Urteil vom Landgericht Dortmund - 2 O 157/05
Tenor
Es wird festgestellt, dass die Unfallversicherung des Klägers
bei der Beklagten mit der Versicherungs-Nr. ###########
zu unveränderten Bedingungen fortbesteht und nicht aufgelöst
worden ist.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 %
des jeweils beizutreibenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
1
T a t b e s t a n d
2Der Kläger hat bei der Beklagten eine Unfallversicherung mit Beginn 01.08.1953 genommen. Dem Vertrag liegen die AUB 61 / 76 zugrunde. Zuletzt war der Kläger als niedergelassener Arzt berufstätig, als er am 22.06.1988 im ärztlichen Notdienst mit seinem Fahrzeug von der Straße abkam und vor einen Baum fuhr. Bei diesem Autounfall erlitt der Kläger eine Contusio cerebri, die eine 3monatige Amnesie sowie eine über 7monatige ärztliche Behandlung mit anschließender mehrmonatiger Rehabilitation nach sich zog. Im Mai 1995 attestierte der den Kläger nach dem Unfall von 1988 behandelnde Neurologe in einer ärztlichen Bescheinigung zur Vorlage beim Versorgungsamt ein schweres neuropsychiatrisches Defektsyndrom nach Contusio cerebri mit Dysarthrie und einer amnestischen Teilaphasie (Wortfindungsstörung) sowie eine leichte Hemiparese rechts mit Funktionseinschränkung auch des rechten Armes und der rechten Hand. Den Grad der Behinderung gab Professor Dr. T mit 100 % an. Noch 1995 erhielt der Kläger Leistungen nach der Pflegestufe 2 der Pflegeversicherung, seit 1996 nach der Pflegestufe 1.
3Wegen eines Unfalles vom 20.01.2002 erbrachte die Beklagte Leistungen aus der bestehenden Unfallversicherung. Nach einem weiteren Unfall vom 24.09.2003 lehnte die Beklagte die Erbringung von Versicherungsleistungen ab, nachdem ein von ihr eingeholtes orthopädisches Gutachten eine unfallbedingte Invalidität nicht bestätigen konnte. Mit Schreiben vom 10.11.2004 teilte die Beklagte dem Kläger sodann unter Bezugnahme auf § 5 Abs. 1 und 2 der vereinbarten AUB mit, dass seit dem 23.06.1988 keine Versicherungsfähigkeit mehr vorgelegen und der Versicherungsschutz für den Kläger zu diesem Zeitpunkt geendet habe. Da der Kläger sich gegen die Vertragsbeendigung wandte, teilte die Beklagte mit Schreiben vom 14.02.2005 mit, dass der Vertrag rückwirkend zum 01.01.1994 beendet sei, weil die versicherte Person dauernd vollständig (d.h. zu 100 %) arbeitsunfähig sei. Sie lehnte die Fortführung des Vertrages ab und erstattete dem Kläger die Beiträge ab Januar 1994.
4Mit der Klage will der Kläger den Fortbestand der Unfallversicherung festgestellt wissen.
5Er bestreitet, an einem schweren Nervenleiden zu leiden und behauptet, noch teilweise arbeitsfähig zu sein. Er vertritt die Auffassung, dass es der Beklagten verwehrt sei, sich auf einen etwaigen Wegfall der Versicherungsfähigkeit zu berufen, nachdem sie dies nach dem Unfall vom 20.01.2002 unterlassen und sogar Versicherungsleistungen erbracht habe.
6Der Kläger beantragt,
7festzustellen, dass das Versicherungsverhältnis bezüglich seiner Unfallversicherung bei der Beklagten mit der Versicherungsnummer ################## zu unveränderten Bedingungen fortbesteht und nicht aufgelöst worden ist.
8Die Beklagte beantragt,
9die Klage abzuweisen.
10Sie behauptet, der Kläger sei von einem schweren Nervenleiden befallen und zudem jedenfalls seit 1994 vollständig arbeitsunfähig.
