Urteil vom Landgericht Dortmund - 2 O 451/08
Tenor
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger wegen des Schadensereignisses vom 11.06.2006, Schaden-Nr. ##.###.###,#,###,##,#1 bedingungsgemäßen Haftpflichtversicherungsschutz zu gewähren.
Die Beklagte wird ferner verurteilt, an den Kläger 1.383,42 € (i. W.: eintausenddreihundertdreiundachtzig 42/100 Euro) (vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten) zu zahlen.
Die Kosten des Rechtsstreits werden der Beklagten auferlegt.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des jeweils beizutreibenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
1
T a t b e s t a n d:
2Der Kläger nimmt die Beklagte aus einer bei dieser genommenen Haftpflichtversicherung in Anspruch, welcher die AHB 86 zugrundeliegen.
3Am 11.06.2006 kam es gegen 1.45 Uhr nachts im Festzelt des Schützenfestes J zu einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen dem Zeugen N und dem Kläger, welcher Linkshänder ist. Der Kläger hatte vor Beginn der Auseinandersetzung einen Bierkrug in der linken Hand. Er schlug den Zeugen N, wobei der Bierkrug – 0,3 l fassend und
4bestehend aus Glas mittlerer Dicke – in dessen Gesicht zerbarst und dieser sich u.a. eine schwere Augenverletzung zuzog.
5Die Untersuchung des Blutes des Klägers ergab für den Entnahmezeitpunkt 03.00 Uhr einen BAK-Wert von 1,44 ‰ (und für 03.32 Uhr einen BAK-Wert von 1,33 ‰). Das gegen den Kläger geführte Strafverfahren wegen gefährlicher Körperverletzung wurde am 16.04.2007 gemäß § 47 Abs. 1 JGG vorläufig und sodann nach Erfüllung einer Auflage (80 Stunden Hilfsdienst) endgültig eingestellt.
6Der Zeuge N nahm den Kläger zivilrechtlich in Anspruch, u.a. machte er ein Schmerzensgeld in Höhe von 32.500,00 € geltend. Wegen der weiteren Einzelheiten der geltend gemachten Ansprüche wird auf die Schreiben des Rechtsanwaltes des Zeugen N vom 29.04.2008 sowie 06. Februar 2008 (Anlagen K 6a, b zur Klageschrift) Bezug genommen. Daneben machte die gesetzliche Krankenversicherung des Zeugen N gegenüber dem Kläger Ansprüche aus übergegangenem Recht in Höhe von 4.252,23 € geltend. Wegen der Einzelheiten des Anspruchsschreibens wird auf die Anlage K 7 zur Klageschrift Bezug genommen.
7Die Beklagte lehnte mit Schreiben vom 24.04.2008 die Gewährung von Versicherungsschutz unter Berufung auf § 4 II. 1. AHB 86 (vorsätzliche Herbeiführung des Schadens) ab.
8Der Kläger behauptet, der Zeuge N habe sich auf dem Schützenfest provokativ und aggressiv verhalten. Vor dem eigentlichen Vorfall habe der N etwa gegen 22.30 Uhr den Zeugen T blutig geschlagen.
