine analoge Anwendung zumindest für den Fall in Erwägung gezogen, dass ein Insolvenzverwalter mit partieller Ermächtigung an Stelle der Gemeinschuldnerin tätig geworden ist. ( Vergl.: Spliedt, ZIP 2001 S.1941) Denn selbst bei einer analogen Anwendung des § 55 Abs.2 InsO fehlt es hier jedenfalls an der Voraussetzung, dass der streitige Anspruch eine Verbindlichkeit ist, die vom vorläufigen Insolvenzverwalter aufgrund der Ausübung der ihm eingeräumten Ermächtigung, allein für die Gesamtschuldnerin zu handeln, begründet worden ist. Denn die vor Insolvenzeröffnung ausgesprochenen, den Nachteilsausgleich auslösenden Kündigungen sind durch den Geschäftsführer der Gemeinschuldnerin lediglich mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters ausgesprochen worden. Somit beruhen die Nachteilsausgleichsansprüche jedenfalls nicht auf einem allein vom Insolvenzverwalter bestimmten Sachverhalt, sondern stellen sich als solche im Rahmen des regulären Zustimmungsvorbehaltes dar. Bei dem Beginn der Durchführung der Betriebsstilllegung durch Ausspruch der Kündigungen hat der Beklagte in seiner Eigenschaft als vorläufiger Insolvenzverwalter gerade nicht von der Möglichkeit des Alleinhandelns im Rahmen des Beschlusses des Amtsgerichts Bonn vom 17.11.1999 Gebrauch gemacht. Es bleibt damit bei dem Regelfall, dass die Masse gerade nicht dadurch geschmälert werden soll, dass vor Insolvenzeröffnung bereits Masseverbindlichkeiten begründet werden. Gerade die Tatsache, dass der Gesetzgeber einerseits den Zustimmungsvorbehalt des vorläufigen Insolvenzverwalters einführt, andererseits alle die aus diesen Geschäften regelmäßig herrührenden Verpflichtungen gleichwohl einfache Insolvenzforderungen werden, belegt, dass es sich bei § 55 Abs. 2 InsO um eine eng auszulegende Ausnahmevorschrift handelt, die allenfalls im Rahmen einer größtmöglichen Masseerhaltung ausgelegt werden kann. ( Spliedt, a.a.O.)
40Auch die Berufung des Beklagten ist unbegründet. Das Arbeitsgericht hat zutreffend bei der Berechnung der Höhe des Nachteilsausgleichs berücksichtigt, dass dieser zum einen Ersatz für den Verlust des Arbeitsplatzes als solchem bezweckt, zum anderen die Komponente beinhaltet, dass eine fühlbare Sanktion für die Vereitelung des Verhandlungsanspruchs des Betriebsrats erforderlich ist. Wenn das Arbeitsgericht in diesem Fall unter Beachtung der Höchstgrenze des § 10 KSchG ein ganzes Gehalt pro Beschäftigungsjahr festlegt, so wird diese Überlegung auch von der erkennenden Kammer getragen. Berücksichtigung findet dabei, dass regelmäßig im Kammerbezirk bereits der Verlust des Bestandes des Arbeitsverhältnis mit einem halben Gehalt pro Beschäftigungsjahr bewertet wird. Die Aufstockung auf ein ganzes Gehalt wegen der Sanktionsfunktion erscheint damit im Verhältnis angemessen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass der vorläufige Insolvenzverwalter und jetzige Beklagte in der sicheren Erwartung, dass es sich ohnehin später nur um eine quotenmäßig zu befriedigende Insolvenzforderung handeln werde, den Verhandlungsanspruch des Betriebsrates übergangen hat. Er hat dabei bewusst in Kauf genommen, dass der Wert des zu realisierenden Nachteilsausgleichsanspruchs letztlich immer noch deutlich unter den möglichen Ansprüchen liegt, die sich bei einer Verzögerung des Kündigungsausspruchs zugunsten der Arbeitnehmer ergeben hätten.
41Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 1 ZPO und berücksichtigt die Forderung des Beklagten nach ihrem tatsächlich zu realisierenden Wert.
42Rechtsmittelbelehrung
43Gegen dieses Urteil kann von beiden Parteien Revision eingelegt werden. Die Revision muss innerhalb einer Notfrist (eine Notfrist ist unabänderlich und kann nicht verlängert werden) von einem Monat nach der Zustellung dieses Urteils schriftlich beim Bundesarbeitsgericht, Hugo-Preuß-Platz 1, 99084 Erfurt, eingelegt werden. Die Revision ist gleichzeitig oder innerhalb eines Monats nach ihrer Einlegung schriftlich zu begründen. Die Revisionsschrift und die Revisionsbegründung müssen von einem bei einem deutschen Gericht zugelassenen Rechtsanwalt unterzeichnet sein.
44(Olesch) (Pohen) (Wittig)
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