Urteil vom Landgericht Dortmund - 1 S 72/94
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil
des Amtsgerichts Dortmund vom 22. Dezember 1993
wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.
1
Tatbestand
2Der Kläger ist bei der Beklagten krankenversichert.
3Dem Versicherungsvertrag liegen die Tarifbedingungen
4der Beklagten BT I/35 und die Musterbedingungen 1976
5des Verbandes der privaten Krankenversicherungen ( MB/KK 76)
6zugrunde.
7Die mitversicherte Tochter des Klägers ist geistig und
8körperlich erheblich behindert aufgrund einer frühkind-
9lichen Hirnschädigung. Die Tochter kann mühsam gehen,
10ohne jedoch weite Strecken bewältigen zu können. Sie
11ist nicht in der Lage, einen Rollstuhl, den sie bisher
12nicht besitzt, selbständig zu bedienen.
13Dar Kläger beabsichtigt, für seine Tochter einen "Rollfiets"
14anzuschaffen. Hierbei handelt es sich um einen Fahrrad-.
15Rollstuhl, einen Rollstuhl, der auf der Rückseite mit
16einem abtrennbaren Fahrradantrieb verbunden ist. Auf-
17grund ärztlichen Attestes vom 22.06.1992 wurde die Ver-
18sorgung mit einem " Rollfiets " empfohlen.
19Nachdem die für den Kläger zuständige Beihilfestelle
20die Kostenübernahme in Höhe von 65 % bewilligt hatte,
21begehrt der Kläger die weitere Kostenübernahme durch
22die Beklagte in Höhe von 35 %.
23Gemäß BT l (B) 4. der vereinbarten Versicherungsbedingungen
24werden die Kosten für Hilfsmittel in einfacher Ausführung
25erstattet. Nach dieser Bestimmung sind "Hilfsmittel,
26technische Mittel oder Körperersatzstücke (kein Zahner-
27satz), die Behinderungen, Krankheits- oder Unfallfolgen
28mildern oder ausgleichen sollen, ausgenommen Heilapparate
29und sonstige sanitäre oder medizinisch-technische Bedarfs-
30artikel " .
31Der Kläger war der Ansicht, daß ein Rollfiets ein Hilfs-
32mittel im Sinne der Versicherungsbedingungen sei und
33folglich eine anteilige Kostenübernahme durch die Beklagte
34zu erfolgen habe.
35Der Kläger hat beantragt,
36festzustellen,
37daß die Beklagte aus dem Versicherungsvertrag
38vom O1.01.1990, Versicherungs-Nr.: 18.0026872.5
39verpflichtet ist, die Kosten für einen Rollfiets
40in Höhe von 2.669,06 DM zu erstatten.
41Die Beklagte hat beantragt,
42die Klage abzuweisen.
43Sie war der Ansicht, daß die Hilfsmitteleigenschaft des
44Rollfiets nicht bestünde, da hierdurch eine körperliche
45Behinderung nicht unmittelbar gemildert oder ausgeglichen
46werde.
47Durch Urteil vom 22.12.1993 hat das Amtsgericht Dortmund
48der Klage stattgegeben und zur Begründung ausgeführt,
49daß ein Rollfiets ein Hilfsmittel im Sinne der Tarif-
50bedingungen der Beklagten sei.
51Gegen dieses Urteil, das der Beklagten am 14.01.1994
52zugestellt worden ist, hat diese mit einem am 11.02.1994
53beim Landgericht Dortmund eingegangenen Schriftsatz
54Berufung eingelegt und diese mit einem am 04.03.1994
55beim Landgericht Dortmund eingegangenen Schriftsatz
56begründet.
57Die Beklagte und Berufungsklägerin nimmt auf ihr erst-
58instanzliches Vorbringen Bezug. Nachdem sie erstinstanzlich
59die medizinische Notwendigkeit des Rollfiets unstreitig
60stellte, bestreitet sie diese nun wieder.
61Die Beklagte und Berufungsklägerin beantragt,
62das Urteil des Amtsgerichts Dortmund vom
6322.12.1993 abzuändern und die Klage abzuweisen.
64Der Kläger und Berufungsbeklagte beantragt,
65die Berufung zurückzuweisen.
66Der Kläger und Berufungsbeklagte nimmt auf sein erstinstanz-
67liches Vorbringen Bezug. Er ist der Ansicht, daß die Be-
68klagte gem. §§ 532, 288, 290 ZPO an ihre Erklärung zur
69medizinischen Notwendigkeit des Rollfiets gebunden sei.
70Darüber hinaus sei die medizinische Notwendigkeit gegeben,
71da das Rollfiets folgende Funktionen für die Tochter er-
72fülle: . ,
73-Es ermögliche die Befriedigung des elementaren Grundbe-
74dürfnisses auf Bewegung und Kontakt mit der Natur und
75Umwelt;
76-es helfe bei der Entwicklung des Gleichgewichtsgefühls
77dadurch, daß die Tochter des Klägers die beim Radfahren
78übliche Bewegung mitmachen müsse;
79-es fördere die Integration in Familie und Umwelt.
80Entscheidungsgründe
81Die zulässige Berufung ist nicht begründet.