9Kurz vor dem streitgegenständlichen Vorfall habe der N seine Schwester, die Zeugin S, zur Seite geschubst und als Hure beschimpft. Dieses habe der Kläger zwar aus einer Entfernung von einigen Metern mit angesehen, sich dennoch nicht eingemischt, weil er in keinster Weise auf eine Auseinandersetzung mit dem Zeugen N aus gewesen sei. Der Zeuge N wiederum habe den Kläger in der Nähe gesehen und mit den Worten angepöbelt: "Willst du auch was auf die Fresse haben, ich ficke deine Mutter, du Hurensohn." Als der Zeuge N immer näher gekommen sei, hätten sich jedoch die Freunde des Klägers zwischen die Kontrahenten gestellt. Der Zeuge T2 habe N zurückgezogen. Der Kläger habe dem Zeugen N entgegnet: "Du bist einfach nur lächerlich mit dem, was du hier abziehst". Daraufhin habe er sich weggedreht, um in das Festzelt zu gehen, weil er dem Zeugen N aus dem Weg gehen wollte. Der Zeuge N habe daraufhin auf den Kläger losgehen wollen, sei jedoch von seinem Freund, dem Zeugen T2, aus dem Zelteingangsbereich gezogen und vor dem Zelt auf den Boden geworfen worden, damit er sich erst mal beruhige. Damit sei für den Kläger die Sache im Grunde erledigt gewesen. Er habe keinen Streit mit dem Zeugen N gewollt und sei ins Bierzelt gegangen, wo er mit seinen Freunden ein Bier getrunken habe. Erst nach geraumer Zeit habe er aus dem Augenwinkel gesehen, dass jemand mit gesenktem Kopf auf ihn zustürme und habe im letzten Augenblick den Zeugen N erkannt. In dem Augenblick, als er den Zeugen N erkannte, habe er seine Hand mit dem Bierglas gehoben, um den auf ihn Zustürmenden abzuwehren. Allerdings sei der Kläger zu diesem Zeitpunkt bereits ebenfalls erheblich alkoholisiert gewesen, so dass seine Reaktionen deutlich verlangsamt gewesen seien. Bevor der Kläger den Angriff habe abwehren können, habe der Zeuge N ihm bereits eine Kopfnuss verpasst. Die Abwehrreaktion mit der Hand, in der der Kläger das Bierglas hielt, sei unmittelbar – weil verlangsamt – darauf erfolgt. Der Zeuge N sei daraufhin erst 2 bis 3 Meter zurückgetaumelt, bevor er wieder auf den Kläger losgestürmt sei und diesen mit der Faust ins Gesicht geschlagen habe. Der Kläger habe daraufhin noch zurückgeschlagen. Bevor der Zeuge N seinerseits wieder habe zurückschlagen können, sei er allerdings von seinem Freund, dem Zeugen T2, und einem anderen Bekannten von dem Kläger zurückgezogen worden. Der Kläger behauptet weiter, er habe nicht die geringste Vorstellung davon gehabt, wie sich in seiner damaligen Schocksituation des völlig unvermittelten Angriffes seine Abwehr gestaltete und dass er überhaupt ein Bierglas in der erhobenen Hand hielt, geschweige denn, welche Auswirkungen sein Schlag mit dem Bierglas haben könnte. Von der Realisierung des Angriffes N durch den Kläger bis zum Schlag sei lediglich ein Augenblick vergangen. In dieser kurzen Zeitspanne habe er nicht im geringsten die Möglichkeit gehabt, die Folgen eines Abwehrschlages mit einem Bierglas – dessen er sich noch nicht einmal bewusst war – auch nur im Ansatz auszumalen. Sein Abwehrschlag sei eine reflexartige Abwehrreaktion auf den unvermittelten Angriff des Zeugen N gewesen.
10Der Kläger beruft sich auf das Vorliegen einer Notwehrsituation. Die Tragweite des Abwehrschlages habe er auf Grund der Alkoholisierung nicht erkennen können. Für den Vorfallzeitpunkt sei von einer Mindest-BAK von 1,74 ‰ auszugehen.
11Der Kläger beantragt,
121. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihm wegen des Schadensereignisses vom 11.06.2006, Schaden-Nr. ##.###.###,#,###,##,#1 Haftpflichtversicherungsschutz zu gewähren,
132. ferner, die Beklagte zu verurteilen, an ihn vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 1.383,42 € zu zahlen.
14Die Beklagte beantragt,
15die Klage abzuweisen.
16Sie behauptet, der Zeuge N habe eine Kopfnuss nur angetäuscht und dann den Kläger, der die Augen geschlossen habe, mit der flachen Hand vor die Brust gestoßen.
17Der Kläger sei daraufhin zurückgestolpert. Dabei habe er mit voller Wucht das in seiner Hand befindliche 0,3 l-Bierglas, das halb gefüllt gewesen sei, in das Gesicht des Geschädigten N geschlagen. Der Kläger habe "richtig durchgezogen", wie es der Zeuge T2 bei der Polizei in M ausgesagt habe. Der Kläger habe dann noch einmal mit seiner Faust nachgeschlagen, so dass sich die Glassplitter im Gesicht des Zeugen N verteilt hätten. Diesen Schlag habe der Kläger gesetzt, um die Verletzungen noch weiter auszudehnen.
18Das Gericht hat Beweis erhoben durch uneidliche Vernehmung der Zeugen T, T3, L, S, M2, M3, L2, N, T2, H und U. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Protokolle der mündlichen Verhandlungen vom 11.06.2010, Blatt 98 ff. d.A. und 24.11.2010, Blatt 142 ff. d.A., Bezug genommen.
