Urteil vom Landgericht Aachen - 6 S 168/09
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Amtsgerichts B vom 01. Oktober 2009 - 117 C 133/09 - unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen hinsichtlich der Kostenentscheidung teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 1.020,33 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 05. November 2008 und vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 155,30 € zu zahlen.
Auf die Widerklage werden die Widerbeklagten als Gesamtschuldner verurteilt, an den Widerkläger 823,96 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 12. Dezember 2008 und zur Freistellung des Widerklägers vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 120,67 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 10. April 2009 an seine vorgenannten Prozessbevollmächtigten zu zahlen.
Im Übrigen werden Klage und Widerklage abgewiesen.
Die Gerichtskosten tragen die Klägerin zu 28%, die Widerbeklagten als Gesamtschuldner zu 22%, die Beklagten als Gesamtschuldner zu 28% und der Widerkläger zu 22%. Die außergerichtlichen Kosten werden gegeneinander aufgehoben.
Die Gerichtskosten sowie die außergerichtlichen Kosten der Beklagten und des Widerklägers tragen die Klägerin zu 55% und die Widerbeklagten zu 45%. Im Übrigen tragen die Parteien ihre außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens selbst.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Parteien können die jeweils gegen sie gerichtete Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils gegen sie vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die jeweils andere Partei vor ihrer Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils von ihr zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
1
G r ü n d e
2I.
3Die Parteien machen wechselseitig Ansprüche aus einem Verkehrsunfall vom 05. November 2008 auf der Abfahrt der BAB # in Richtung M an der L- Straße geltend. Der Beklagte zu 1) befuhr mit dem Fahrzeug, Opel Astra, des Widerklägers, das bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversichert ist, die BAB # und wechselte an der Ausfahrt M auf den Verzögerungsstreifen, um dort abzufahren. Der Widerbeklagte zu 1) befand sich mit dem Fahrzeug der Klägerin, einem VW-Bus, der bei der Widerbeklagten zu 2) haftpflichtversichert ist, zunächst hinter dem Beklagten zu 1), überholte diesen jedoch im weiteren Verlauf, wobei der konkrete zeitliche Ablauf zwischen den Parteien streitig ist. In der langgezogenen Ausfahrt bremste der Widerbeklagte zu 1) sein Fahrzeug dann plötzlich bis zum Stillstand ab, woraufhin der Beklagte zu 1) nicht mehr rechtzeitig zu reagieren vermochte und auf das Fahrzeug der Klägerin auffuhr. Hierdurch wurde das Fahrzeug der Klägerin hinten rechts, das des Widerklägers vorne links beschädigt.
4Der Klägerin entstand aufgrund des Unfalls folgender Schaden:
5
Fahrzeugschaden netto: | 1.577,02 € |
Kosten SV-GA: | 438,63 € |
Kostenpauschale: | 25,00 € |
Gesamt: | 2.040,65 € |
6
Am Fahrzeug des Widerklägers entstand folgender Schaden:
7
Fahrzeugschaden netto: | 1.281,86 € |
Kosten SV-GA: | 340,05 € |
Kostenpauschale: | 26,00 € |
Gesamt: | 1.647,91 € |
8
Die Klägerin und die Widerbeklagten behaupten, der Widerbeklagte zu 1) habe den Beklagten zu 1) bereits 300 Meter vor der Ausfahrt überholt. Der spätere Unfall habe hiermit in keinem zeitlichen und örtlichen Zusammenhang gestanden. Vielmehr habe der Widerbeklagte zu 1) aufgrund einer Vollbremsung des vor ihm fahrenden Fahrzeugs auch abrupt abbremsen müssen. Der Beklagte zu 1) sei dabei zu dicht aufgefahren.
