Urteil vom Landgericht Aachen - 11 O 296/10
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits einschließlich der Kosten des selbständigen Beweisverfahrens 11 OH 15/08 LG Aachen trägt die Klägerin.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
1
Tatbestand
2Die am 21.12.1969 geborene Klägerin begab sich am 26.04.2007 in die Praxis der Beklagten, um Impfungen gegen Tetanus/Diphtherie und Poliomyelitis auffrischen zu lassen. Die Impfungen wurden durch Herrn Dr. I durchgeführt, wobei er, da der üblicherweise verwendete 3fach-Impfstoff ausgegangen war, die Injektion mit zwei Spritzen, einmal mit dem Impfstoff Td-pur und einmal mit dem Impfstoff IPV Mérieux jeweils 0,5 ml der Herstellerfirma O in den linken Oberarm bzw. Schulterbereich vornahm.
3Die Klägerin behauptet, dass eine Aufklärung zuvor insgesamt nicht erfolgt sei. Für die Auffrischung der Polio-Impfung, die für Erwachsene nicht mehr von der Ständigen Impfkommission empfohlen werde, habe überdies auch keine medizinische Indikation bestanden. Darüber hinaus habe der die Impfungen vornehmende Arzt Dr. I mit der Vornahme der beiden Impfungen am selben Tag in den linken Oberarm und damit in dieselbe Körperstelle auch gegen die Empfehlungen des Herstellers verstoßen und mithin die Impfungen behandlungsfehlerhaft durchgeführt.
4Mitte Mai 2007 sei es zu dem Auftreten erster neurologischer Auffälligkeiten gekommen. Zunächst seien Rückenschmerzen im unteren Lendenwirbelsäulenbereich, ausstrahlend in die rechte Hüfte und das rechte Bein aufgetreten. Zudem seien in der Folgezeit Faszikulationen (unwillkürliche Muskelzuckungen) aufgetreten, zunächst in der linken Hand, später auch in beiden Armen, Beinen und Füßen sowie im Bereich der linken Wange. Zeitweise könne sie mit ihrer linken Hand auch nicht richtig zugreifen. Hinzugekommen seien Hautrötungen verbunden mit erheblichem Juckreiz sowie Schwindelgefühle. Bis heute seien diese Beschwerden anhaltend und eher noch verschlimmert, wodurch sie insgesamt in ihrer Lebensführung massiv beeinträchtigt sei. So könne sie ihren Haushalt mit zwei minderjährigen Kindern nur sehr eingeschränkt versorgen und müsse ihr Ehemann seit Jahren ständig unterstützend einspringen, was sie neben den körperlichen Beeinträchtigungen auch psychisch sehr belaste. Ihren Beruf als Zahnarzthelferin könne sie wegen der anhaltenden Faszikulationen nicht mehr ausüben. Da eine neurologische Ursache für ihre Beschwerden bei wiederholten auch stationären Untersuchungen nicht habe festgestellt werden können, stehe aufgrund des zeitlichen Zusammenhangs fest, dass sie auf die Impfungen zurückzuführen seien, zumal insbesondere für den Impfstoff Td-pur das Auftreten von Erkrankungen des zentralen und peripheren Nervensystems in Einzelfällen als Nebenwirkung bekannt sei. Hierzu nimmt die Klägerin zudem Bezug auf ein Sachverständigengutachten, das im Rahmen eines sozialgerichtlichen Verfahrens eingeholt und in dem eine Anerkennung als Impfschaden bei Feststellung einer 30 %-igen Erwerbsfähigkeitsminderung befürwortet worden ist (Bl. 39ff d.A.). Wegen der Schwere der Beeinträchtigungen hält sie ein Schmerzensgeld von mindestens 10.000 € für angemessen und erforderlich.
5Die Klägerin beantragt,
61. die Beklagte zu verurteilen, an sie ein angemessenes Schmerzensgeld nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen, wobei der genaue Betrag des Schmerzensgeldes in das Ermessen des Gerichts gestellt wird und hierbei von einem Betrag nicht unter 10.000,00 € ausgegangen werden soll;
72. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, künftige materielle und immaterielle Schäden der Klägerin zu zahlen.
8Die Beklagte beantragt,
9die Klage abzuweisen.