19E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
20Die zulässige Klage ist begründet.
21Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch gemäß § 1 Abs.1, S.1 VVG a.F. i.V.m. §§ 1 Nr. I, 3 Nr. II AHB auf Versicherungsschutz für den vorliegenden Versicherungsfall wegen der Inanspruchnahme aus Anlass des Vorfalles vom 11.06.2006. Die entsprechende Leistungspflicht der Beklagten war wie geschehen festzustellen, weil sich diese nicht mit Erfolg auf den Ausschluss aus § 4 Nr. II. 1.S.1 AHB berufen kann. Denn zum einen handelte der Kläger nicht rechtswidrig (hierzu im Folgenden: I). Zum anderen hat die Beklagte nicht bewiesen, dass der Kläger vorsätzlich im Sinne des vorgenannten Ausschlusses handelte (II).
22I.
23Der Kläger handelte nicht widerrechtlich, weil sein Handeln durch Notwehr geboten war, § 32 Abs. 1 StGB. Auch wenn in § 4 Nr. II. 1.S.1 AHB nicht explizit auf das Erfordernis der Widerrechtlichkeit hingewiesen wird, so ist doch das Vorliegen einer widerrechtlichen Handlung Voraussetzung für die Bejahung des Ausschlusses (allgemeine Ansicht: Prölss/Martin, VVG, 28. Aufl., § 103 Rn. 1 und Nr. 7 AHB 2008, Rn. 4; Römer/Langheid, VVG, 2. Aufl., § 152, Rn. 11 m.w.N.).
24Die Voraussetzungen des § 32 StGB liegen vor.
251.
26Der Kläger wurde von dem Zeugen N angegriffen. Unter einem Angriff ist die unmittelbare Bedrohung rechtlich geschützter Güter durch menschliches Verhalten zu verstehen. Ein Verhalten, das nur bedrohlich erscheint, dies aber in Wirklichkeit nicht ist, ist kein Angriff. Ein Scheinangriff fällt daher nicht unter den Begriff des Angriffes im Sinne des § 32 StGB (Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl., § 32, Rn. 3 und 27 m.w.N.). Das Gericht ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme davon überzeugt, dass der Zeuge N den Kläger mittels eines Kopfstoßes in dessen Gesicht tatsächlich angegriffen hat. Dies folgt aus den glaubhaften Bekundungen der Zeugen T3, L2, H, M3 und M2 sowie weiteren Indizien.
27Die vorgenannten Zeugen haben übereinstimmend von einem Kopfstoß gegen den Kläger berichtet. Die Zeugin T3 hat geschildert, dass der Kläger und der Zeuge N sich gegenüberstanden und sodann der Kopfstoß des N erfolgte. Die glaubwürdige Zeugin hat das Geschehen plausibel geschildert. Sie hat durchaus differenziert ausgesagt, indem sie angab, welche Teile der Auseinandersetzung sie mitbekam und welche nicht. Eintrübungen der Wahrnehmungsfähigkeit bei ihr waren nicht ersichtlich. Denn die Zeugin hat glaubhaft bekundet, bis zu dem Zeitpunkt der Auseinandersetzung noch keinen Alkohol getrunken zu haben. Die Bekundungen der Zeugin stehen im Kern auch im Einklang mit den Bekundungen der weiteren vorgenannten Zeugen. Be- oder Entlastungstendenzen waren nicht ersichtlich. Die Bekundungen der Zeugin stehen auch im Einklang mit ihren Bekundungen in der Hauptverhandlung des Strafverfahrens.
28Den Kopfstoß des Zeugen N hat auch die Zeugin H bestätigt. Auch ihre Angaben waren glaubhaft. Die Zeugin hat nachvollziehbar geschildert, dass der Zeuge N eine "enorme Kraft" in den Oberkörper legte. Auch sie hat das Randgeschehen im Kern ähnlich geschildert, wie die übrigen vorgenannten Zeugen. Auch die Zeugin H hat den Kopfstoß bereits im Strafverfahren bekundet. In Übereinstimmung mit den anderen Zeugen schildert auch die Zeugin H den Kopfstoß als den ersten Akt der körperlichen Auseinandersetzung.
