Urteil vom Landgericht Dortmund - 8 O 259/04
Tenor
Der Antrag des Verfügungsklägers auf Erlass einer
einstweiligen Verfügung wird unter Aufhebung der
Unterlassungsverfügung vom 18.05.2004 abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens werden dem Verfügungskläger
auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Verfügungskläger darf die Vollstreckung der
Verfügungsbeklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe
von 110 % des aufgrund dieses Urteils vollstreckbaren
Betrages abwenden, wenn nicht die Verfügungsbeklagte
vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des
jeweils beizutreibenden Betrages leistet.
1
T a t b e s t a n d
2Der Verfügungskläger ist ein eingetragener Verein, zu dessen satzungsmäßigen Aufgaben die Wahrung der gewerblichen Interessen seiner Mitglieder, insbesondere die Achtung darauf gehört, dass die Regeln des lauteren Wettbewerbs eingehalten werden. Er ist gemäß § 1 Ziffer 4 UKlaV als branchenübergreifend und überregional tätiger Wettbewerbsverband im Sinne von § 13 Abs. 5 Nr. 2 UKlaG, § 13 Abs. 7 UWG festgestellt.
3Gerichtsbekanntermaßen ist er klagebefugt in Sinne § 13 Abs. 2 Nr.
42 UWG; §§ 2, 3 Abs. 1 Nr. 2 UKlaG.
5Die Verfügungsbeklagte ist eine Tochtergesellschaft des Konzerns H. Sie vertreibt u.a. das Fertigprodukt „Vitamin E T ### “ mit der ausdrücklichen Bestimmung als Nahrungsergänzungsmittel. Auf der Packung und dem Beipackzettel heißt es u.a.:
6„Körper und Geist sind täglich durch Beruf, Freizeit und Umwelt-
7belastungen stark beansprucht. Um den täglichen Anforderungen gewachsen zu sein, benötigt der Organismus ausreichend Vitamin E.“
8„Zur Gesunderhaltung von Nerven und Muskeln ist eine ausreichend hohe Versorgung mit Vitamin E ebenso wichtig.“
9„Außerdem wirkt Vitamin E Umweltgiften wie schädlichen freien Radikalen entgegen.“
10„Zur gezielten Nahrungsergänzung bei erhöhtem Bedarf an Vitamin E.“
11Weiterhin sind auf dem Beipackzettel die nach der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie (Nem RL) 2002/46/EG erforderlichen Warnhinweise enthalten.
12Eine Kapsel des Präparats enthält 604 mg Vitamin E in Form von D‑alpha‑Tocopherol.
13Die Verfügungsbeklagte vertreibt weiterhin u.a. ein Präparat „Vitamin E ‚### O“ mit einer Dosierung von 400 mg Vitamin E sowie ein Kombinationspräparat von Vitamin E und Magnesium, das 335 mg Vitamin E enthält. Die zuletzt genannten zwei Mittel sind als Arzneimittel zugelassen, das streitgegenständliche Mittel nicht. Auf dem Markt existiert eine Vielzahl ähnlicher Produkte, die der Supplementierung mit Vitamin E dienen. Sie besitzen eine Dosierung von 97,3 mg bis 735,29 mg Vitamin E und sind sämtlich als Arzneimittel zugelassen. Wegen der Einzelheiten wird Bezug genommen auf Anlage A 14, zum Schriftsatz des Verfügungsklägers vom 14.06.2004.
14Der Verfügungskläger ist der Ansicht, wegen seiner hohen Dosierung und weil vergleichbare Präparate üblicherweise als Arzneimittel vertrieben würden, sei auch das Präparat „Vitamin E T ###.“ als Arzneimittel einzuordnen, und deshalb als Lebensmittel, zu denen auch Nahrungsergänzungsmittel zählen, ohne arzneimittelrechtliche Zulassung nicht verkehrsfähig.
15Der Verfügungskläger legt zur Glaubhaftmachung verschiedene Studien und Veröffentlichungen vor.
16Auf Antrag des Verfügungsklägers hat die Kammer unter dem 18.05.2004 eine entsprechende Unterlassungsverfügung erlassen, mit der der Verfügungsbeklagten untersagt wurde, das Produkt ohne Zulassung als Arzneimittel anzubieten und/oder zu vertreiben.
17Hiergegen hat die Verfügungsbeklagte Widerspruch eingelegt.
18Der Verfügungskläger beantragt,
19die einstweilige Verfügung vom 18.05.2004 zu bestätigen.
