Urteil vom Landgericht Dortmund - 4 O 137/85
Tenor
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die
Klägerin ein Schmerzensgeld von 8.000,- DM
(i.W. achttausend Deutsche Mark) zu zahlen.
2. Es wird festgestellt, daß die Beklagte ver-
pflichtet ist, sämtliche der Klägerin noch
entstehenden Schäden aus dem Unfall vom
11.07.1983 zu 2/5 zu ersetzen, soweit diese
Ansprüche nicht auf öffentliche Versicherungs-
träger oder sonstige Dritte übergehen oder
übergegangen sind.
Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten des Verfahrens trägt die
Klägerin 2/5 und die Beklagte 3/5.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar,
für die Klägerin aber nur gegen Sicherheits-
leistung von 10.000,—DM.
Die Klägerin kann die Vollstreckung der
Beklagten gegen sich durch Sicherheitsleistung
oder Hinterlegung von 1.200,—DM abwenden, wenn
nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicher-
heit in gleicher Höhe leistet.
1
T a t b e s t a n d
2Die Beklagte ist Eigentümerin des Grundstücks W-weg # in
3E, das mit einem Mehrfamilienhaus bebaut ist,
4in dem die Eltern der am ##.##.#### geborenen Klägerin eine
5Wohnung von der Beklagten gemietet hatten.
6Den nördlichen Grundstücksteil bildet eine Wiese, auf der
7häufig die in dem Haus lebenden Kinder unter anderem auch die
8Klägerin spielten. Auf der Wiese befindet sich in ca. 8 m
9Entfernung zu der nördlichen Grundstücksgrenze ein Sand-
10kasten, in den allerdings seit längerer Zeit kein Sand mehr
11eingefüllt wurde.
12Nach Norden hin grenzen Gleisanlagen der E Eisenbahn
13GmbH an das Grundstück W-weg # ebenso wie an die Nach-
14bargrundstücke. Die Gleisanlagen dienen einer langsam
15fahrenden Werksbahn. Zwischen dem Grundstück der Beklagten
16und den Nachbargrundstücken einerseits und den Gleisanlagen
17ist ein Zaun errichtet. Streitig zwischen den Parteien ist,
18ob der Zaun noch auf dem Grundstück der Beklagten steht oder
19bereits auf dem Grundstück der E Eisenbahn GmbH.
20Unbekannt ist auch, von wem der Zaun aufgestellt wurde. Als
21die Beklagte das Hausgrundstück vor einigen Jahren erwarb,
22war er bereits vorhanden.
23Der Zaun wies etwa seit Sommer 1982 ein Loch auf, durch das
24manchmal spielende Kinder ungehindert von dem Grundstück der
25Beklagten auf das Bahngelände gelangten, um hierneben den
26Wagons herzulaufen oder auf diese aufzuspringen.
27Am 11.7.1983 spielte die Klägerin, die damals 9 Jahre und 10
28Monate alt war, zusammen mit anderen Kindern auf der Wiese am
29Haus W-weg #. Als ein Werkszug vorbeifuhr, liefen die
30Kinder auf das Bahngelände. Die Klägerin folgte ihnen
31zusammen mit ihrer Freundin A, die im selben Haus
32wohnte. Ob sie dabei durch das Loch im Zaun gingen, ist unter
33den Parteien streitig. Die Klägerin und ihre Freundin wollten
34auf einen der Wagons des langsam fahrenden Werkszugs steigen.
35Zu diesem Zweck liefen sie auf dem mit Schotter belegten
36Bahndamm ein Stück neben dem Zug her. Dabei stolperte die
37Klägerin, fiel hin und geriet mit ihrem rechten Fuß auf die
38Schiene. Ein Wagenrad überrollte ihn und trennte die vordere
39Hälfte des Fußes ab, das Sprunggelenk blieb aber noch
40unversehrt. Die Klägerin kam sofort in ein Krankenhaus, wo
41der Fuß ärztlich versorgt wurde. Sie mußte ca. 2 Monate in
42der Klinik bleiben und konnte sich zunächst nur mit einem
43Rollstuhl fortbewegen. Danach lernte sie mit einer Krücke zu
44gehen. Diese benötigt sie heute noch außerhalb des Hauses.
45Außerdem muß sie speziell angefertigte orthopädische Schuhe
46tragen. Ihr Gang ist stark hinkend. Die Wunde ist nunmehr
47abgeheilt, jedoch leidet die Klägerin noch an Wetter-
48fühligkeit. In der Schule mußte die Klägerin wegen des langen
49Krankenhausaufenthaltes ein Schuljahr wiederholen.
50Die Klägerin behauptet, der Zaun stehe auf dem Grundstück der
51Beklagten. Durch das Loch darin sei sie auf das Bahngelände
52gelangt. Die Klägerin ist der Ansicht, daß die Beklagte ihrer
53Verkehrssicherungspflicht im Hinblick auf die Spielwiese
54nicht nachgekommen sei, indem sie das Loch nicht wieder
55repariert habe. Die Beklagte sei daher für den Unfall mit
56verantwortlich.