29Der Kopfstoß wird ferner bekundet von der Zeugin L2, wenn diese auch angab, an dem Abend schon einiges getrunken zu haben. Sie hat betont, dass sie sich jedenfalls an das Kerngeschehen noch hinreichend zu erinnern vermochte.
30Indiziell stützen auch die glaubhaften Angaben des Zeugen M3 die Annahme, dass der Zeuge N dem Kläger einen Kopfstoß versetzte. Zwar hat der Zeuge M3 nur gesehen, dass der Kopf des Klägers zurückging, ohne dass er in der Lage war, zu erklären, ob dieses etwa wegen eines Faustschlages oder einer Kopfnuss des N erfolgt ist. Dass der Zeuge jedoch überhaupt die Kopfbewegung wahrgenommen hat, spricht in der Zusammenschau mit den Bekundungen der vorgenannten Zeugen und den weiteren, noch zu würdigenden Indizien für den Angriff mittels Kopfstoß. Auch die Bekundungen dieses Zeugen waren glaubhaft. Der Kläger ist zwar ein Bekannter von ihm, jedoch ist er mit ihm nicht freundschaftlich verbunden. Für die Glaubhaftigkeit spricht, dass auch dieser Zeuge differenziert aussagte und Be- oder Entlastungstendenzen nicht erkennen ließ. Letztlich stehen auch die Bekundungen des Zeugen M2 mit vorstehenden Aussagen im Einklang. Auch der Zeuge M2 hat die Kopfnuss bestätigt. Auch wenn der Zeuge M2 angegeben hat, mit dem Kläger befreundet zu sein, so kann dessen Aussage allein deshalb ein Beweiswert nicht abgesprochen werden. Denn im Übrigen fügt sich die Aussage zwanglos in die Schilderungen der vorgenannten Zeugen ein. Danach gab es zunächst eine verbale Auseinandersetzung und sodann einen Angriff auf den Kläger mittels einer Kopfnuss des Zeugen N.
31Das Beweisergebnis wird zudem gestützt durch die von dem Zeugen U festgestellten Verletzungen des Klägers. Der Zeuge U hat als diensthabender Notarzt im B-Krankenhaus M4 den Kläger nach dem Vorfall untersucht. Dabei hat er festgestellt, dass bei dem Kläger – neben verschiedenen Schnittverletzungen der linken Hand – ein mäßiges Hämatom an der oberen linken Augenhöhle und Verletzungen an der Innenseite der Lippe vorlagen. Diese Verletzungsbilder stehen im Einklang mit der Annahme, dass es einen Kopfstoß gegeben hat. So hat der (sachverständige) Zeuge U weiter erläutert, dass der Bluterguss durchaus durch die Kopfnuss entstanden sein kann und die Verletzungen mit den Erklärungen des Klägers, eine Kopfnuss erhalten zu haben, plausibel gewesen seien. Auch die weitere Kopfverletzung, die 1 mm große Läsion an der Ober- und Unterlippe rechts frontal, lässt sich dann weiter mit dem unstreitigen Geschehen in Einklang bringen. Danach hat der Kläger nach dem von ihm geführten Schlag noch einen Faustschlag des N hinnehmen müssen.
32Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger sich die Verletzungen etwa selbst beigebracht haben könnte, um eine Notwehrhandlung zu konstruieren, ergeben sich nicht.
33Zudem spricht auch das von dem Zeugen T glaubhaft geschilderte Verhalten des Zeugen N dafür, dass dieser dem Kläger tatsächlich eine Kopfnuss versetzte. Der Zeuge T hat bekundet, an dem Abend von dem Zeugen N grundlos angegriffen und auch verletzt worden zu sein, so dass er eine Platzwunde am Auge davontrug. Ein (verbal) aggressives Verhalten des Zeugen N wurde auch von einem Teil der zuvor genannten Zeugen bestätigt, so dass an der aggressiven Grundhaltung des Zeugen N an dem Vorfallstag keine ernsthaften Zweifel bestehen.
34Letztlich hat auch der Kläger dem Zeugen T noch in der Tatnacht von der "Kopfnuss" des Zeugen N berichtet. Dies folgt aus den glaubhaften Bekundungen des Zeugen T in Verbindung mit dessen Angaben gegenüber dem Polizeikommissariat M am 12.07.2006 ( Beiakte, Band II, Blatt 64). Danach hat der Kläger dem Zeugen T erklärt, er habe eine "Kopfnuss" von dem Zeugen N erhalten und dann selbst "reflexartig" gehandelt.