82Dem Kläger steht aufgrund des abgeschlossenen Krankenver-
83sicherungsvertrages gegen die Beklagte ein Anspruch auf
84anteilige Kostenübernahme für die Anschaffung eines
85Rollfiets in Höhe von 2.669.06 DM zu.
86Der dahingehende Feststellungsantrag des Klägers ist be-
87gründet, weil die Beklagte zur Kostenerstattung
88verpflichtet ist.
89Ein Rollfiets ist ein Hilfsmittel im Sinne der vereinbarten
90Allgemeinen Versicherungsbedingungen. Hiernach sind Hilfs-
91mittel technische Mittel oder Körperersatzstücke (kein
92Zahnersatz), die Behinderungen, Krankheits- oder Unfallfolgen
93mildern oder ausgleichen sollen, ausgenommen Heilapparate
94und sonstige sanitäre oder medizinisch-technische Bedarfs-
95artikel. Ein Rollfiets ist ein technisches Mittel, welches
96eine Behinderung ausgleichen soll.
97Der Kläger kann mit Hilfe des Rollfiets seine stark bewegungs
98behinderte Tochter bewegen und transportieren. Damit werden
99deren behinderungsbedingte Nachteile teilweise ausgeglichen.
100Zwar kann nicht Jedes Transportmittel für einen Behinderten
101als Hilfsmittel angesehen werden. Vielmehr bedarf die Hilfs-
102mitteldefinition insoweit einer Einschränkung, die sich am
103Sinn und Zweck des Versicherungsvertrages orientiert.
104Dabei ist entscheidend, daß mit dem Hilfsmittel die Be-
105hinderung unmittelbar ausgeglichen oder gemindert wird.
106Hierfür reicht es aus, daß das Hilfsmittel von vornherein
107und im wesentlichen darauf angelegt ist, dem Behinderten
108die allgemeine Lebensführung zu erleichtern. Dies ist
109vorliegend der Fall.
110Daß die Tochter des Klägers aus
111Sicherheitsgründen im Rollfiets fixiert wird und auch
112den Rollstuhlteil nicht selbständig zu Hilfe nehmen
113kann, sondern auf eine Hilfsperson angewiesen ist, ist
114unerheblich. Auch wenn der Rollfiets dem Kläger die
115Pflege seiner Tochter erleichtert und insoweit auch
116ein Pflegemittel ist, so dient und hilft der Rollfiets
117primär seiner Tochter. Würde man dagegen bei
118Gewährung eines Hilfsmittels auf die selbständige Be-
119Nutzung durch den Behinderten abstellen, so würde dies zu dem nicht tragbaren
120Ergebnis führen, daß gerade für Schwerstbehinderte,
121die völlig bewegungsunfähig sind, kein ( Bewegungs-)
122Hilfsmittel zur Verfügung stünde.
123Die Versorgung mit einem Rollfiets ist für die Tochter
124des Klägers auch medizinisch notwendig. Daß die Be-
125klagte die medizinische Notwendigkeit erstinstanzlich
126unstreitig stellte, führte nicht zur Bindungswirkung
127gem. §§ 532, 288, 290 ZPO. Ein Geständnis muß unbedingt
128und unzweifelhaft abgegeben werden. Die Beklagte wollte
129erstinstanzlich mit ihrem Prozeßverhalten nur eine recht-
130liche Entscheidung zum Auslegungsproblem der Hilfsmittel-
131eigenschaft herbeiführen. Um eine Beweisaufnahme und
132weitere Verhandlungstage zu ersparen, wurde die medizinische
133Notwendigkeit zugestanden. Daß die Beklagte tatsächlich
134nicht von der medizinischen Notwendigkeit ausgeht, war
135jederzeit offensichtlich.
136Eine Beweisaufnahme über die medizinische Notwendigkeit
137ist jedoch entbehrlich. Denn das zur Grundversorgung
138eines stark bewegungsbehinderten und hirngeschädigten
139Patienten auch ein Rollstuhl gehört, ist evident.
140Das Grundbedürfnis auf Fortbewegung macht die Versorgung
141mit einem Rollstuhl zu einer medizinischen Notwendigkeit.
142Nur damit ist dem Behinderten eine Teilnahme am Leben
143und eine weitestgehende Integration in Familie und
144Gesellschaft möglich.
145wenn aber die Versorgung mit einem Rollstuhl medizinisch
146notwendig ist, dann ist sie es auch mit einem Rollfiets.
147Denn auch ein Rollfiets ist zunächst einmal ein Rollstuhl.
148der lediglich aufgrund des Fahrradschiebeteils einen
149erhöhten Anwendungsbereich besitzt. Es ist nicht ersicht-
150lich, warum ein Rollfiets nicht anstelle eines herkömm-
151lichen oder eines elektrisch betriebenen Rollstuhls
152zu erstatten ist, denn selbst
153einen elektrisch betriebenen Rollstuhl, der
154weitaus teurer als ein Rollfiets ist, würde die
155Beklagte einem Versicherten, der diesen elektrischen
156Rollstuhl benutzen könnte, gewähren.
157Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO
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Referenzen
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