9Mit ihrer Klage hat die Klägerin erstinstanzlich beantragt, die Beklagten zur Zahlung von 2.040,65 € nebst Zinsen sowie vorgerichtlicher Anwaltskosten in Höhe von 272,86 € zu verurteilen. Mit seiner Widerklage hat der Widerkläger beantragt, die Widerbeklagten zur Zahlung von 1.647,91 € nebst Zinsen sowie von 229,55 € an vorgerichtlichen Anwaltskosten nebst Zinsen zu verurteilen.
10Die Beklagten und der Widerkläger behaupten, der Widerbeklagte zu 1) sei bereits auf der BAB # durch dichtes Auffahren aufgefallen. In der Ausfahrt sei er dann plötzlich auf die Linksabbiegerspur ausgeschert, um dann kurz vor der sich am Ende zwischen der Links- und der Rechtsabbiegerspur befindlichen Verkehrsinsel unvermittelt wieder auf die rechte Spur vor den Beklagten zu 1) zu wechseln. Der Widerbeklagte zu 1) habe sein Fahrzeug dann unmittelbar zum Stillstand abgebremst, so dass der Beklagte zu 1) ein Auffahren nicht habe vermeiden können.
11Das Amtsgericht hat nach Vernehmung der den Unfall aufnehmenden Polizeibeamten als Zeugen und nach persönlicher Anhörung der Unfallbeteiligten zum Unfallhergang Klage und Widerklage jeweils hälftig abgewiesen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme liege ein non-liquet vor. Gegen die Beklagten spreche auch nicht der Beweis des ersten Anscheins, da der Beklagte zu 1) nicht schon eine geraume Zeit hinter dem Widerbeklagten zu 1) hergefahren sei.
12Die Klägerin und die Widerbeklagten wenden mit ihrer Berufung ein, das Amtsgericht habe die erhobenen Beweise unzutreffend gewürdigt. Zudem habe es rechtsfehlerhaft einen Anscheinsbeweis verneint.
13Sie beantragen nunmehr,
14die Beklagten unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie weitere 1.020,32 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 05. November 2008 sowie weiterhin 117,56 € vorgerichtliche anwaltliche Kosten zu zahlen und die Widerklage abzuweisen.
15Die Beklagten und der Widerkläger beantragen,
16die Berufung zurückzuweisen.
17Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf das Urteil des Amtsgerichts B vom 01. Oktober 2009 sowie auf die von den Parteien zur Gerichtsakte gereichten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.
18II.
19Die zulässige Berufung hat lediglich hinsichtlich des Kostenausspruchs teilweise Erfolg.
201.
21Zu Recht hat das Amtsgericht der Klage sowie der Widerklage jeweils zur Hälfte stattgegeben.
22Den Parteien stehen nämlich lediglich in dieser Höhe wechselseitig Ansprüche aus §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1, 17 Abs. 2, 1 StVG, § 823 Abs. 1 BGB, § 115 VVG zu. Die Klägerin vermochte nicht nachzuweisen, dass dem Beklagten zu 1) eine höhere Unfallverursachung anzulasten ist. Vielmehr handelt es sich um einen ungeklärten Unfallhergang, bei dem keine Partei für sich die Unabwendbarkeit und keine Partei eine höhere Unfallverursachung der jeweils anderen Partei nachweisen konnte. Gegen den Beklagten zu 1) spricht insbesondere auch nicht der Beweis des ersten Anscheins. Es ist allgemein anerkannt, dass derjenige, der mit seinem Kfz auf ein vorausfahrendes oder vor ihm stehendes Kfz auffährt, den Anscheinsbeweis gegen sich hat, dass er entweder nicht den nötigen Sicherheitsabstand eingehalten hat oder mit unangepasster Geschwindigkeit gefahren ist oder falsch reagiert hat. Ein typischer Auffahrunfall wird regelmäßig