35Nach alledem bestehen keine vernünftigen Zweifel, dass der Kläger von dem Zeugen N mittels eines Kopfstoßes angegriffen wurde. Etwas anderes folgt insbesondere nicht aus den Bekundungen des Zeugen N. Bereits die Glaubwürdigkeit des Zeugen begegnet Bedenken. So ist er nach seinen Angaben wegen Drogendelikten und Widerstandes gegen die Staatsgewalt zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Auch ist seine Bekundung, er schließe aus, dass er dem Kläger eine Kopfnuss gegeben habe, nicht glaubhaft. Es ist schon nicht ersichtlich, mit welcher Berechtigung der Zeuge dieses "ausschließen" will, nachdem er einräumte, eine Auseinandersetzung mit dem Zeugen T gehabt zu haben, wobei nach dessen Bekundungen zur Überzeugung des Gerichtes feststeht, dass dieser grundlos von dem Zeugen N angegriffen und im Gesicht verletzt wurde. Auch wurde nicht deutlich, warum der Zeuge das Geschehen unmittelbar vor dem erhaltenen Schlag mit dem Bierglas nicht aus eigener Anschauung erklären konnte. So hatte er noch eine Erinnerung daran, die Zeugin S beleidigt zu haben. An den Beginn der körperlichen Auseinandersetzung will er sich jedoch nicht mehr erinnern können. Nimmt man hinzu, dass der Zeuge N ein erhebliches Eigeninteresse am Ausgang dieses Rechtsstreits hat, weil dieser präjudiziell für das schwebende zivilrechtliche Verfahren mit dem Kläger sein kann, so vermag das Gericht der Aussage des Zeugen N keinerlei Beweiswert zuzuerkennen.
36Die Behauptung der Beklagten, der Zeuge N habe eine Kopfnuss nur angetäuscht und dann den Kläger, der die Augen geschlossen habe, nur mit der flachen Hand vor die Brust gestoßen, ist nach alledem widerlegt. Soweit der Zeuge T2 bei seiner Vernehmung bei dem Polizeikommissariat M vom 04.07.2006 noch entsprechendes ausgesagt hatte (Beiakte, Band I, Seite 142), so hat der Zeuge T2 dies bei seiner Vernehmung vom 24.11.2010 vor dem erkennenden Gericht nicht mehr bekundet. Vielmehr hat er bekundet, der Zeuge N habe versucht, dem Kläger eine Kopfnuss zu geben, er wisse nicht, ob er den Treffer gelandet habe. Dies habe er nicht sehen können. Das abweichende Aussageverhalten mag seinen Grund darin finden, dass der Zeuge T2 nach seinen eigenen Bekundungen zur damaligen Zeit noch mit dem Zeugen N befreundet war, während nun seit 2 Jahren kein Kontakt mehr zu diesem bestünde. Für diese Deutung spricht auch, dass der Zeuge T2 den von dem Kläger geführten Schlag bei seiner polizeilichen Vernehmung als erheblich aggressiveren Akt schilderte, als bei seiner Vernehmung vor dem erkennenden Gericht.
37Der Angriff war auch noch gegenwärtig, als der Kläger sich verteidigte. Gegenwärtig ist der Angriff von seinem Beginn bis zu seiner Beendigung. Ein Angriff auf die körperliche Unversehrtheit dauert so lange fort, als eine Wiederholung der Verletzungshandlungen unmittelbar zu befürchten ist (Schönke-Schröder, a.a.O., Rn. 15; BGH NStZ 06, 153). Hieran gemessen ist ein gegenwärtiger Angriff des Zeugen N nicht zweifelhaft. Angesichts des festgestellten aggressiven Handelns des Zeugen N war nicht damit zu rechnen, dass dieser den Angriff auf den Kläger nach dem Kopfstoß beenden würde.
383.
39Der gegenwärtige Angriff des Zeugen N war auch rechtswidrig. Der Zeuge N handelte nicht seinerseits gerechtfertigt, als er dem Kläger den Kopfstoß versetzte. Etwaige herabsetzende Äußerungen des Klägers ("du bist so lächerlich") rechtfertigten keinen körperlichen Angriff durch den Zeugen N, zumal dieser zunächst selbst gegen den Kläger und dessen Schwester verbal aggressiv wurde. Bloße verbale Auseinandersetzungen begründen keinen Angriff (Schönke-Schröder, a.a.O. Rn. 14; BayOblG NJW 85, 2600).
