Urteil vom Landgericht Dortmund - 3 O 255/03
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin nach einem
Streitwert von 7.367,73 €.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 %
des beizutreibenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
1
T a t b e s t a n d
2Die Klägerin nimmt die Beklagte aus übergegangenem Recht wegen eines
3Sturzes der bei ihr sozialversicherten N vom 14.09.2002
4in Anspruch.
5Die 1922 geborene Versicherte N lebt seit März 1999 im
6Altenheim T-Haus in J, das von der Beklagten be-
7trieben wird. Sie war sowohl zum Unfallzeitpunkt als auch heute als
8schwer pflegebedürftig in die Pflegestufe 2 eingruppiert.
9Frau N war bei ihrem Einzug im Heim desorientiert und dement.
10Weiterhin bestanden Einschränkungen im Stütz- und Bewegungsapparat,
11so dass sie Hilfe beim Aufstehen und Hinsetzen benötigte und auf Grund
12einer Wirbelsäulenerkrankung und einer Polyarthrose in Hüft- und Knie-
13gelenk im Wesentlichen nur noch mit Hilfe einer Pflegekraft gehen konnte.
14Im Juni 2002 erteilte das Amtsgericht Hamm auf Antrag der Beklagten die
15Genehmigung zur Anbringung eines Bettgitters für die Ruhezeiten.
16Die bei der Klägerin versicherte Frau N stürzte am 14.09.2002 um
1715.28 Uhr im Speisesaal beim Versuch, vom Stuhl aufzustehen. Dabei
18zog sie sich eine Schenkelhalsfraktur zu und wurde im Krankenhaus
19stationär behandelt.
20Die Klägerin forderte die Beklagte am 13.12.2002 schriftlich auf, die von
21ihr getragenen Aufwendungen in Höhe von 7.367,73 € auszugleichen.
22Sie behauptet, Frau N habe während ihres gesamten Heimaufent-
23haltes und auch noch zum Unfallzeitpunkt die Neigung gehabt, aufzu-
24stehen und wegzulaufen. Außerdem habe sie Schwierigkeiten gehabt,
25beim Sitzen das Gleichgewicht zu halten und sei auch schon des öfteren
26gestürzt.
27Sie beantragt,
28die Beklagte zu verurteilen, an sie 7.367,73 € nebst Zinsen in
29Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz seit dem 14.01.2003
30zu zahlen.
31Die Beklagte beantragt,
32die Klage abzuweisen.
33Sie stellt nicht in Abrede, dass Frau N zu Beginn ihres Aufenthalts
34im Altenheim dazu neigte, allein aufzustehen, behauptet dazu aber, dass
35sich diese Aufsteh- und Weglauftendenzen schon lange Zeit vor dem
36streitgegenständlichen Unfall nicht mehr gezeigt hätten. Im Gegenteil sei
37Frau N körperlich nicht mehr dazu in der Lage gewesen und habe
38zu allem angehalten werden müssen. Sie habe weder Schwierigkeiten
39beim Sitzen gehabt noch sei sie zuvor schon öfter gestürzt.
40Das Gericht hat Beweis erhoben durch uneidliche Vernehmung der
41Zeugen M, E, L, T2 und L2. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme
42wird auf das Sitzungsprotokoll vom 07.01.2004 Bezug genommen.
43E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
44Die Klage ist unbegründet.
45Der Klägerin steht kein Ersatzanspruch aus positiver Forderungsver-
46letzung des Heimvertrages in Verbindung mit §§ 278 BGB, 116 SGB X zu.
47Aus dem Heimvertrag der bei der Klägerin versicherten Frau N mit
48der Beklagten bestand die vertragliche Nebenpflicht, Frau Mertens vor
49vermeidbaren Schäden zu bewahren und Verletzungen auf Grund ihres
50körperlichen und geistigen Zustandes zu verhindern. Die Beweislast hin-
51sichtlich einer solchen Pflichtverletzung ist nach § 282 BGB a.F. nach
52Verantwortungsbereichen zu verteilen und trifft die Beklagte, wenn der
53Gläubiger in deren Herrschafts- und Organisationsbereich zu Schaden
54gekommen ist und die sie treffenden Vertragspflichten gerade dahin
55gingen, ihn vor solchen Schäden zu bewahren (vgl. dazu BGH VersR
561993, Seite 310, OLG Dresden, NJW RR 200, Seite 761). Dies setzt
57voraus, dass sich der Schadensfall in einem vom Personal voll beherrsch-
58baren speziellen Gefahrenbereich des Trägers der Einrichtung zugetragen
59hat, was nicht allein deshalb anzunehmen ist, weil der Unfall im Heim ge-
60schehen ist, sondern zusätzlich im Zusammenhang mit speziellen nach
61dem Heimvertrag erforderlichen Pflege- und Vorsorgemaßnahmen stehen
62muss. Ein Sturz beim Aufstehen fällt grundsätzlich nicht darunter, sondern
63gehört zum allgemeinen Lebensrisiko. Anders wäre es lediglich, wenn der
64Heimbewohner derart erkrankt oder gebrechlich ist, dass er für das
65Pflegeheim erkennbar nicht mehr gefahrlos allein am Tisch sitzen kann
66oder vor den Gefahren des Aufstehens ohne pflegerische Hilfe gestützt
67werden muss. Erst dann fällt diese Gefahr in den vom Träger der Ein-
68richtung, die insoweit Sicherungsmaßnahmen treffen muss, zu verant-
69wortenden Gefahrenbereich. Nach diesen Grundsätzen verblieb es nach
70Auffassung des Gerichts bei der Beweislast der Klägerin, weil die Frage
71der Aufstehtendenzen und Schwierigkeiten beim Sitzen streitig ist.
