Beschluss vom Landgericht Aachen - 3 T 22/96
Tenor
Unter Abänderung des angefochtenen Beschlusses wird auf die Erinnerung des Beteiligten zu 1) vom 22.05.1995 die Festsetzung in den Beschlüssen der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle des Amtsgerichts Aachen vom 15.05.1995 – 4 UR II 47/95 und 4 UR II 51/95 – dahingehend geändert, dass die dem Beteiligten zu 1) für die Tätigkeiten, die Gegenstand der Verfahren 4 UR II 47/95 und 4 UR II 51/95 sind, aus der Staatskasse zu zahlenden Gebühren und Auslagen anderweitig jeweils auf 261,85 DM, mithin insgesamt auf 523,70 DM festgesetzt werden.
1
G r ü n d e
2Die Beschwerde des Beteiligten zu 1) gegen den Beschluss des Richters des Amtsgerichts vom 25.09.1995 ist gemäß §§ 133 Satz 1, 128 Abs. 4 Satz 1 BRAGO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Zwar ist die Frage, ob Beratungshilfe im Einzelfall nur in Form von Beratung oder auch in Form von Vertretung gewährt werden kann, systematisch dem Bewilligungsverfahren nach § 4 Abs. 1 Beratungshilfegesetz zuzuordnen. Wird jedoch Beratungshilfe vor der Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe beantragt und infolgedessen vom Rechtspfleger ein Berechtigungsschein erteilt, so ist der Ratsuchende befugt, einen Rechtsanwalt seiner Wahl aufzusuchen und dessen Rechtsrat und Vertretung in Anspruch zu nehmen. Die Erteilung eines Berechtigungsscheins nur zur Einholung eines Rechtsrates kennt das Gesetz nicht. Im Übrigen wird vor der Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe häufig nicht beurteilt werden können, ob die bloße Beratung durch einen Rechtsanwalt ausreichend oder auch eine anwaltliche Vertretung erforderlich sein wird. Mit Rücksicht darauf kann die Erforderlichkeit einer anwaltlichen Vertretung erst nachträglich im Rahmen der Gebührenfestsetzung überprüft werden (vgl. AG Eschweiler, Rechtspfleger 1992, 68; Bratfisch, Anmerkung zu AG Eschweiler, Rechtspfleger, 1992, 68, 70; Kalthoener/Büttner, Prozesskostenhilfe und Beratungshilfe, Rn. 965). Dies muss auch dann gelten, wenn – wie vorliegend – die Beratungshilfe erst nach Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe beantragt wird. Anderenfalls würde der Ratsuchende, der unmittelbar einen Rechtsanwalt aufgesucht und Beratungshilfe erst nachträglich beantragt hat, benachteiligt. Denn gegen die Versagung der Gewährung von Beratungshilfe ist nach § 6 Abs. 2 Beratungshilfegesetz nur die Erinnerung gegeben, über die der Richter des Amtsgerichts nach herrschender Meinung abschließend zu entscheiden hat, während gegen einen auf eine Erinnerung des Rechtsanwalts ergehenden Beschluss des Amtsgerichts nach § 128 Abs. 3 Satz 1 BRAGO bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 128 Abs. 4 Satz 1 BRAGO die Beschwerde stattfindet (so auch AG Eschweiler, a.a.O.).
3Die zulässige Beschwerde hat auch in der Sache selbst Erfolg. Sie führt auf die durch den angefochtenen Beschluss zurückgewiesene Erinnerung des Beteiligten zu 1) vom 22.05.1995 zur Abänderung der Festsetzung in den Beschlüssen der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle des Amtsgerichts vom 15.05.1995 dahingehend, dass die dem Beteiligten zu 1) für die Beratungstätigkeiten, die Gegenstand der beiden im Tenor genannten Verfahren sind, aus der Staatskasse zu zahlenden Gebühren und Auslagen auf jeweils 261,85 DM, mithin insgesamt auf 523,70 DM, festgesetzt werden.
4Dem Beteiligten zu 1) steht für die Einlegung des Widerspruchs gegen die Verweigerung/Kürzung der Sozialhilfe für die Monate Januar und Februar 1994 mit Schriftsatz vom 29.03.1994 bzw. 22.04.1994 jeweils eine Gebühr nach § 132 Abs. 2 BRAGO in Höhe von 90,00 DM zu, weil die anwaltliche Vertretung erforderlich war.