404.
41Der von dem Kläger mit der linken Hand, in der er das Bierglas hielt, geführte Schlag stellte die erforderliche Verteidigung im Sinne des § 32 StGB dar. Verteidigung ist sowohl die rein defensive Abwehr des Angriffs (sogenannte Schutzwehr) als auch die Abwehr in Form eines Gegenangriffes (sogenannte Trutzwehr). Erforderlich ist die Verteidigung, wenn und soweit sie einerseits zur Abwehr des Angriffs geeignet ist und andererseits das relativ mildeste Gegenmittel darstellt. Besteht nur eine geeignete Abwehrmöglichkeit, so ist diese immer auch erforderlich. Gibt es dagegen mehrere, so muss die Verteidigung nach Art und Maß das relativ mildeste Gegenmittel sein. Maßgebend für die Bestimmung des relativen mildesten Gegenmittels sind die Stärke und Gefährlichkeit des Angriffs einerseits, die dem Angegriffenen zur Verfügung stehenden Verteidigungsmittel und –möglichkeiten und ihre Erfolgsaussichten andererseits, wobei die gesamten Umstände der "konkreten Kampflage", also auch solche, die in der Person der Beteiligten begründet sind – zu berücksichtigen sind. Bieten die verschiedenen Verteidigungsmittel unterschiedliche Erfolgschancen, so darf der Täter nicht auf dasjenige verwiesen werden, das für den Angreifer zwar weniger riskant ist, aber eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr nicht erwarten lässt (Schönke-Schröder, a.a.O., Rn. 29 ff. m.w.N.). Maßgebend bei der Beurteilung ist die Erforderlichkeit der Verteidigungshandlung und nicht diejenige des Abwehrerfolges. So kann die Benutzung einer Pistole als Schlagwaffe zur Verteidigung gerechtfertigt sein, auch wenn sich hierbei – unabsichtlich – ein Schuss löst und der Angreifer schwer verletzt wird (BGH NJW 1978, 955).
42An Vorstehendem gemessen war der von dem Kläger geführte Schlag zur Verteidigung erforderlich. Dem Kläger war es in der gegebenen Situation nicht zuzumuten, tatenlos weitere Angriffe des Zeugen N abzuwarten.
43Er durfte seinerseits zum Gegenangriff übergehen, um weitere Angriffe zu verhindern. Er kann auch nicht darauf verwiesen werden, zunächst das Bierglas aus der linken Hand zu entfernen, bevor er zum Schlag ausholte. Eine solche Handlung wäre mit einem Zeitverlust verbunden gewesen, mit der Folge, dass eher die Gefahr bestand, einen weiteren Schlag von dem Zeugen N zu erhalten. Hinzu kommt, dass der Kläger sich ohnehin nicht darauf verweisen lassen muss, den Schlag ohne das Glas in der Hand auszuführen. Die Ausführung des Gegenschlages mit dem Glas in der Hand versprach – auch ohne dass es im Gesicht des Zeugen N zersplittert wäre – die größere Gewähr dafür, dass der Angriff des Zeugen N abgewehrt werden konnte. Ein Zersplittern des Glases war im Hinblick auf dessen Beschaffenheit (0,3-Liter-Glas mittlerer Dicke) auch nicht als zwangsläufig vorherzusehen. Bei alledem bedarf es herausgehobener Beachtung, dass bei der Beurteilung der Frage, ob das relativ mildeste Mittel gewählt wurde, nicht auf den Erfolg der Handlung (hier: schwere Gesichtsverletzungen durch gesplittertes und gebrochenes Glas), sondern auf die Handlung selbst (hier: Schlag mit zunächst unversehrtem Glas) abzustellen ist.
445.
45Nach den vorstehend gewürdigten Umständen handelte der Kläger auch unzweifelhaft mit Verteidigungswillen. Für Entgegenstehendes ergeben sich keine Anhaltspunkte. Nach alledem liegen die Voraussetzungen des § 32 StGB vor. Der Kläger handelte nicht widerrechtlich.
466.