72Letztlich kommt es auf die zwischen den Parteien strittige Frage der Be-
73weislastverteilung nicht an. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme
74steht für das Gericht fest, dass die Beklagte ihre Vertragspflichten zum
75Schutz der Bewohnerin nicht verletzt hat. Das Ausmaß der Schutz- und
76Vorsorgepflichten des Pflegeheims bestimmt sich nach dem individuellen
77Grad der Behinderung oder Gebrechlichkeit der zu pflegenden Person
78einerseits und dem zumutbaren personellen Aufwand des Pflegeheims
79andererseits, wobei abzuwägen und zu berücksichtigen ist, welche Ein-
80griffe unter Berücksichtigung der Würde und des Persönlichkeitsrechts
81des alten Menschen als verhältnismäßig zu beurteilen sind. Ein möglichst
82hohes Maß an Sicherheit darf nicht durch übermäßigen Eingriff in das
83Selbstbestimmungsrecht eines Betroffenen herbeigeführt werden (OLG
84Hamm 34 U 56/02 Urteil vom 04.02.2003).
85Ausgehend von diesen Grundsätzen liegt nach dem Ergebnis der Beweis-
86aufnahme keine schuldhafte Pflichtverletzung vor. Danach bestanden bei
87der zu pflegenden Person schon seit einem Zeitpunkt lange vor dem
88streitgegenständlichen Unfall keinerlei Aufsteh- und Weglauftendenzen
89mehr. Das Verhalten der Bewohnerin hatte sich durch die stark zuge-
90nommene körperliche Schwäche und Demenz vielmehr ins Gegenteil ver-
91kehrt. Sie ist schon lange Zeit vor dem streitgegenständlichen Sturz nicht
92mehr allein aufgestanden und weggegangen und hat auch keinerlei Ten-
93denzen gezeigt, dies, etwa durch geringe Vorwärtsbewegungen, zu ver-
94suchen. Zudem ist Frau N in der Zeit vor dem Unfall im Altenheim
95nie gestürzt und hatte entgegen den Behauptungen der Klägerseite auch
96keinerlei Schwierigkeiten, gerade und ohne Gleichgewichtsstörungen zu
97sitzen.
98All dies haben die Zeugen E, L, T2 und L2 überein-
99stimmend und glaubhaft, ausgesagt. Das Gericht hat keinerlei Anlass, an
100der Glaubhaftigkeit der Darstellungen der Pfleger und Pflegerinnen sowie
101des Betreuers L2 zu zweifeln. Die Aussagen sind in sich schlüssig
102und stimmen in allen wesentlichen Punkten überein. Soweit es geringe
103Abweichungen hinsichtlich der Art und Weise, wie Frau N zum Un-
104fallzeitpunkt zum Speisesaal gebracht wurde (Rollstuhl oder Rollator) gab,
105so ist dies zwei Jahre nach dem Unfallgeschehen verständlich und nach-
106vollziehbar. Es zeigt zudem, dass die Zeugen sich durchweg bemüht
107haben, sich zu erinnern und sich nicht im vorhinein abgesprochen haben.
108Die Zeugin M konnte zum Zustand der Frau N zum Zeit-
109punkt des Unfalls nichts sagen, so dass deren Aussage unergiebig war.
110Dass zu einem früheren Zeitpunkt Aufsteh- und Weglauftendenzen be-
111standen, haben die weiteren Zeugen ohne Umschweife eingeräumt und
112übereinstimmend zur weiteren Entwicklung erklärt, dass diese schnell
113nachgelassen und aufgehört hatten.
114Vor dem Hintergrund dieses Beweisergebnisses ist die Beklagte ihren
115Schutz- und Fürsorgepflichten voll nachgekommen. Es war für sie nicht
116vorhersehbar, dass Frau N entgegen ihren langjährigen Gewohn-
117heiten selbständig aufstehen würde. Frau N saß in einem festen
118Stuhl in sicherer Art und Weise am Tisch, der sich zudem in Sichtweite
119des Schwesternzimmers befand. Da sie ohne weiteres allein dort sitzen
120konnte und auch keine Aufstehtendenzen mehr gezeigt hatte, war es nach
121Auffassung des Gerichts im Spannungsverhältnis zwischen Freiheits- und
122Persönlichkeitsrechten des Heimbewohners nicht nur nicht zu bean-
123standen, die Bewohnerin nicht anzugurten oder sonstige Sicherungsmaß-
124nahmen zu ergreifen, sondern sogar geboten, von solchen Maßnahmen
125abzusehen. Wenn auch bei dementen Personen eine Restgefahr, dass sie
126unvermittelt aufstehen und stürzen, nie ausgeschlossen werden kann, so
127kann dies nicht dazu führen, dass man demente Heimbewohner aus
128äußerster Vorsicht und ohne konkreten Anhaltspunkt für solche Auf-
129stehtendenzen anschnallt oder in sonstiger Weise sichert. Wie die Zeugin
130M plastisch geschildert hat, würde dies lediglich dazu führen,
131dass die dementen Personen noch unruhiger und gefährdeter würden.
132Angesichts der Würde des alten Menschen kommt eine Fixierung nur bei
133greifbaren Anhaltspunkten für Gefahren und nicht bei einer ganz allgemein
134nicht ausschließbaren Restgefahr in Betracht. Eine völlige Sicherheit oder
135eine umfassende Beaufsichtigung durch Pflegekräfte kann nicht geleistet
136werden.
137Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91 Abs. 1, 709 ZPO.
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Referenzen
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