10Sie bestreitet sowohl einen Behandlungsfehler als auch eine Kausalität zwischen den Impfungen und den behaupteten Beeinträchtigungen. Eine Aufklärung sei vor der Impfung entsprechend auch den allgemeinen Gepflogenheiten in ihrer Praxis und der erfolgten Dokumentation in den Behandlungsunterlagen erfolgt, wobei die Beklagte im übrigen vorsorglich den Einwand der hypothetischen Einwilligung erhebt. Auch die Durchführung der Impfung in zwei verschiedene, näher beschriebene Injektionsstellen in den Deltamuskel der linken Schulter sei insgesamt in nicht zu beanstandender Weise gemäß dem ärztlichen Standard vorgenommen worden. In jedem Fall fehle es aber an einer Kausalität zu den - im einzelnen bestrittenen - Folgen, wobei ausweislich ihrer Behandlungsunterlagen trotz wiederholter Vorstellungen der Klägerin bei ihr bereits im Mai und Juni 2007 erstmals am 16.07.2007 Beschwerden der auch jetzt geltend gemachten Art beklagt worden seien, und zwar in Form eines seit 2 Tagen bestehenden Muskelzuckens an der linken Hand. Schon der zeitliche Abstand dieser Beschwerden zu der rund 3 Monate zuvor erfolgten Impfung schließe einen Zusammenhang zwischen beidem aus.
11Wegen der weiteren Einzelheiten des beiderseitigen Parteivorbringens wird auf die wechselseitigen Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
12Die Akten des selbständigen Beweisverfahrens 11 OH 15/08 LG Aachen, das von der Klägerin mit Antrag vom 20.05.2008 wegen der streitgegenständlichen Vorwürfe eingeleitet und in dem ein neurologisches Gutachten des Sachverständigen Dr. M vom 01.08.2009 (Bl. 143ff d.BA.) und ein impfärztliches Gutachten des Sachverständigen Dr. G vom 08.03.2010 (Bl. 201ff d.BA.) eingeholt worden sind, lagen vor und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
13Entscheidungsgründe
14Die - hinsichtlich des Feststellungsantrags in der konkreten Form wegen unzureichender Bestimmtheit überdies unzulässige - Klage ist insgesamt nicht begründet. Der Klägerin steht gegen die Beklagte unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt ein Anspruch auf Leistung von Schmerzensgeld oder Schadensersatz zu.
15Letztlich kann sowohl die Frage nach einer ordnungsgemäßen Aufklärung als auch nach einer Bewertung der konkreten Impfdurchführung als behandlungsfehlerhaft dahingestellt bleiben, da es jedenfalls an einem von der Klägerin zu erbringenden Nachweis einer Kausalität zwischen der Impfung und den beklagten Beschwerden fehlt.
16In den beiden in dem selbständigen Beweisverfahren eingeholten Gutachten, auf welche sich die Beklagte u.a. beruft und deren Einholung damit gemäß § 493 ZPO einer Beweisaufnahme in dem vorliegenden Rechtsstreit gleichsteht, ist ein solcher Kausalzusammenhang ausdrücklich verneint bzw. als zumindest nicht positiv feststellbar bewertet worden, ohne dass sich die Klägerin mit diesen beiden Gutachten in dem selbständigen Beweisverfahren oder in dem hiesigen Rechtsstreit inhaltlich auseinandergesetzt oder eine ergänzende schriftliche oder mündliche Anhörung der Sachverständigen beantragt hat. Darüber hinaus hat der impfärztliche Sachverständige Dr. G darin auch die konkrete Durchführung der Impfung mittels zweier Injektionen am selben Tag in zwei verschiedene Stellen desselben Muskels als trotz der abweichenden Herstellerempfehlung dem ärztlichen Standard entsprechend und jedenfalls nicht zur Herbeiführung der geltend gemachten Schäden geeignet bewertet, da es bei der Empfehlung der zeitgleichen Verabreichung mehrerer Impfstoffe in unterschiedliche Körperstellen darum gehe, eine Verstärkung stets möglicher lokaler oder im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang auftretender grippeähnlicher Impfreaktionen zu vermeiden, welche bei der Klägerin aber unstreitig insgesamt nicht aufgetreten sind.