47Nur ergänzend weist das Gericht darauf hin, dass der Ausschluss auch dann zu verneinen sein dürfte, wenn der Kläger die tatsächlichen Voraussetzungen des Vorliegens des Rechtfertigungsgrundes der Notwehr nicht hätte beweisen können (und die Beklagte nicht deren Nichtvorliegen). Denn nach der wohl zutreffenden Auffassung ist der Versicherer für das Nichtvorliegen des Rechtfertigungsgrundes beweispflichtig (OLG Hamm Versicherungsrecht 2006, 781 mit ablehnender Anmerkung Weitzel; Prölss-Martin, a.a.O., Nr. 7 AHB 2008, Rd. 8; Schimikowski in Rüffer/Halbach/Schimikowski, VVG, 1. Auflage, Rd. 10; anderer Ansicht: Römer/Langheid, a.a.O., § 152, Rd. 11).
48II.
49Die Beklagte hat zudem nicht beweisen können, dass der Kläger vorsätzlich im Sinne des Ausschlusses des § 4 II. 1. S. 1 AHB handelte. Vorsatz ist das Wissen und Wollen des rechtswidrigen Erfolges. Der Vorsatz muss dabei anders als bei § 823 Abs. 1 BGB nicht nur die haftungsbegründende Verletzungshandlung sondern auch die Verletzungsfolgen umfassen (BGH Versicherungsrecht 1998, 1011; OLG Hamm Versicherungsrecht 1981, 789, OLG Hamm Versicherungsrecht 2006, 781; OLG Celle OLG-Report 2008, 63). Hierbei genügt auch bedingter Vorsatz. Dieser liegt vor, wenn der Täter den als möglich vorgestellten Erfolg in seinen Willen aufgenommen und für den Fall seines Eintritts gebilligt hat. Der Täter muss dabei die Folgen seines Handelns nicht in allen Einzelheiten vorausgesehen und in seinen Willen aufgenommen haben. Ausreichend ist es vielmehr, wenn er sich die Folgen zumindest in ihren Grundzügen vorgestellt hat. Das schließt es aus, dem Versicherungsnehmer Schadensfolgen zuzurechnen, die er nicht oder nicht in ihrem wesentlichen Umfang als möglich erkannt und für den Fall ihres Eintritts nicht gewollt oder im Sinne bedingten Vorsatzes billigend in Kauf genommen hat (BGH a.a.O.). Verletzungen, die durch einen von den Vorstellungen des Täter über den Schadensverlauf wesentlich abweichenden Geschehensablauf entstanden sind und die nach Art und Schwere wesentlich von den Körperverletzungen abweichen, wie er sie sich vorgestellt hat, werden von einem auf "Körperverletzung" gerichteten Vorsatz nicht umfasst (OLG Düsseldorf, Versicherungsrecht 1977, 745; OLG Celle a.a.O.). Dabei muss unstreitig der Versicherer ein vorsätzliches Handeln im Sinne des Ausschlusstatbestandes beweisen. Zu seinen Lasten geht es daher, wenn die innere Einstellung des Täters zur Tat nicht aufgeklärt werden kann, wobei es zulässig ist, indiziell aus der Gefährlichkeit der objektiven Verhaltensweise auf die innere Einstellung des Täters zu schließen (OLG Celle a.a.O. , m.w.N.).
50Hier kann nicht festgestellt werden, dass der Kläger vorsätzlich im Hinblick auf die Verletzungsfolgen handelte. Dies würde die Feststellung voraussetzen, dass der Kläger die durch das Zersplittern des Glases hervorgerufenen schwerwiegenden Verletzungen des Zeugen N bei der Ausführung des Schlages vorausgesehen hat. Hiergegen spricht bereits die nur kurze Reaktionsmöglichkeit, die dem Kläger zur Entscheidung über eine Verteidigungshandlung verblieb. So hat der Kläger, wie bereits festgestellt, noch in der Nacht des Vorfalls gegenüber dem Zeugen T erklärt, er habe "reflexartig" gehandelt. Bei alledem spricht gegen ein vorsätzliches Handeln zusätzlich, dass es sich bei dem Kläger nicht um einen notorischen Schläger handelte, was sich auch mit dem persönlichen Eindruck deckte, den das Gericht von ihm in der mündlichen Verhandlung gewinnen konnte, und der Kläger vor dem Vorfall in erheblichem Maße Alkohol zu sich genommen hatte (vgl. zu diesen Gesichtspunkten OLG Hamm, OLG R 1997, 5). Dabei hat die Beklagte einen nennenswerten Nachtrunk nicht bewiesen, so dass zugunsten des Klägers im Hinblick auf die später festgestellten unstreitigen Blutalkoholkonzentrationen von einer erheblichen Alkoholisierung ausgegangen werden muss.