5Gemäß § 2 Abs. 1 Beratungshilfegesetz besteht die Beratungshilfe in Beratung und, soweit erforderlich, in Vertretung. Die Frage, ob neben einer Beratung auch eine anwaltliche Vertretung erforderlich ist, ist nicht allein in das Ermessen des Rechtsanwaltes gestellt, sondern vom Gericht selbständig nachprüfbar (vgl. AG Eschweiler, a.a.O.; Bratfisch, a.a.O.; Kalthoener/Büttner, a.a.O.). In welchen Fällen und in welchem Umfang Vertretung i. S. v. § 2 Abs. 1 Beratungshilfegesetz erforderlich ist, kann nicht allgemein festgelegt werden, vielmehr ist auf den Einzelfall abzustellen. Hierbei sind nicht die Fähigkeiten eines „Durchschnittsbürgers“ oder „Normalverdiener“ maßgebend (vgl. Bratfisch, a.a.O., Seite 69; Kalthoener/Büttner, a.a.O., Rn. 964; Lindemann/Trenk-Hinterberger, Beratungshilfegesetz, § 2 Rn. 4; Schoreit/Dehn, Beratungshilfe, Prozesskostenhilfe, 5. Auflage, § 2 Rn. 12). Zum einen hängt die Frage der Erforderlichkeit anwaltlicher Vertretung auch von der individuellen Selbstvertretungsfähigkeit ab, die im Einzelfall geringer oder stärker ausgeprägt sein kann (vgl. Kalthoener/Büttner, a.a.O., Rn. 964), zum anderen erscheint der Verglich mit sogenannten „Normalverdienern“ unter Berücksichtigung des nach dem Beratungshilfegesetz berechtigten Personenkreises nicht angebracht (vgl. Lindemann/Trenk-Hinterberger, a.a.O.; Schoreit/Dehn, a.a.O). Zum Teil wird deshalb die Auffassung vertreten, dass die Erforderlichkeit der Vertretung aus der Sicht einer typischerweise nicht rechtskundigen Person, an deren Kenntnisse und Urteilsfähigkeit keine hohen Anforderungen gestellt werden dürften, zu beurteilen sei (vgl. Lindemann/Trenk-Hinterbeger, a.a.O.), während andere die Sicht des Rechtssuchenden unter Berücksichtigung seiner Fähigkeiten für maßgeblich halten (vgl. Bratfisch, a.a.O.; Kalthoener/Büttner, a.a.O.). Vorliegend kann offenbleiben, ob die Erforderlichkeit der anwaltlichen Vertretung rein objektiv aus der Sicht einer typischerweise nicht rechtskundigen Person zu beurteilen ist oder auch die individuellen Fähigkeiten des Ratsuchenden zu berücksichtigen sind. Denn im hier zu entscheidenden Fall war die Inanspruchnahme anwaltlicher Vertretung sowohl aus der objektiven Sicht einer nicht rechtskundigen Person als auch unter Berücksichtigung der individuellen Fähigkeiten der Betroffenen geboten. Für die Betroffenen, die ihren Lebensunterhalt maßgeblich durch Sozialhilfe bestreiten, war die Frage der Gewährung bzw. Kürzung der Sozialhilfe von existenzieller Bedeutung. Darüber hinaus muss davon ausgegangen werden, dass für die bedürftigen Betroffenen auch eine zügige Klärung der Angelegenheit wesentlich war. Bereits aus diesen Gründen erscheint es nicht angebracht, die Betroffenen darauf zu verweisen, dass sie den Widerspruch auch selbständig ohne anwaltliche Hilfe hätten einlegen können. Denn es darf nicht verkannt werden, dass viele Bürger weder sprachlich gewandt noch im Abfassen von Schriftstücken geübt sind, so dass ein selbständiges Tätigwerden im Hinblick darauf, dass möglicherweise unklare oder unzureichende Erklärungen abgegeben werden, zumindest die Gefahr einer zeitlichen Verzögerung in sich barg. Etwas anderes ergibt sich vorliegend auch nicht aus dem Umstand, dass der Beteiligte zu 1) bereits zuvor in sozialhilferechtlichen Angelegenheiten für die Betroffenen tätig geworden war und auch Widerspruchsschreiben schon aufgesetzt hatte. Denn es kann nicht davon ausgegangen werden, dass den vorliegenden Verfahren ein identischer Sachverhalt zugrunde lag und die Betroffenen die früheren Widerspruchsschreiben des Beteiligten zu 1) lediglich hätten abschreiben müssen.
6Wie der Beteiligte zu 1) im Schriftsatz vom 09.10.1995 ausgeführt hat, erfolgte die Kürzung der Sozialhilfe nicht immer in gleicher Höhe und teilweise mit unterschiedlicher Begründung. Zum einen ging es um die Frage, ob der betroffene Ehemann verpflichtet war, durch eine Erwerbstätigkeit zum Lebensunterhalt beizutragen. Zum anderen war von Bedeutung, ob, ab welcher Grenze und in welcher Höhe die Einkünfte aus dem Betrieb der Gastwirtschaft anzurechnen waren. Ferner ist im vorliegenden Fall maßgeblich zu berücksichtigen, dass den Betroffenen als Anspruchsgegner eine Behörde gegenüberstand, die aus der Sicht des nicht rechtskundigen Bürgers über besondere Sachkunde verfügt, da ihre Sachbearbeiter mit der fraglichen Materie ständig befasst sind und sie zu dem in Zweifelsfällen eine Auskunft der bei ihr beschäftigten Juristen einholen kann. In Anbetracht dessen kann angenommen werden, dass ein bemittelter Ratsuchender in ähnlicher Lage bereits aus Gründen der Waffengleichheit anwaltliche Hilfe in Anspruch nehmen würde. Anhaltspunkte dafür, dass die Betroffenen in rechtlichen Fragen besonders bewandert sind, sind nicht vorhanden; vielmehr sind diese nach Angaben des Beteiligten zu 1) mit dem hiesigen Rechtssystem nicht vertraut, zumal sie die meiste Zeit ihres Lebens im Ausland verbracht haben.