17Von einem derartigen Zusammenhang zwischen konkreter Impfdurchführung und dem späteren Auftreten der in erster Linie von der Klägerin beklagten Faszikulationen nebst Begleit- und Folgebeeinträchtigungen wird auch in dem von ihr in Bezug genommenen Gutachten des Sachverständigen Dr. I1 vom 30.04.2010 nicht ausgegangen. Dieses im Rahmen eines sozialgerichtlichen Verfahrens zur Klärung offenbar der versorgungsrechtlichen Anerkennung der Gesundheitsbeeinträchtigungen der Klägerin als Impfschaden eingeholte Gutachten bejaht zwar unter diesen versorgungsrechtlichen Gesichtspunkten eine „wahrscheinliche“ (S. 18 = Bl. 56 d.A.) bzw. „gut mögliche“ (S. 19 = Bl. 57 d.A.) Verursachung der Erkrankung durch die Impfung vom 26.04.2007, wobei sich diese Wahrscheinlichkeit allerdings bereits ausweislich der weiteren Ausführungen ausschließlich auf die Tetanus- und Diphterie-Impfung mit dem Impfstoff Td-pur beziehen soll, während auch der Sachverständige Dr. I1 davon ausgeht, dass die gleichzeitig erfolgte IPV-Impfung gegen Poliomyelitis mangels Enthaltens von Adjuvans bei der Krankheitsentstehung der Klägerin keine wesentliche Rolle gespielt habe (S. 14 = Bl. 52 d.A.). Da sich zudem aus dem Gutachten ergibt, dass es sich bei der von dem dortigen Gutachter als in der Diagnose sehr wahrscheinlich angenommenen und in der Verursachung „wahrscheinlich“ oder „möglicherweise“ durch den Td-Impfstoff ausgelösten Erkrankung eines sog. Isaac-Syndroms um eine insgesamt sehr seltene und als Folge von Impfungen nur in Einzelfällen diskutierte Krankheit handele, eine hierauf gerichtete Aufklärungspflicht mithin auch danach nicht anzunehmen ist, könnte sich selbst bei uneingeschränkter Zugrundelegung dieses Gutachtens eine Haftung der Beklagten für die geltend gemachten Gesundheitsbeeinträchtigungen der Klägerin allenfalls aus dem Vorwurf des Fehlens jeglicher Aufklärung gerade auch bezüglich der Tetanus/Diphterie-Impfung ergeben. Insoweit ist lediglich ergänzend darauf hinzuweisen, dass ausweislich der unwidersprochen gebliebenen Ausführungen des Sachverständigen Dr. M auf S. 7 seines in dem selbständigen Beweisverfahren erstatteten Gutachtens (Bl. 149 d.BA.) die Klägerin ihm gegenüber angegeben hat, über diese Impfung im Gegensatz zu der Polio-Impfung aufgeklärt worden zu sein. Selbst wenn es aber entgegen diesen eigenen Angaben der Klägerin insgesamt an einer Aufklärung gefehlt haben sollte und überdies auch ein tatsächlicher Entscheidungskonflikt bei Erfolgen einer ordnungsgemäßen Aufklärung - obwohl hierfür nichts spricht, für dessen Ausschluss die Klägerin aber persönlich hätte gehört werden müssen - unterstellt wird, wäre das Gutachten Dr. I1 nicht geeignet, eine Haftung der Beklagten zu begründen. Denn der darin ausdrücklich als für die versorgungsrechtlichen Fragestellungen genügend herausgestellte Maßstab einer Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges reicht im Rahmen des hier maßgeblichen Beweismaßes des § 286 ZPO nicht aus. Vielmehr bedarf es hier einer positiven Überzeugungsbildung im Sinne eines „für das praktische Leben brauchbaren Grad[es] von Gewissheit, der den Zweifeln Schweigen gebietet“ (z.B. BGH VersR 2004, 118, 119 m.w.N.). Für eine derartige Überzeugungsbildung stellt aber das Gutachten Dr. I1 schon unabhängig von seiner inhaltlichen Richtigkeit (ausweislich des Gutachtens selbst stand ihm auch in dem sozialgerichtlichen Verfahren eine abweichende gutachterliche Bewertung gegenüber) keine ausreichende Grundlage dar.
18Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91, 709 S. 1 u. 2 ZPO.
19Streitwert: 11.000,00 €
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Referenzen
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