20Die Verfügungsbeklagte beantragt,
21den Antrag auf Erlass der einstweiligen Verfügung unter Aufhebung
22des Beschlusses vom 18.05.2004 abzuweisen.
23Sie bestreitet, dass eine pharmakologische Wirkung bzw. Risiken des Präparats wissenschaftlich hinreichend gesichert seien. Insoweit bezieht sie sich auf eine gutachterliche Stellungnahme der Prof. Dr. X vom 10.03.2004 (Anlage AG 3).
24Soweit ältere Präparate arzneimittelrechtlich zugelassen seien, beruhe dies auf der inzwischen aufgegebenen früheren Rechtsprechung des BGH, der bei einer Überschreitung der dreifachen empfohlenen Tagesdosis einem Wirkstoff regelmäßig pharmakologische Wirkungen beigemessen habe.
25Im Übrigen ist die Verfügungsbeklagte der Ansicht, der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung sei unzulässig, weil der Verfügungskläger sachfremde Zwecke verfolge. Dies ergebe sich daraus, dass er (unstreitig) inhaltsgleiche Anträge gegen die Firmen T und E gestellt habe. Der Verfügungskläger beabsichtige, den Vertrieb des Präparats flächendeckend zu verhindern.
26E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
27Der Antrag ist zulässig.
28Anhaltspunkte für Verwirkungsgründe sind nicht ersichtlich. Es steht dem Verfügungskläger frei, flächendeckend gegen den Vertrieb eines seiner Meinung nach nicht verkehrsfähigen Nahrungsergänzungsmittels zu kämpfen.
29Der Antrag ist jedoch nicht begründet.
30Deshalb ist die einstweilige Verfügung vom 18.05.2004 aufzuheben und der Antrag des Verfügungsklägers abzuweisen.
31I.
32Die Verfügungsbeklagte bezeichnet ihr Präparat ausdrücklich als Nahrungsergänzungsmittel. Als solches ist ein Vitamin E Präparat der vorliegenden Art, worüber die Parteien auch nicht streiten, gem. § 1 Abs. 1 erster Halbsatz LMBG, Artikel 2 Lebensmittel-BasisV (EG) 178/2002 grundsätzlich verkehrsfähig. Das vorliegende Präparat entspricht auch hinsichtlich seiner Zusammensetzung und der Aufmachung den Vorschriften der NemRL 2002/46/EG.
33II.
34Das Präparat wäre lediglich dann nicht als Lebensmittel verkehrsfähig, wenn es sich um ein Arzneimittel im Sinne des Gesetzes handeln würde (Artikel 1 (2) NemRL 2002/46/EG, § 1 Abs. 1 zweiter Halbsatz LMBG, Artikel 2 VO (EG) 178/2002) oder wenn sein Verzehr geeignet wäre, die Gesundheit zu schädigen (§ 8 Nr. 1, 2 LMBG). Beides lässt sich nicht feststellen.
35Nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 und 5 AMG und Artikel 1 Nr. 2 RL 2001/83/EG vom 06.11.2001, die inhaltlich im Wesentlichen übereinstimmen, liegt ein Arzneimittel dann vor, wenn das Mittel dazu bestimmt ist,
36- menschliche Krankheiten zu verhüten oder zu heilen
37- ...die menschlichen physiologischen Funktionen oder seelischen
38Zustände durch eine pharmakologische, ... Wirkung wieder herzu-
39stellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen ...
40Entscheidend für eine Einordnung als Lebensmittel oder Arzneimittel ist nach inzwischen gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung einschließlich derjenigen des EuGH die an objektive Merkmale anknüpfende überwiegende Zweckbestimmung des Mittels, wie sie sich für einen informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher darstellt (statt aller: BGH ZLR 2000, 375 ff. „L‑Carnitin“).
41a) Hinsichtlich Aufmachung und Vertriebsform des Präparats „Vitamin‑E T ###.” finden sich keine Anhaltspunkte, die gegen eine Einordnung als Lebensmittel (Nahrungsergänzungsmittel) sprechen könnten. Die Darreichung in Form von Kapseln ist heute für derartige Mittel durchaus üblich. Die Zweckbestimmung und die Indikationen, die sich aus Verpackung und Beipackzettel ergeben, deuten darauf hin, dass der ernährungsphysiologisch erforderliche Vitamin E‑Vorrat des menschlichen Körpers aufgefüllt werden soll. Das Produkt wird über Drogeriemärkte vertrieben. Die Aufmachung der Verpackung entspricht derjenigen, wie sie bei der Verfügungsbeklagten allgemein, d. h. auch für Nicht-Arzneimittel üblich ist.
