Urteil vom Landgericht Aachen - 12 O 575/09
Tenor
Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 15.463,63 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über den Basiszinssatz seit dem 24. September 2009 zu zahlen.
Der Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits tragen.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
1
Tatbestand
2Die Klägerin war die Einzugsstelle für die Sozialversicherungsbeiträge der bei der Fa. L GmbH in B beschäftigten Versicherten. Ausweislich des Handelsregisters B löste der Beklagte seinen Vater am 2. November 2005 als Geschäftsführer der L GmbH ab (Bl. 14 unten und Bl. 13 oben). Die L GmbH beschäftigte von Juli 2006 bis einschließlich Juli 2007 drei Arbeitnehmer. Zumindest bis einschließlich April 2007 sind von der L GmbH Lohnzahlungen erbracht worden (Bl. 155). Ausweislich einer Aufstellung der Klägerin waren für den Zeitraum vom 1. Juli 2006 bis zum 31. Mai 2007 Arbeitnehmeranteile in Höhe von insgesamt 15.463,63 € an die Klägerin zu entrichten (Anlage K4, Bl. 18). Darin enthalten sind Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung in Höhe von 7.605,36 €, Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung in Höhe von 5.115,12 €, Beiträge zur gesetzlichen Arbeitsförderung in Höhe von 2.127,01 € sowie Beiträge zur gesetzlichen Pflegeversicherung in Höhe von 616,14 €. Über das Vermögen der L GmbH wurde mit Beschluss des Amtsgerichts vom 17. Dezember 2007 (Az. 92 IN 216/07) das Insolvenzverfahren eröffnet (Bl. 15).
3Die Klägerin beantragt,
4den Beklagten zu verurteilen, an sie 15.463,63 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über den Basiszinssatz ab dem 24. September 2009 zu zahlen.
5Der Beklagte beantragt,
6die Klage abzuweisen.
7Er behauptet insbesondere, er sei unter anderem im hier maßgeblichen Zeitraum vom 1. Juli 2006 bis zum 31. Mai 2007 aufgrund einer psychischen Erkrankung geschäftsunfähig gewesen. Er bestreitet mit Nichtwissen, dass die streitgegenständlichen Sozialversicherungsbeiträge für das Jahr 2007 nicht beglichen worden sind. Der Beklagte sei davon ausgegangen, dass die Beiträge ordnungsgemäß berechnet und abgeführt worden seien, was Aufgabe eines von der Insolvenzschuldnerin beauftragten zuverlässigen Steuerberaters gewesen sei (Bl. 33). Faktisch habe auch nicht er, sondern ein Prokurist die Geschäfte der L GmbH geführt (Bl. 331 ff.). Er ist der Ansicht, dass jedenfalls kein Schaden entstanden sei. Hierzu behauptet er, im maßgeblichen Zeitraum sei die Insolvenzschuldnerin zahlungsunfähig und überschuldet gewesen (Bl. 31). Er vertritt die Auffassung, dass die Klägerin zumindest ein Mitverschulden treffe, weil sie so hohe Rückstände hat auflaufen lassen (Bl. 33).
8Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen verwiesen.
9Das Gericht hat durch Einholung eines schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen P und persönliche Anhörung des Sachverständigen Beweis erhoben. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das schriftliche Gutachten vom 16. August 2011 (Bl. 239 ff.) und das Sitzungsprotokoll vom 12. Juni 2012 (Bl. 339 ff.) verwiesen.
10Entscheidungsgründe
11Die Klage ist begründet.
12Der Klägerin steht gegen den Beklagten aus §§ 823 II BGB i.Vm. §§ 266a I, 14 I Nr. 1 StGB ein Schadensersatzanspruch wegen vorenthaltener Arbeitnehmerbeiträge in Höhe von 15.463,63 € für den Zeitraum vom 1. Juli 2006 bis zum 31. Mai 2007 zu.