57Die Klägerin beantragt,
581) die Beklagte zu verurteilen, an sie
59ein angemessenes Schmerzensgeld,
60mindestens 10.000,00 DM, zu zahlen,
612) festzustellen, daß die Beklagte
62verpflichtet ist, sämtliche der Klägerin
63noch entstehende Schäden aus dem Unfall
64vom 11.7.1983 zu ersetzen, soweit diese
65Ansprüche nicht auf öffentlich-
66rechtliche Versicherungsträger über-
67gegangen sind.
68Die Beklagte beantragt,
69die Klage abzuweisen.
70Die Beklagte behauptet, der Zaun stehe auf dem Bahngrund-
71stück. Sie bestreitet mit Nichtwissen, daß die Klägerin vor
72dem Unfallgeschehen durch das Loch dorthin gelangt sei. Im
73übrigen ist sie der Ansicht, daß es nicht zu ihren Ver-
74kehrssicherungspflichten gehöre, ihr Grundstück gegenüber den
75Gleisanlagen abzuschirmen.
76Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien im einzelnen wird
77Bezug genommen auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze
78nebst Anlagen sowie auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift.
79Das Gericht hat Beweis erhoben über den Hergang des Unfalls
80durch Vernehmung der Schülerin A als Zeugin.
81Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird Bezug
82genommen auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift vom
834.12.1985.
84E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
85Die Klage ist teilweise begründet.
86Die Beklagte ist gem. § 847 BGB verpflichtet, an die Klägerin
87ein Schmerzensgeld von 8.000,00 DM zu zahlen.
88Die Beklagte hat schuldhaft die ihr obliegende Verkehrs-
89sicherungspflicht bezüglich der auf ihrem Grundstück be-
90findlichen Spielwiese verletzt und dadurch den Unfall der
91Klägerin mitverursacht. Zwar besteht für einen Grund-
92stückseigentümer grundsätzlich keine Verpflichtung, sein
93Grundstück einzuzäunen, wie die Beklagte richtig ausführt.
94Hier gilt aber wegen der Spielfläche auf dem Grundstück und
95der angrenzenden Werksbahn etwas anderes. Indem die Beklagte
96duldete, daß die Kinder auf der Wiese ständig spielten und
97auch die Sandkiste weiter dort beließ, stellte sie den
98Kindern diesen Grundstücksteil in tatsächlicher Hinsicht nach
99wie vor als Spielfläche zur Verfügung, auch wenn sie dies
100möglicherweise nicht mehr beabsichtigte. Allein die Nicht-
101befüllung des Sandkastens mit Sand reicht nach außen hin als
102erkennbare Funktionsaufhebung nicht aus. Die Beklagte war
103demnach weiter für diese von ihr zur Verfügung gestellte
104Spielwiese verkehrssicherungspflichtig (vgl. BGH NJW 78,
1051628). Der Inhalt der Verkehrssicherungspflicht bei einer
106Spielfläche beschränkt sich aber nicht auf die Verhütung von
107Gefahren, die von dem Grundstück oder seinen Einrichtungen
108selbst ausgehen. Vielmehr gehört dazu auch die zumutbare
109Abwehr von Gefahren, die für die Benutzer, also spielende
110Kinder, aus der Lage der Spielfläche zu sonstigen Gefahren-
111quellen entstehen (vgl. BGH NJW 77, 1965). Das Ausmaß dieser
112Sicherungspflicht bestimmt sich dabei nach der jeweiligen
113Sachlage. Die Spielfläche grenzte hier unmittelbar an ein
114Bahngelände für Werksbahnen. Dies übt auf spielende Kinder,
115auch noch im Alter von etwa 10 Jahren, erfahrungsgemäß eine
116besondere Anziehung aus, zumal die Züge hier nur langsam
117verkehren und daher für die Kinder einerseits nicht so
118gefährlich und andererseits leicht zugänglich erscheinen.
119Hinzu kommt die Faszination, die ein Bahnbetrieb schlechthin
120auf Kinder hat.
121Die Beklagte ist daher im Rahmen ihrer Verkehrssicherungs-
122pflicht für die von ihr zur Verfügung gestellte Spielfläche
123gehalten, Vorkehrungen zu treffen, daß Kinder in ihrem
124Spieltrieb nicht ungehindert die ungefährliche Spielwiese
125verlassen und ihr Spiel auf den gefahrvollen Gleisanlagen
126fortsetzen können. Zwar brauchte die Beklagte so lange nicht
127einzugreifen, wie von dritter Seite ausreichende Schutz-
128maßnahmen vorlagen, z.B. durch den vorhandenen Zaun. Die
129Beklagte war aber gehalten, laufend zu überprüfen, ob diese
130Maßnahmen noch bestanden und ausreichend waren, um sie ggf.