dadurch verursacht, dass ein nachfolgendes Fahrzeug auf die gesamte Heckpartie eines im gleichen Fahrstreifen vorausfahrenden oder haltenden Fahrzeuges auffährt, wobei Entsprechendes auch bei bloßer Teilüberdeckung der Stoßflächen der im gleichgerichteten Verkehr befindlichen Fahrzeuge gilt, weil sich hintereinanderfahrende Fahrzeuge auf der überschießenden Breite eines Fahrstreifens unterschiedlich einrichten (vgl. KGR Berlin 2001, 93). Grundvoraussetzung für den Beweis eines Verschuldens nach Anscheinsregeln ist die Darlegung und der Beweis eines typischen, nach der Lebenserfahrung den Rückschluss auf ein Verschulden zulassenden Geschehensablaufs durch denjenigen, der sich auf den Anscheinsbeweis beruft. Die für die Annahme eines Auffahrverschuldens nach Anscheinsgrundsätzen erforderliche Typizität setzt eine Kollision im gleichgerichteten Verkehr voraus. Der Anscheinsbeweis greift indes mangels typischen Unfallhergangs nicht, wenn der gleichgerichtete Verkehr gerade erst hergestellt worden ist, denn für die Bejahung einer typischen Auffahrsituation ist es unverzichtbar, dass der Auffahrende auch die ausreichende Möglichkeit hatte, zum Vordermann einen hinreichenden Sicherheitsabstand aufzubauen und einzuhalten. Die Anwendung des Anscheinsbeweises bei Verkehrsunfällen setzt Geschehensabläufe voraus, bei denen sich nach der allgemeinen Lebenserfahrung zunächst der Schluss aufdrängt, dass ein Verkehrsteilnehmer seine Pflicht zur Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verletzt hat. Es muss sich um Tatbestände handeln, für die nach der Lebenserfahrung eine schuldhafte Verursachung typisch ist. Allein das Kerngeschehen eines "Heckanstoßes" als solches reicht dann als Grundlage eines Anscheinsbeweises nicht aus, wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt sind, die als Besonderheiten gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen (vgl. OLG Jena NZV 2006, 147; OLG Saarbrücken MDR 2006, 329; OLG Schleswig NZV 1993, 152; OLG Hamm NZV 1992, 320; OLG Köln VersR 1978, 143; KG Berlin DAR 2006, 322; OLG Düsseldorf SP 2003, 335). Denn es muss das gesamte feststehende Unfallgeschehen nach der Lebenserfahrung typisch dafür sein, dass derjenige Verkehrsteilnehmer, der aufgefahren ist, schuldhaft gehandelt hat. Ob der Sachverhalt in diesem Sinne im Einzelfall wirklich typisch ist, kann also stets nur aufgrund einer umfassenden Betrachtung aller tatsächlichen Elemente des Gesamtgeschehens beurteilt werden, die sich aus dem unstreitigen Parteivortrag und den getroffenen Feststellungen ergeben (BGH VersR 1986, 343). Scheitert die Anwendung des Anscheinsbeweises bereits an der Typizitätsgrundlage, kommt es auf die Frage nach seiner Erschütterung nicht mehr an (vgl. OLG Hamm NJW-RR 2004, 172).
23Im Falle eines unstreitig oder erwiesenermaßen unmittelbar zuvor erfolgten Spurwechsels des Vordermannes spricht der Beweis des ersten Anscheins daher nicht gegen den Auffahrenden, sondern vielmehr dafür, dass der vorausfahrende Verkehrsteilnehmer unter Verstoß gegen § 7 Abs. 5 StVO die Fahrspur gewechselt hat (vgl. OLG Frankfurt Zfs 2006, 259; KGR Berlin 1997, 223). Umstritten ist indes, ob ein (behaupteter) vorheriger Spurwechsel des Vordermanns, ein Einbiegen oder Abbiegen schon die Typizität in Frage stellen oder erst auf der nachfolgenden Stufe der Erschütterung zu prüfen sind.