13Die Strafvorschrift des § 266a I StGB, welche die Vorenthaltung von Arbeitnehmerbeiträgen zur Sozialversicherung durch den Arbeitgeber unter Strafe stellt, ist ein Schutzgesetz i.S.d. § 823 II BGB zugunsten der Sozialversicherungsträger (Wagner in: Münchener Kommentar, 5. Auflage 2009, § 823 BGB Rn. 369, 405). Zu den Aufgaben des Geschäftsführers einer GmbH gehört es, dafür zu sorgen, dass die der Gesellschaft auferlegten öffentlichrechtlichen Pflichten, zu denen die Abführung der Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung gehört, erfüllt werden (BGH, Urteil vom 15.10.1996 - VI ZR 319/95, NJW 1997, 130). Die unmittelbare persönliche Einstandspflicht des Geschäftsführers als Organ der GmbH ergibt sich aus der Zurechnungsnorm des § 14 I Nr. 1 StGB, nach welcher der Geschäftsführer so behandelt wird, als sei er persönlich der die Sozialversicherungsbeiträge vorenthaltende Arbeitgeber i.S.d. § 266a I StGB, weshalb eine haftungsbefreiende Delegation der Abführung der Sozialversicherungsbeiträge nicht möglich ist (Wagner in: Münchener Kommentar, 5. Auflage 2009, § 823 BGB Rn. 405). Setzt der Geschäftsführer andere Personen für diese Aufgabe ein, was grundsätzlich zulässig ist, so muss er diese überwachen und sicherstellen, dass die Beiträge bei Fälligkeit wirklich gezahlt werden (BGH, Urteil vom 15.10.1996 - VI ZR 319/95, NJW 1997, 130; Spindler in: Beck'scher Online-Kommentar BGB, Edition: 23 Stand: 01.03.2011, § 823 BGB Rn. 207 m.w.N.). Dies gilt insbesondere dann, wenn sich die Gesellschaft in einer wirtschaftlichen Krise befindet (BGH, Urteil vom 15.10.1996 - VI ZR 319/95, NJW 1997, 130).
14Unstreitig war der Beklagte im Zeitraum vom 1. Juli 2006 bis zum 31. Mai 2007 Geschäftsführer der L GmbH und auch als solcher im Handelsregister eingetragen (Bl. 14 und 13). Er hat sein Amt als Geschäftsführer bis zum Ablauf dieses Zeitraums nicht niedergelegt. Aus den Ausführungen des Sachverständigen war zu entnehmen, dass sich der Beklagte auch mit Fragen der Geschäftsführung der L GmbH eingehend beschäftigt hat, deren Fortführung er von seinem Vater übernommen hat. Seine Verantwortung und Rolle als Geschäftsführer der L GmbH war ihm sehr wichtig und er wollte diese Stellung nicht aufgeben. Unter anderem durch Leistung von Unterschriften unter Schecks ist der Beklagte auch als Geschäftsführer der L GmbH tätig gewesen. Er war keinesfalls nur ein "Strohmann". Der Umstand, dass er seine Pflichten als Geschäftsführer vernachlässigt hat, schließt seine Haftung nicht aus, sondern begründete sie gerade. Insbesondere kann sich der Beklagte auch nicht darauf berufen, dass der von der L GmbH beauftragte Steuerberater, die ordnungsgemäße Berechnung und Abführung der Arbeitnehmerbeiträge hätte durchführen müssen und er darauf vertraut habe, dass dies auch geschehen sei. Die Tätigkeit des Steuerberaters war vom Geschäftsführer zu überwachen, zumal in der wirtschaftlich angespannten Situation der L GmbH.