11Das Gericht hat über die behauptete vollständige Arbeitsunfähigkeit Beweis erhoben durch Einholung von Sachverständigengutachten. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das neurologische Gutachten des Sachverständigen Professor Dr. T2 vom 09.08.2006, das elektrophysiologische Zusatzgutachten des Sachverständigen Dr. T3 vom 20.01.2006 sowie das neuropsychologische Zusatzgutachten der Sachverständigen Professor Dr. E vom 20.07.2006, wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien auf den vorgetragenen Inhalt der zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Sitzungsprotokolle Bezug genommen.
12E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
13Die Klage ist begründet.
14Das Versicherungsverhältnis zwischen den Parteien besteht auch über den 31.12.2003 hinaus fort, weil die Versicherungsfähigkeit des Klägers nach § 5 Abs. 1 AUB 61 nicht entfallen ist, so dass die auf Beendigung des Vertrages gerichtete Rechtsfolge des § 5 Abs. 2 Satz 2 AUB 61 nicht eingetreten ist.
15Nach § 5 AUB 61 sind Personen nicht versicherungsfähig, wenn sie von schweren Nervenleiden befallen oder dauernd vollständig arbeitsunfähig sind. Nach Abs. 2 der genannten Vorschrift endet der Vertrag, sobald der Versicherte versicherungsunfähig geworden ist.
161. Die Versicherungsfähigkeit des Klägers ist nicht erloschen, weil der Kläger von einem schweren Nervenleiden befallen ist. Das organische Psychosyndrom, welches beim Kläger attestiert worden ist, kann zwar als Nervenleiden verstanden werden, weil es sich um eine psychische Störung handelt, die infolge einer Schädigung des Gehirns aufgetreten ist. Damit ist durch das Leiden ein Teil des zentralen Nervensystems des Menschen betroffen, so dass die damit vorliegende Erkrankung des Gehirns auch von einem verständigen Versicherungsnehmer bei einem um Auslegung von § 5 Abs. 1 AUB 61 bemühten Verständnis dieser Vorschrift als Nervenleiden verstanden werden kann. Allerdings handelt es sich bei dem beim Kläger vorliegenden Psychosyndrom nicht um ein bedingungsgemäßes schweres Nervenleiden. Denn aus der Gleichstellung des schweren Nervenleidens mit Geisteskrankheit oder dauernder vollständiger Arbeitsunfähigkeit folgt, dass nur solche Nervenleiden als schwer im Sinne von § 5 Abs. 1 AUB 61 qualifiziert werden können, die progredient verlaufen oder unbeeinflussbar sind und damit zwangsläufig in einen lebensbedrohlichen Zustand, Siechtum oder gar zum Tode führen (OLG Frankfurt r + s 1997, 173 = zfs 1997, 225; Grimm Unfallversicherung 3. Aufl., § 3 Rn. 5; Prölss/Martin/Knappmann VVG 27. Aufl., § 5 AUB 61 Rn. 2; VersR-Handbuch / Mangen § 47 Rn. 113). Ein solch schweres Nervenleiden, welches bei multipler Sklerose, Alzheimer oder Chorea-Huntington im chronisch-progredienten Stadium angenommen werden kann, liegt durch das beim Kläger attestierte organische Psychosyndrom auch nach dem Vortrag der Beklagten nicht vor, so dass deswegen die Versicherungsfähigkeit des Klägers nicht entfallen ist.