131durch eigene zu ergänzen oder zu ersetzen. Dagegen hat die
132Beklagte verstoßen. Sie ist nämlich nicht tätig geworden,
133obwohl der von dritter Seite aufgestellte Zaun seit langem
134ein großes Loch aufwies, durch das Kinder leicht hindurch
135konnten. Der Beklagten war zumutbar, nunmehr einen eigenen
136Zaun zu errichten, jedenfalls soweit, daß die spielenden
137Kinder das Loch nicht mehr ungehindert passieren konnten.
138Wäre dies geschehen, so kann davon ausgegangen werden, daß es
139nicht zu dem Unfall gekommen wäre. Die Klägerin ist nämlich
140durch das Loch auf das Bahngelände gelangt, wie die Be-
141kundungen der Zeugin A ergeben haben. Anhaltspunkte
142dafür, daß sich die Klägerin auch bei einem intakten Zaun auf
143die Gleisanlagen begeben hätte, bestehen nicht und werden
144auch von der Beklagten nicht vorgetragen.
145Die fehlenden eigenen Sicherungsmaßnahmen der Beklagten, für
146die von ihr in den Verkehr gebrachte Spielfläche sind somit
147ursächlich für den Unfall. Bei Anwendung der erforderlichen
148Sorgfalt hätte die Beklagte die Erforderlichkeit solcher
149Maßnahmen auch erkennen können.
150Diesem Verschulden steht aber ein erhebliches Mitverschulden
151(§ 254 BGB) der Klägerin und ihrer Eltern gegenüber. Zwar war
152die Klägerin zum Unfallzeitpunkt erst 9 Jahre und 10 Monate
153und von daher noch einem besonders starken Spieltrieb und
154einer leichten Beeinflussung durch die Anziehung der Bahn
155unterworfen. Andererseits aber wußte sie als normal ent-
156wickeltes Kind in diesem Alter auch schon - § 828 BGB gilt
157hier entsprechend (Palandt, 44. Aufl., § 254 Anm. 3 a bb) -
158daß von dem Bahngelände besonders große Gefahren ausgingen
159und daß das Laufen neben dem fahrenden Zug und das Auf-
160springen auf einen solchen besonders risikoreich ist. Ferner
161haben die Eltern ihre Aufsichtspflicht ( §1626 BGB) erheblich
162verletzt. Sie haben die Klägerin unbeaufsichtigt auf der
163Spielwiese gelassen, obwohl seit langem das Loch im Zaun war
164und zumindest andere Kinder hierdurch hin und wieder auf das
165Bahngelände gingen, wie die Zeugin A bekundet hat.
166Dieses Mitverschulden der Eltern muß sich die Klägerin auch
167im Verhältnis zu der Beklagten anrechnen lassen (vgl. BGHZ 9,
168316), da zwischen der Klägerin und der Beklagten bereits vor
169dem Schadensereignis schuldrechtliche Beziehungen bestanden,
170weil die Klägerin in den Schutz des damals zwischen ihren Eltern und
171der Beklagten bestehenden Mietverhältnisses miteinbezogen war
172(vgl. BGHZ NJW 68, 1323).
173Unter Abwägung all der genannten Umstände erscheint das
174Verschulden der Klägerin und ihrer Eltern schwerwiegender als
175die fahrlässige Pflichtverletzung der Beklagten. Nach Ansicht
176der Kammer stehen die verschiedenen Beiträge im Verhältnis
177von 3/5 zu 2/5 zueinander.
178Bei Berücksichtigung dieses Mitverschuldens und den bei dem
179Unfall erlittenen Verletzungen und dessen Folgen erscheint
180ein Schmerzensgeld von 8.000,00 DM angemessen. Dabei hat das
181Gericht auch besonders berücksichtigt, daß die Klägerin stets
182auf Hilfsmittel wie Stock oder orthopädische Schuhe an-
183gewiesen sein wird und daß ihr Gang stets stark hinkend
184bleibt. Gerade dies aber stellt für ein Kind eine erhebliche
185Beeinträchtigung der Lebensfreude dar. Hinzu kommt noch der
186erfolgte lange ''Krankenhausaufenthalt.
187Aus den oben genannten Gründen ist auch dem Feststellungs-
188antrag in dem dargelegten Umfang stattzugeben. Hinzu kommt
189dabei, daß neben dem Anspruch nach § 823 Abs. 1 BGB auch noch
190eine Verpflichtung der Beklagten nach § 538 BGB zum
191Schadensersatz besteht, weil die Klägerin in die Schutz-
192wirkungen des Mietvertrages ihrer Eltern mit der Beklagten
193einbezogen war. Zu der Mietsache, für deren Mängel die
194Beklagte nach § 538 BGB einzustehen hat, gehört nicht allein
195die Wohnung, sondern auch die damit zur Verfügung gestellten
196gemeinsam nutzbaren Sachen, wie die Spielwiese. Daß diese
197mangelhaft war und die Beklagte ihrer Mängelbeseitigungs-
198pflicht insoweit nicht nachkam, wurde bereits oben dargelegt.
199Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO,
200die über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Ziff.
20111, 709, 711 ZPO.
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Referenzen
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