24Einer Auffassung nach muss der Auffahrende darlegen und ggf. beweisen, dass der Spurwechsel in unmittelbarem zeitlichem und räumlichem Zusammenhang mit dem Auffahrunfall stand, damit gegen ihn nicht der prima-facie-Beweis einschlägig ist. Von einem atypischen Verlauf, der die Verschuldensfrage in einem anderen Licht erscheinen lässt, wäre bei einem Fahrspurwechsel auszugehen, wenn das vorausfahrende Fahrzeug unmittelbar vor dem Auffahrunfall die Fahrspur gewechselt hätte. Mit der bloßen Behauptung, der Unfallgegner habe dicht vor ihm plötzlich die Fahrspur gewechselt, kann sich der Hintermann dagegen nicht entlasten. Die rein theoretische Möglichkeit eines solchen Geschehens genügt nicht. Andernfalls müsste nämlich der Vordermann auch bei typischen Auffahrunfällen auf Autobahnen den in der Praxis kaum möglichen Nachweis führen, dass der Auffahrende schon "eine gewisse Zeit" auf derselben Fahrspur hinter ihm hergefahren ist. Auf Autobahnen sind Überholmanöver gewollt und die Regel. Bei starkem Verkehrsaufkommen benutzen Fahrzeuge nicht selten längere Zeit die Überholspur, etwa um langsamere, im Kolonnenverkehr rechts fahrende Fahrzeuge "in einem Zug" zu überholen. Der Überholende wird sein Augenmerk regelmäßig primär auf die vor ihm befindlichen Fahrzeuge richten und nicht permanent den rückwärtigen Verkehr beachten, um Feststellungen zu treffen, wie lange sich ein bestimmtes Fahrzeug bereits hinter ihm befindet. Der Nachweis, dass ein Fahrzeug "eine gewisse Zeit" hinter dem Vordermann hergefahren ist, wird bei lebensnaher Betrachtung daher kaum je gelingen. Im Übrigen muss jeder, der sich auf der Autobahn auf der Überholspur befindet, irgendwann einmal von der rechten Fahrspur auf diese gewechselt sein. Damit wäre der gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis auf Überholspuren von Autobahnen praktisch ausgehebelt und dem Vordermann würde im Ergebnis der Vollbeweis einer Verkehrspflichtverletzung abverlangt. Danach erscheint es sachgerecht, davon auszugehen, dass auf Autobahnen ein stattgefundener Wechsel auf eine andere Spur den gegen den Auffahrenden sprechenden Anscheinsbeweis so lange nicht entkräftet, wie nicht die ernsthafte Möglichkeit eines engen zeitlichen Zusammenhangs zwischen dem Fahrspurwechsel und dem Anstoß und damit eines atypischen Auffahrunfalls belegt ist (vgl. OLGR Saarbrücken 2009, 636; KGR Berlin 2009, 416; OLG Zweibrücken Schaden-Praxis 2009, 175; OLG Saarbrücken MDR 2006, 329). Hinweise auf ein atypisches Geschehen können eine Unfallanalyse und eine Auswertung der Schadensbilder liefern. Wenn hiernach feststeht, dass sich der Vordermann in Schrägfahrt befunden hat oder wenn eine "Eckkollision" vorliegt, kann der Anscheinsbeweis als widerlegt oder zumindest als erschüttert angesehen werden (vgl. OLGR Saarbrücken 2009, 636; KGR Berlin 2009, 416; KGR Berlin 2009, 82; OLG Saarbrücken MDR 2006, 329; OLG Köln RuS 2005, 127).