17Selbst wenn das beim Kläger vorliegende organische Psychosyndrom als schweres Nervenleiden im Sinne von § 5 Abs. 1 AUB 61 zu qualifizieren wäre, könnte sich die Beklagte nicht mit Erfolg auf eine Beendigung des Unfallversicherungsvertrages berufen, da nach Auffassung der Kammer § 5 Abs. 1 AUB 61 wegen einer für den Versicherungsnehmer nachteiligen Abweichung von den §§ 16 ff., 23 ff. VVG insoweit unwirksam ist, als die Beendigung des Versicherungsvertrages als Folge eines Wegfalles der Versicherungsfähigkeit an Geisteskrankheit oder ein schweres Nervenleiden der versicherten Person geknüpft wird, ohne dass zugleich dauernde vollständige Arbeitsunfähigkeit vorliegt. Denn anders als beim Eintritt vollständiger dauernder Arbeitsunfähigkeit (vgl. BGH NJW-RR 1989, 604) handelt es sich beim Eintritt von Geisteskrankheit oder einem schweren Nervenleiden nicht um den Wegfall des versicherten Interesses, sondern um eine Gefahrerhöhung, die der Versicherer zum Anlass nimmt, entgegen den Regelungen in §§ 16 ff. und 23 ff. VVG unabhängig von einem Verschulden, einer Kündigung, von Fristen und Kausalität Leistungsfreiheit durch Vertragsbeendigung zu erreichen. Damit weicht § 5 Abs. 1 AUB 61 insoweit unzulässigerweise (§ 34 a VVG) von den Vorschriften der §§ 16 bis 29 a zum Nachteil des Versicherungsnehmers ab und ist deswegen unwirksam (Prölss/Martin/Knappmann a.a.O. Rn. 2). Die von Grimm a.a.O. Rn. 1 vertretene Gegenauffassung, die auch bei fehlender Versicherungsfähigkeit wegen Geisteskrankheit oder schwerem Nervenleiden einen dem Grundgedanken des § 68 VVG entsprechenden Wegfall des versicherten Interesses sieht, kann sich auf BGH NJW-RR 1989, 604 nicht berufen, da diese Entscheidung ausdrücklich nur die fehlende Versicherungsfähigkeit bei dauernder völliger Arbeitsunfähigkeit betrifft und zu einem Wegfall des versicherten Interesses gelangt, weil die AUB 61 gerade die Arbeitsfähigkeit der versicherten Person versichern. Dieser Gesichtspunkt trifft aber auf die anderen Alternativen des § 5 Abs. 1 AUB 61 wie Geisteskrankheit oder schweres Nervenleiden gerade nicht zu.
182. Eine dauernde vollständige Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung für den Wegfall der Versicherungsfähigkeit des Klägers nach dem 31.12.1993 hat die Beklagte nicht bewiesen. Die dazu eingeholten schriftlichen Sachverständigengutachten haben nicht ergeben, dass der Kläger im Zeitraum ab 1994 auf Dauer außer Stande gewesen ist, eine Erwerbstätigkeit auszuüben. Nach dem Hauptgutachten Professor Dr. T2 hat eine Kernspintomografie vom Kopf des Klägers keinen Nachweis eines kontusionsbedingten Hirnsubstanzdefektes ergeben. Ebenso wenig haben sich Hinweise für eine parenchymatöse Blutung finden lassen. Ferner fehlen Hinweise für eine parenchymatöse Schädigung oder eine Hirnparenchymblutung. Das neuropsychologische Zusatzgutachten von Professor Dr. E hat einerseits relativ zur Altersnorm signifikante Aufmerksamkeits- und Konzentrationsdefizite bei gesteigerten Anforderungen an die kognitive Leistungsfähigkeit, vor allem unter hohem Zeitdruck, andererseits in den übrigen kognitiven Bereichen ein normgerechtes oder gar überdurchschnittliches Leistungsvermögen ergeben. Da der Kläger über ein weit überdurchschnittliches allgemeines intellektuelles Leistungsvermögen verfügt, kann davon ausgegangen werden, dass ihn dieses Leistungsvermögen in die Lage versetzt, kompensatorische Strategien zu entwickeln, die zu einer Reduktion bzw. Minderung kognitiver Einschränkungen im Verhältnis zur Altersnorm geführt haben. Aus diesen Erkenntnissen hat der Sachverständige Professor Dr. T2 gefolgert, dass bei einem im Wesentlichen stabilen Befund seit 1995 unter Berücksichtigung der derzeitigen klinischen und neuropsychologischen Befunde insbesondere wegen fehlendem Nachweis einer traumatischen parenchymatösen Hirnschädigung zu keinem Zeitpunkt seit dem 01.01.1994 von einer Erwerbsunfähigkeit des Klägers ausgegangen werden kann.
19Da somit die Versicherungsfähigkeit des Klägers nicht erloschen ist, hat auch der Unfallversicherungsvertrag zwischen den Parteien keine Beendigung gefunden, so dass dessen Fortbestand antragsgemäß festzustellen war.
20Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 709 ZPO.
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