42b) Allerdings sind vergleichbare Präparate, d. h. Vitamin E-Präparate
43höherer Dosierungen, bisher üblicherweise als Arzneimittel in Verkehr gebracht worden. Insofern dürfte sich eine entsprechende Verkehrsanschauung gebildet haben. Dies allein kann für eine Einordnung des vorliegenden Präparats als Arzneimittel jedoch nicht ausschlaggebend sein. Bis etwa Anfang des Jahres 2000 stand die höchstrichterliche Rechtsprechung auf dem Standpunkt, ein Arzneimittel liege regelmäßig dann vor, wenn die Dosierung des Präparats die dreifache empfohlene Tagesdosis überschreite. Diese Rechtsprechung dürfte die Praxis entscheidend geprägt haben, woraufhin üblicherweise für entsprechende Mono- und Kombinationspräparate eine arzneimittelrechtliche Zulassung beantragt wurde. Bei einer Änderung der Sach- und Rechtslage muss es jedoch einem Hersteller möglich sein, diese Praxis zu ändern und damit dem Wandel der Anschauungen Rechnung zu tragen.
44c) Demzufolge ist im vorliegenden Falle maßgeblich darauf abzustellen,
45ob die Dosierung von 604 mg natürlichem Vitamin E pharmakologische Wirkung entfaltet (so auch Art. 1 Nr. 2 b RL 2001/83-EG, zuletzt geändert durch RL 2004/27/EG vom 31.03.2004). Der informierte verständige Verbraucher wird nämlich von der pharmakologischen Wirkung von Vitaminen, die nach allgemeiner Überzeugung zu den Nahrungsmitteln zählen, erst dann ausgehen, wenn eine solche Wirkung für eine erhöhte Dosierung nachgewiesen ist. Ansonsten wird er die Vorstellung haben, dass eine Dosierung, die die empfohlene Tagesmenge übersteigt, im Zweifel lediglich ernährungsphysiologisch überflüssig ist.
46Nach Aktenlage lässt sich nicht mit der für eine Entscheidung im
47Sinne des Verfügungsklägers erforderlichen Sicherheit davon ausgehen, dass im vorliegenden Falle eine derartige pharmakologische Wirksamkeit des streitgegenständlichen Vitamin E-Präparats vorliegt.
48Dem Verfügungskläger ist zwar darin zuzustimmen, dass die Supplementierung einer Tagesdosis von 604 mg ernährungsphysiologisch im Normalfall sinnlos ist. So empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) 12 mg täglich. Aus Anlage 1 der Nährwert-KennzVO ergeben sich 10 mg. Zum Zwecke der Primärprophylaxe werden maximal 100 mg für „adäquat“ gehalten (Dr. Biesalski laut Zeitschrift Pharmazie 2002, 44-45). Das Scientific Committee on Food (SCF) der europäischen Kommission setzt in seinem Gutachten vom 04.04.2003 (Anlage A 8) die tolerierbare obere Aufnahmegrenze (UL) für
49Vitamin E mit rund 300 mg pro Tag an.
50Danach stellt die Dosierung von 604 mg im vorliegenden Falle ein starkes Indiz dafür dar, dass eine pharmakologische Wirkung erzielt werden könnte, nicht weniger – aber auch nicht mehr. Angesicht der ambivalenten Wirkungsweise von Vitaminen im menschlichen Körper spricht für eine derartige Wirksamkeit angesichts hoher Dosierungen nicht ohne weiteres eine Vermutung, sie muss festgestellt sein.