25Einer anderen Ansicht zufolge greift der Anscheinsbeweis bereits dann nicht oder ist zumindest erschüttert, wenn die Möglichkeit eines atypischen Verlaufs besteht, also Tatsachen vorliegen, die einen abweichenden Geschehensablauf nicht nur theoretisch denkbar, sondern mit einer empirisch nicht zu vernachlässigenden Wahrscheinlichkeit für möglich erscheinen lassen. Es bedarf somit für den konkreten Einzelfall der Feststellung des den Anscheinsbeweis rechtfertigenden typischen Geschehensablaufs. Dabei sind alle bekannten Umstände eines Falles in die Bewertung einzubeziehen. Der behauptete Vorgang muss zu jenen gehören, die schon auf den ersten Blick nach einem durch Regelmäßigkeit, Üblichkeit und Häufigkeit geprägten Muster abzulaufen pflegen. Der feststehende Auffahrvorgang kann zwar zum Sachverhaltskern eines typischen Gesamtgeschehens gehören, erlaubt aber noch nicht zwingend den Schluss auf einen typischen Geschehensablauf. Besteht nämlich die ernsthafte Möglichkeit eines anderen als des typischen Geschehensablaufs, dann führt die Gesamtschau zur Verneinung des Anscheinsbeweises (OLG Köln NZV 2007, 141; OLG Naumburg NJW-RR 2003, 809; OLG Hamm MDR 1998, 712; KG Berlin MDR 1997, 1123). Bei einem Fahrstreifenwechsel haftet der Vorausfahrende daher für die Unfallschäden mit oder gar allein, wenn er nicht vortragen und notfalls beweisen kann, dass er so lange im gleich gerichteten Verkehr spurgleich vorausgefahren ist, dass der Hintermann zum Aufbau des nötigen Sicherheitsabstandes in der Lage war (vgl. OLG München Urteil v. 04.09.2009, 10 U 3291/09, OLG Naumburg SP 2008, 351; OLG Düsseldorf SVR 2005, 27; KG Berlin NZV 2008, 198; KG Berlin DAR 2006, 322; KG Berlin VersR 2005, 1746; OLG Celle, VersR 1982, 960).
26Der letztgenannten Ansicht ist nach Auffassung der Kammer der Vorzug zu geben. Zumindest dann, wenn der Auffahrende nachvollziehbar und widerspruchsfrei darlegt, dass der Vorausfahrende unmittelbar vor der Kollision die Spur gewechselt hat und hierdurch den Unfall verursacht hat, ist nicht mehr von einem typischen Geschehensablauf auszugehen. Dieser ist nur dann gegeben, wenn der Geschädigte bereits eine gewisse Zeit vor dem Auffahrenden gefahren ist, da Letzterer nur dann den erforderlichen Sicherheitsabstand herzustellen in der Lage ist. Andernfalls stünde derjenige, der grob verkehrsrechtswidrig die Fahrspur wechselt, prozessual besser da, als der Auffahrende, der stets den Spurwechsel des Vorausfahrenden beweisen müsste. Gelingt dem Auffahrenden dieser Beweis nicht, hätte er stets allein für die Unfallfolgen aufzukommen. Verneint man hingegen in solchen Fällen das Vorliegen eines Anscheinsbeweises, so hat der Vorausfahrende nachzuweisen, dass sein Spurwechsel nicht unfallursächlich geworden ist. Dieser Beweis mag ggf. schwer zu führen sein, dies entspricht jedoch den grundsätzlich zu tragenden Prozessrisiken, die bei einem Verkehrsunfall auch nicht zu dem unbilligen Ergebnis einer Alleinhaftung, sondern zu einer Haftungsteilung führen. Allein dieses Ergebnis ist nach Auffassung der Kammer in Fällen eines Auffahrunfalles, in denen ein Verstoß des Vorausfahrenden gegen § 7 Abs. 5 StVO in Rede steht, billig und angemessen.