15Die Haftung des Beklagten ist auch nicht wegen Unmöglichkeit normgerechten Verhaltens ausgeschlossen. Zahlungsunfähigkeit, die zur Unmöglichkeit des in § 266 a I StGB gebotenen Verhaltens führt, besteht nur dann, wenn dem Arbeitgeber die Mittel nicht mehr zur Verfügung stehen, um ganz konkret die fälligen Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung und nur diese abzuführen (BGH, Urteil vom 15.10.1996 - VI ZR 327/95, NJW 1997, 133; Hager in: Staudinger, BGB - Neubearbeitung 2009, § 823 BGB Rn. G42). Auch bei bestehende Zahlungsunfähigkeit i.S.d. § 17 InsO kann der Tatbestand des § 266 a I StGB erfüllt sein, sofern zumindest ausreichend Mittel vorhanden sind, um allein und ausschließlich die Arbeitnehmeranteile zu begleichen (Wagner in: Münchener Kommentar, 5. Auflage 2009, § 823 BGB Rn. 407). Der Geschäftsführer einer GmbH ist wegen Vorenthaltens von Arbeitnehmeranteilen zur Sozialversicherung darüber hinaus sogar dann gemäß § 823 II BGB i.V. mit § 266 a StGB haftungsrechtlich verantwortlich, wenn die GmbH zwar zum Fälligkeitszeitpunkt nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, um die Arbeitnehmeranteile zu zahlen, er es jedoch pflichtwidrig unterlassen hat, die Erfüllung dieser Verpflichtung durch Bildung von Rücklagen, notfalls auch durch Kürzung der Nettolohnzahlung sicherzustellen (BGH, Urteil vom 25.09.2006, II ZR 108/05, NJW 2006, 3573).
16Unstreitig sind Arbeitsentgelte bis April 2007 einschließlich von der L GmbH gezahlt worden, was gegen die Unmöglichkeit der Abführung der Sozialversicherungseiträge spricht. Die Abführung des Arbeitnehmeranteils am Versicherungsbeitrag hat absoluten Vorrang gegenüber allen anderen Forderungen (Wagner in: Münchener Kommentar, 5. Auflage 2009, § 823 BGB Rn. 369, 408). Zumindest trifft den Beklagten der Vorwurf, dass er keine geeigneten Vorkehrungen getroffen hat, um sicherzustellen, dass die Sozialversicherungsbeiträge auf jeden Fall aufgebracht werden können.
17Aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme steht zur vollen Überzeugung des Gerichts fest, dass der Beklagte im Zeitraum vom 1. Juli 2006 bis zum 31. Mai 2007 deliktsfähig war. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Beklagte während dieses Zeitraums Phasen hatte, in denen er tatsächlich deliktsunfähig war. Sobald die Deliktsfähigkeit wiederhergestellt war, musste er tätig werden und gegebenenfalls für die Nachholung von versäumten Zahlungen sorgen. Aufgrund des überzeugenden und umfassenden Gutachtens des Sachverständigen P hat das Gericht keine Zweifel an der zumindest zeitweise bestehende Deliktsfähigkeit während des fraglichen Zeitraums.
18Der uneingeschränkten Verwertung des Gutachtens vom Sachverständigen P steht insbesondere nicht den Widerruf der Schweigepflichtentbindung vom 11. September 2011 durch den Beklagten (Bl. 211) entgegen. Wird die Befreiung von der Pflicht zur Geheimhaltung widerrufen, so sind die bisherigen Angaben verwertbar (Damrau in: Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, 3. Auflage 2008, § 383 ZPO Rn. 11). Was bereits Prozessstoff geworden ist, kann, selbst wenn es unter Verletzung einer Verschwiegenheitspflicht eingeführt worden ist, nicht mehr zurückgenommen werden. Unabhängig davon, wäre es nach den Regeln der Beweisvereitelung zulasten des Beklagten zu würdigen gewesen, wenn er durch Verweigerung der Schweigepflichtentbindung eine Klärung der Frage der Deliktsfähigkeit unterbunden oder durch selektive Freigabe von Informationen versucht hätte, das Ergebnis zu steuern (Huber in: Musielak, 9. Auflage 2012, § 383 ZPO Rn. 10; Trautwein in: Prütting-Gehrlein, 2010, § 384 ZPO Rn. 23).