51Aus der vom Verfügungskläger vorgelegten CHAOS-Studie (Cambridge Heart Antioxydant Study) von 1996 (Anlage A 17) ergibt sich insoweit eine positive präventive Wirkung von Vitamin E ab Dosierungen von 400 I. E. pro Tag bei manifester koronarer Arteriosklerose. Nach einer Doppelblindstudie von Wittenborg u. a. aus dem Jahre 1998 erwies sich eine Therapie mit 3 x 400 mg RRR-alpha-Tocopherol-acetat/d als Alternative zu dem Wirkstoff Diclofenac-Natrium bei chronischer Polyarthritis (Anlage A 18). Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangte eine weitere Studie aus dem Jahre 1990 (Anlage A 20) bezüglich aktivierter Arthrose. Klein u. a. erzielten in einer Langzeitstudie (1985 bis 1988) an 22 Morbus-Bechterew-Patienten mit 400 mg D-alpha-Tocopherol gute Ergebnisse (Anlage A 19). Bei einer DIMDI Literaturrecherche in der ABDA Datenbank ermittelte der Verfügungskläger Angaben über „sichere Anwendungsgebiete“ für höhere Dosen Vitamin E bei der Therapierung von Mastopathie, Sichelzellenanämie, Thalassämie major, Tumor (als Begleittherapie), Fibroplasie und (krankhaftem) Vitamin-E-Mangel. Das SCF bezeichnet bei seinem Gutachten vom 04.04.2003 Dosen ab 200 mg als „pharmakologische Dosierungen“ (Ziffer 2.3). Weiterhin seien vereinzelt negative Auswirkungen höherer Dosierungen von Vitamin E auf die Gerinnungsfähigkeit des menschlichen Blutes festgestellt worden, insbesondere bei gleichzeitigem Mangel an Vitamin K.
52Der internationale Vitamin-E-Kongress in Boston (22. – 24.05.2004) verlautbarte (Anlage A 15) u. a. Vitamin E könne „... weitere, sehr komplexe Funktionen im Körper ausüben...“. Es „.... wurden auch Ergebnisse therapeutisch/klinischer Anwendung von Vitamin E vorgestellt“. Es handele sich um eine „pharmakologisch faszinierende Substanz“.
53d) Demgegenüber gelangt jedoch Prof. Dr. X in ihrem Gut-
54achten vom 10.03.2004 (Anlage AG 3) zu dem Ergebnis, die vorliegenden Studien ergäben keine (gesicherten) signifikanten pharmakologischen Wirkungen höherer Vitamin-E-Dosen. Bis zu Dosierungen von 1000 mg pro Tag sei der Wirkstoff im hohen Maße sicher und risikolos. Schwellenwerte für pharmakologische Wirksamkeit einerseits und Risiken andererseits seien weder wissenschaftlich noch seitens des Gesetzgebers festgestellt.
55Zwar wurde dieses Gutachten im Austrag der Herstellerin H erstellt. Seine Aussagen werden aber gestützt durch die seitens der Parteien dem Gericht vorgelegten Unterlagen:
56Das US-amerikanische Food and Nutrition Board setzt die tolerierbare obere Aufnahmegrenze mit 1000 mg pro Tag an. Das SCF führt in seinem Gutachten vom 04.04.2003 unter Ziffer 2.4 aus, dass eine pharmakologische Wirksamkeit von Vitamin E teils auf Vermutungen beruhe, teilweise (insbesondere bei koronaren Herzerkrankungen) bis dato wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden konnte. Aus nahezu sämtlichen Veröffentlichungen geht hervor, dass grundsätzlich von einer hohen Sicherheit des Wirkstoffes ausgegangen werden kann.
57In der ABDA-Datenbank (Anlage A 16 Seite 2 „substanzspezifische Pharmakologie“) wird die Wirksamkeit ebenfalls als ungesichert dargestellt.
58Schließlich gelangt auch der internationale Vitamin E-Kongress in Boston zu dem zusammenfassenden Ergebnis, weder die vielfachen Wirkmechanismen von Vitamin E noch das Potential dieser Substanz seien bisher verstanden worden. Angesichts der komplexen pharmakologisch/physiologischen Wirkungen seien von den anwesenden Wissenschaften keine generellen Dosisempfehlungen zur täglichen Supplementierung mit Vitamin E ausgesprochen worden.
59Angesichts der im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes anzustellenden pauschalen Prüfung der Sachlage ist die Kammer nicht mit der erforderlichen Sicherheit davon überzeugt, dass das vorliegende Präparat mit einer Dosierung von 604 mg natürlichem Vitamin E tatsächlich eine pharmakologische Wirksamkeit entfaltet, bzw. dass der durchschnittliche Verbraucher eine solche Wirksamkeit angesichts der konkreten Dosierung erwartet. Dies gilt insbesondere angesichts der Tatsache, dass seine ausdrückliche Bezeichnung als Nahrungsergänzungsmittel und die darüberhinausgehenden Zweckbestimmungen den Eindruck erwerken, das Produkt sei ausschließlich dazu bestimmt, den menschlichen Körper mit der ernährungsphysiologischen erforderlichen Menge an Vitamin E zu versorgen, bzw. den Vorrat wieder aufzufüllen.
60III,.
61Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf den §§ 708 Nr. 6, 711 ZPO.
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