27Vorliegend ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme der von den Beklagten behauptete Spurwechsel ebenso wahrscheinlich wie der von der Klägerin behauptete Unfallhergang. Während die Zeugen U und K zum Unfallhergang keine Angaben machen konnten, haben der Widerbeklagte zu 1) und der Beklagte zu 1) im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung jeweils ihr Klagevorbringen bestätigt. Zutreffend hat das Amtsgericht dabei ausgeführt, dass zwar der Vortrag des Beklagten zu 1) nicht gänzlich mit seinen Angaben im Ermittlungsverfahren übereinstimmt, andererseits der Vortrag des Widerbeklagten zu 1) teilweise nicht nachvollziehbar ist. Insoweit wird auf die nicht zu beanstandende Beweiswürdigung der angefochtenen Entscheidung verwiesen. An diese Würdigung ist die Kammer gebunden. Die Regelung des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO hindert im vorliegenden Fall eine eigenständige Bewertung des Beweisergebnisses durch die Kammer. Denn nach dieser Regelung hat das Berufungsgericht grundsätzlich die vom erstinstanzlichen Gericht festgestellten Tatsachen der eigenen Entscheidung zugrunde zu legen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der Feststellung der Tatsachen begründen. Konkrete Anhaltspunkte für fehler- oder lückenhafte Feststellungen des erstinstanzlichen Gerichtes bestehen, wenn die Tatsachenfeststellung verfahrensfehlerhaft gewonnen wurde, die Beweiswürdigung gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstößt, gerichts- oder allgemein bekannte Tatsachen bei der Beweiswürdigung keine Berücksichtigung erfahren oder materiell-rechtliche Fehler Auswirkungen auf die Tatsachenfeststellung haben, wie beispielsweise die Verkennung der Beweislast (OLG Saarbrücken NJW-RR 2003, 139; Zöller/Gummer/Heßler, ZPO, 25. Aufl. 2005, § 529 Rn. 2.). Diese Regelung hat dabei nicht die Zulässigkeit neuer Beweismittel oder neuen Tatsachenvortrages zum Gegenstand, sondern zielt auf eine Stärkung des erstinstanzlichen Erkenntnisprozesses, indem die Feststellung der Tatsachen nur unter bestimmten Voraussetzungen von dem Berufungsgericht überprüft und selbst neu vorgenommen werden dürfen. Eine vom Beweisergebnis des Amtsgerichts abweichende Bewertung ist danach nur möglich, wenn dessen Tatsachenfeststellung fehlerhaft gewesen ist, das heißt entweder Beweisantritte übergangen oder die Beweiswürdigung selbst in dem oben genannten Umfang fehlerhaft ist, so dass Zweifel an der Richtigkeit der Feststellung begründet sind. Dies ist jedoch nicht der Fall. Soweit die Klägerin einwendet, für den Vortrag des Widerbeklagten spreche, dass dieser die Polizei verständigt habe, so ist dem entgegenzuhalten, dass es keinen Erfahrungssatz gibt, dass derjenige, der den Unfall nicht verursacht hat, stets die Polizei hinzuziehen möchte. Hingegen ist es nach der Lebenserfahrung nicht fernliegend, dass es auf Autobahnen und auch auf mehrspurigen Abfahrten zu gefährlichen Spurwechseln kommt, bei denen die Geschwindigkeit des folgenden oder des vorausfahrenden Fahrzeuges unterschätzt wird.
282.
29Auf die Berufung der Klägerin war lediglich die Kostenentscheidung nach §§ 92 Abs. 1, 100 Abs. 2, 4 ZPO abzuändern. Die von Seiten des Amtsgerichts vorgenommene Kostenentscheidung berücksichtigt nämlich die unterschiedlichen Beteiligungen der Parteien (Klage und Widerklage) nicht hinreichend. Die Kostenentscheidung beruht nunmehr auf §§ 92 Abs. 1, 97, 100 Abs. 2, 4 ZPO.
303.
31Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
324.
33Die Revision war in Anbetracht der zur Frage der Anwendbarkeit der Grundsätze des Anscheinsbeweises bei Auffahrunfällen von den benannten Oberlandesgerichten vertretenen divergierenden Rechtsansichten gemäß § 543 Abs. 2 ZPO zuzulassen.
34Streitwert:
351. Instanz: 3.688,56 €
362. Instanz: 1.844,29 €
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Q | M | Dr. X |
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