19Die vom Beklagten im Zeitraum vom 1. Juli 2006 bis zum 31. Mai 2007 entfalteten Tätigkeiten schließen die Möglichkeit aus, dass der Beklagte durchgehend aufgrund einer krankhaften seelischen Störung oder wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung und unfähig war einzusehen, dass die Abführung der Arbeitnehmeranteile als Geschäftsführer Unrecht ist. So hat sich der Beklagte nach der Dokumentation von Prof. U im September 2006 intensiv mit Erdwärmebohrungen und Wärmepumpen für Fertighäuser als Geschäftsidee gekümmert (Bl. 285). Im Oktober 2006 hat er sich intensiv mit den Betrieb, den Bankgeschäften und den konkreten Zahlen zu den Schulden beschäftigt (Bl. 285). Im Januar 2007 hat der Beklagte zusammen mit seiner Partnerin einen Urlaub in New York verbracht. In der Folgezeit hat er weiterhin Verhandlungen mit Banken geführt und sich mit der Frage eines Erdwärmegeschäfts auseinandergesetzt (Bl. 285). Im April 2007 hat der Beklagte eine Kreuzfahrt unternommen. Die in den Gesprächsprotokolle von Prof. U erkennbare eingehende Beschäftigung des Beklagten mit betrieblichen Angelegenheiten, die Angabe von konkreten Zahlen und differenzierten Planungen für die Zukunft, zeigen, dass der Beklagte zumindest während der meisten Zeit einsichtsfähig und handlungsfähig war (Bl. 286, 301 f.). Der Sachverständige konnte insbesondere auch keine Anhaltspunkte dafür feststellen, dass die Medikation dem Beklagten über längere Zeit und schon gar nicht über den gesamten Zeitraum vom 1. Juli 2006 bis zum 31. Mai 2007 die Einsichtsfähigkeit genommen hat. Die vom Sohn und der Partnerin gemachten Äußerungen sind wegen der mangelnden zeitlichen Konkretisierung nur von eingeschränktem Aussagewert. Auch wenn es Phasen gegeben haben mag, in denen der Beklagte deliktsunfähig gewesen ist, so zeigen doch seine dokumentierten Tätigkeiten und gedanklichen Auseinandersetzungen mit betrieblichen Vorgängen, dass dieser Zustand nicht durchgängig über dem gesamten hier interessierenden Zeitraum bestand. Die gutachterlichen Feststellungen werden auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass der Gutachter keine detaillierte Vorstellung von Organisation und Aufbau der L GmbH hatte. Seine Aufgabe war es nicht, sich mit betrieblichen Strukturen zu befassen, sondern festzustellen, ob er aus psychiatrisch-psychologischer Sicht über die Grundkompetenz verfügte, die Notwendigkeit zur Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen zu erkennen und nach dieser Einsicht zu handeln. Hierfür kommt es auf Einzelheiten zur Größe und Organisation nicht entscheidend an.
20Das pauschale Bestreiten der berechneten Höhe der Rückstände ist unsubstanziiert. Ein substanziiertes Bestreiten ist auch nicht mangels entsprechender Unterlagen unmöglich. Insbesondere trägt der Beklagte nicht vor, dass der Insolvenzverwalter Auskünfte oder Akteneinsicht verweigert hätte, die er benötigt, um konkrete Einzeltatsachen, welche der Berechnung zu Grund gelegt worden sind, überprüfen und ggf. bestreiten zu können.
21Der Anspruch war auch nicht wegen einer Obliegenheitsverletzung der Klägerin i.S.d. § 254 I BGB zu kürzen. Es besteht keine Obliegenheit einer Einzugsstelle für Sozialversicherungsbeiträge spätestens nach Rückstand von drei bis vier Beiträgen einen Insolvenzantrag zu stellen, um ein strafrechtlich bewehrtes fortgesetztes Vorenthalten von Beiträgen zu verhindern.
22Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 709, 108 ZPO.
23Streitwert: bis 16.000 € (§§ 63 II 1, 48 I 1 GKG i.V.m. §§ 3, 4 I, 2. HS ZPO)
24Dr. C
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