51Auch dann, wenn der Kläger sich nicht mit Erfolg auf Notwehr berufen könnte, weil er etwa mit dem Schlag mit dem Bierkrug eine nicht erforderliche Verteidigungshandlung vorgenommen hätte, so läge kein vorsätzliches Handeln vor. Denn es muss für den Vorsatzausschluss festgestellt werden können, dass der Versicherungsnehmer bei seiner Handlung das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit hatte. Dieses würde fehlen, wenn der Versicherungsnehmer mit dem Gebrauch eines Abwehrwerkzeuges zu weit geht und ihm daher ein intensiver Notwehrexzess vorzuwerfen wäre (OLG Düsseldorf Versicherungsrecht 1994,850). Auch ein mögliches Vorliegen einer solchen Fallkonstellation vermag die – insofern beweisbelastete – Beklagte nicht auszuräumen.
52Das Gericht verkennt dabei nicht, dass grundsätzlich aus der objektiven Gefährlichkeit eines Tuns indiziell auf das Vorliegen eines entsprechenden Vorsatzes geschlossen werden kann (OLG Celle a.a.O.; OLG Karlsruhe r + s 1996, 301). Aufgrund der oben dargestellten Gegenindizien lässt sich vorliegend jedoch nicht allein aus dem Gesichtspunkt der objektiven Gefährlichkeit der Handlung ein Vorsatz bezüglich der Verletzungsfolge herleiten. Solches wäre allenfalls denkbar, wenn der Kläger ein von ihm abgeschlagenes oder zerbrochenes Bierglas zum Zwecke des Einsatzes als Waffe erst ergriffen und dann eingesetzt hätte (vgl. zu einer solchen Konstellation OLG Köln r + s 1995, 9), was jedoch weder von der Beklagten dargetan, noch ersichtlich ist.
53Es lassen sich auch keine – leichteren – Verletzungsfolgen bei dem Zeugen N abgrenzen, hinsichtlich derer ein Vorsatz des Klägers zu bejahen wäre, etwa weil der Kläger mit Vorsatz hinsichtlich Verletzungen aufgrund stumpfer Gewalteinwirkung durch die Faust oder das Glas handelte. Solche Teilverletzungen sind im Hinblick auf den Ausschluss nicht abgrenzbar (vgl. hierzu OLG Saarbrücken ZFS 2009, 699).
54Letztlich folgt auch aus dem Umstand, dass der Kläger gegenüber dem Zeugen T geäußert haben mag, er habe "Scheiße gebaut" und dem weiteren Umstand, dass der Kläger seine Zustimmung zu einer Einstellung des Strafverfahrens gab, keine durchgreifenden Gründe für die Annahme eines Vorsatzes im Sinne des Ausschlusstatbestandes. Die Erklärung "Scheiße gebaut" zu haben lässt sich mühelos mit einem Entsetzen über die Folgen der Verteidigungshandlung erklären. Allein eine Zustimmung zu der Einstellung des Verfahrens vermag ein Schuldeingeständnis nicht zu begründen, zumal es vielfältige Gründe für die Zustimmung zu einer solchen Einstellung geben kann. Im Übrigen war die Beweislage für den Kläger im Strafverfahren ungünstiger, weil der Zeuge T2 dort eher zugunsten des Zeugen N und zu Lasten des Klägers ausgesagt hatte.
55Nach alledem war zu erkennen wie geschehen. Die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten schuldet die Beklagte als Verzugsschaden, §§ 280, 286 BGB. Auf die Frage, ob der Kläger die Honorarforderung seines Prozeßbevollmächtigten bereits erfüllt hat, kommt es nicht an. Denn der Befreiungsanspruch geht in einen Zahlungsanspruch über, wenn der Schädiger – wie hier – die Leistung ernsthaft und endgültig verweigert (BGH Versicherungsrecht 2004,740).
56Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 91, 709 ZPO.
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