7Die Inanspruchnahme anwaltlicher Vertretung war vorliegend auch nicht mutwillig i. S. v. § 1 Abs. 1 Nr. 3 Beratungshilfegesetz. Mutwilligkeit ist dann gegeben, wenn ein sachlich gerechtfertigter Grund für den Wunsch nach Aufklärung oder Vertretung in einer bestimmten Rechtsangelegenheit nicht erkennbar ist. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn eine bemittelte Partei bei verständiger Abwägung aller Umstände die Hilfe eines Rechtsanwaltes nicht in Anspruch nehmen würde (vgl. Bischof NJW 1981, 894; Bratfisch, a.a.O.; Greißinger, Anwaltsblatt 1986, 417, 419; Schoreit/Dehn, a. a. O., § 1 Rn. 99), was – wie bereits dargelegt – vorliegend nicht der Fall ist.
8Die Tätigkeiten, die Gegenstand der beiden im Tenor genannten Verfahren sind, betreffen auch nicht dieselbe Angelegenheit wie die Tätigkeiten, die der Beteiligte zu 1) in den Verfahren 4 UR II 48/95, 4 UR II 164/95 und 4 UR II 166/95 AG Aachen entfaltet hat und für die bereits jeweils eine Gebühr gemäß § 132 Abs. 3 BRAGO festgesetzt worden ist. Unter einer „Angelegenheit“ im gebührenrechtlichen Sinne ist im Rahmen der Beratungshilfe das gesamte Geschäft (§ 675 BGB) zu verstehen, das der Anwalt auftragsgemäß für seinen Auftraggeber besorgen soll; sein Inhalt bestimmt den Rahmen, innerhalb dessen sich die anwaltliche Tätigkeit abspielt. Nach dieser Maßgabe ist das Vorliegen einer Angelegenheit immer dann zu bejahen, wenn ein einheitlicher, gleichzeitiger Auftrag, Gleichartigkeit des Verfahrens sowie ein innerer Zusammenhang zwischen den Beratungsgegenständen gegeben sind, wobei diese Voraussetzungen kumulativ vorliegen müssen (vgl. den Kammerbeschluss vom 01.02.1994 - 3 T 436 – 438/93 -). Vorliegend kann jedenfalls nicht davon ausgegangen werden, dass den Widerspruchsschreiben des Beteiligten zu 1) vom 06.08.1993, 01.10.1993, 02.11.1993, 29.03.1994 und 22.04.1994 ein einheitlicher, gleichzeitiger Auftrag zugrunde lag. Treten nämlich die zu einem Gesamtkomplex gehörenden einzelnen Gegenstände objektiv zeitlich erst nacheinander zur Beratung in Erscheinung, so ist der Begriff derselben Angelegenheit schon deshalb zu verneinen, weil es an dem einheitlichen Auftrag fehlt (vgl. Mümmler, JurBüro 1986, 1522). So liegt der Fall hier. Die Widerspruchsschreiben vom 29.03.1994 und 22.04.1994 betrafen die Verweigerung/Kürzung der Sozialhilfe für die Monate Januar und Februar 1994. Der Auftrag, gegen die Verweigerung/Kürzung der Sozialhilfe für die Monate Januar und Februar 1994 Widerspruch einzulegen, konnte dem Beteiligten zu 1) naturgemäß erst nach der Versagung von Sozialhilfeleistungen für die entsprechenden Monate erteilt werden, also nicht etwa gleichzeitig und einheitlich mit dem der Fertigung der Widerspruchsschreiben vom 06.08.1993, 01.10.1993 und 02.11.1993 wegen der Verweigerung/Kürzung von Sozialhilfe für die Monate Juni, Juli, Oktober und November 1993 zugrunde liegenden Aufträge.
9Nach alledem sind zugunsten des Beteiligten zu 1) in den Verfahren 4 UR II 47/95 und 4 UR II 51/95 AG Aachen jeweils folgende Gebühren festzusetzen:
10Gebühr gemäß § 132 Abs. 2 BRAGO 90,00 DM,
1112/10 Erhöhungsgebühr gemäß § 6 BRAGO 108,00 DM,
12Entgelte für Post- und Telekommunikations-
13dienstleistungen gemäß §§ 26, 126, 133 BRAGO 29,70 DM,
1415 % Mehrwertsteuer gemäß § 25 Abs. 2 BRAGO 34,15 DM
15261,85 DM.
16Das Verfahren über die Beschwerde ist gebührenfrei; Kosten werden nicht erstattet (§§ 133 Satz 1, 128 Abs. 5 BRAGO).
17Dr. W Q B
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.
Referenzen
This content does not contain any references.