Beschluss vom Landgericht Dortmund - 13 O (Kart) 23/09
Tenor
I.
Das Verfahren wird ausgesetzt.
II.
Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden folgende Fragen zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts gemäß Art. 267 AEUV zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1 a) Ist Art. 6 Nr. 1 der Verordnung (EG) 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen so auszulegen, dass bei einer Klage, mit der eine im Gerichtsstaat ansässige Beklagte und weitere in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ansässige Beklagten gemeinsam auf Auskunft und Schadensersatz in Anspruch genommen werden wegen eines von der Europäischen Kommission festgestellten, in mehreren Mitgliedsstaaten unter unterschiedlicher örtlicher und zeitlicher Beteiligung der Beklagten begangenen einheitlichen und fortgesetzten Verstoßes gegen Art. 81 EG/Art. 101 AEUV, Art. 53 EWRA, eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung zur Vermeidung widersprechender Entscheidungen in getrennten Verfahren geboten ist ?
b) Ist dabei zu berücksichtigen, wenn die Klage gegen die im Gerichtsstaat ansässige Beklagte nach Zustellung an sämtliche Beklagten und vor Ablauf der richterlich gesetzten Fristen zur Klageerwiderung und vor Beginn der ersten mündlichen Verhandlung zurückgenommen wird ?
2. Ist Art. 5 Nr. 3 der Verordnung (EG) 44/2001 so auszulegen, dass bei einer Klage, mit der von in verschiedenen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ansässigen Be-klagten Auskunft und Schadensersatz verlangt wird wegen eines von der Europäischen Kommission festgestellten, in mehreren Mitgliedsstaaten unter unterschiedlicher örtlicher und zeitlicher Beteiligung der Beklagten begangenen ein-heitlichen und fortgesetzten Verstoßes gegen Art. 81 EG/Art. 101 AEUV, Art. 53 EWRA, das schädigende Ereignis in Bezug auf jeden Beklagten und auf alle geltend gemachten Schäden oder einen Gesamtschaden in denjenigen Mitgliedstaaten eingetreten ist, in denen Kartellverein-barungen getroffen und umgesetzt wurden ?
3. Lässt bei auf Schadensersatz wegen einer Zuwiderhandlung gegen das Kartellverbot des Art. 81 EG/Art. 101 AEUV, 53 EWRA gerichteten Klagen das unionsrechtliche Gebot effektiver Durchsetzung des Kartellverbotes es zu, in Lieferverträgen enthaltene Schieds- und Gerichtsstands-klauseln zu berücksichtigen, wenn dies zur Derogation eines nach Art. 5 Nr. 3 und / oder Art. 6 Nr. 1 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 international zuständigen Gerichts gegenüber allen Beklagten und/oder für alle oder einen Teil der geltend gemachten Ansprüche führt ?
1
G r ü n d e:
2I.
31 Die Klägerin ist eine zum Zwecke der Geltendmachung von Kartellansprüchen gegründete Gesellschaft belgischen Rechts mit Sitz in Brüssel. Sie erhob mit Klageschrift vom 16.03.2009 vor dem angerufenen Gericht als Kartellgericht Klage gegen 6 Chemieunter-nehmen, die bis auf die ehemalige Beklagte F, die ihren Sitz Deutschland hat, nicht in Deutschland, sondern in 5 anderen Mitgliedsstaaten ansässig sind. Mit der Klage werden auf der Grundlage der Entscheidung der Europäischen Kommission vom 03.05.2006 im Verfahren COMP/F/38.620-Hydrogen Peroxide and Perborate gegen die Beklagten als Gesamtschuldner Ansprüche aus abgetretenem Recht von Zedenten und Vorzedenten wegen Verstoßes gegen Art. 81/EG/101EGVU, Art. 53 EWRA geltend gemacht.
42 Die europäische Kommission stellte in der vorgenannten Entscheidung fest, dass die Beklagten und weitere Unternehmen sich beteiligten an einer einheitlichen und andauernden Zuwider-handlung gegen das Kartellverbot des Art. 81 EG und Art. 53 EWRA betreffend die Produkte Wasserstoffperoxid und Natriumperborat. Die Zuwiderhandlung begann danach spätestens am 31.01.1994 und dauerte bis zumindest zum 31.12.2000. Sie umfasste Austausch von wichtigen und vertraulichen Markt- und Unternehmensin-formationen, Kontrolle und/oder Beschränkung der Produktion, Auf-teilung von Märkten und Kunden und Festsetzung und Über-wachung von Preisen im Rahmen multilateraler und/oder bilateraler regelmäßiger und unregelmäßiger Treffen und Telefonkontakte hauptsächlich in Belgien, Frankreich und Deutschland. Die Kartellanten beteiligten sich in unterschiedlicher Weise. Sie handelten im Wissen um das Ungesetzliche ihrer Handlungen und bauten ein geheimes und multinationales System zur Beschränkung des Wettbewerbs auf.
53 Die Kommission verhängte gegen die Beklagten und weitere Be-teiligte Geldbußen, zum Teil unter Ermäßigung auf Grund der Kronzeugenregelung. Die ehemalige Beklagte F erhielt vollständige Bußgeldbefreiung.
64 Die Entscheidung der Europäischen Kommission wurde von einigen Adressaten vor dem Europäischen Gerichtshof angefochten. Die Beklagte B nahm ihre Nichtigkeitsklage Ende des Jahres 2009 zurück. Die Nichtigkeitsklagen der Beklagten B2 und G wurden mit Urteilen vom 14.06.2011 und 16.06.2011 abgewiesen. Auf die Nichtigkeitsklage der Beklagten T wurde die Entscheidung der Europäischen Kommission für nichtig erklärt, soweit sie eine Beteiligung der Beklagten in der Zeit vor Mai 1995 feststellte. Die Beklagte legte hiergegen Rechtsmittel ein beim Gerichtshof der Europäischen Union, über das noch nicht entschieden ist.
75 Die Klägerin stützt die Klage auf Vereinbarungen über den Kauf und die Abtretung von Schadensersatzforderungen mit 32 in 13 unterschiedlichen europäischen Staaten ansässigen Unternehmen, die zum Teil ihrerseits Abtretungsvereinbarungen betreffend Schadensersatzforderungen mit 39 anderen Unternehmen geschlossen haben. Die Unternehmen sind Zellstoff und Papier verarbeitende Industrieunternehmen. Sie haben nach Behauptung der Klägerin in den Jahren 1994 bis 2006 erhebliche Mengen Wasserstoffperoxid in verschiedenen Mitgliedstaaten der Euro-päischen Union bzw. des EWR bezogen, wobei bei einigen Unternehmen Werke in mehreren Mitgliedstaaten beliefert worden sein sollen. Eine Reihe von Zedenten und Vorzedenten haben der Klägerin Ansprüche nicht im gesamten Umfang abgetreten, sondern nur, soweit sie auf Wasserstofflieferungen bestimmter Beklagter beruhen. Wegen eines Teils nicht abgetretener Ansprüche hat die Klägerin im April 2011 gegen die Beklagte L Klage vor einem Gericht in Helsinki erhoben.
86 Die Belieferung der Zedenten und/oder Vorzedenten erfolgte auf vertraglicher Grundlage, nach Behauptung der Beklagten zum Teil unter Einbeziehung von Schieds- und Gerichtsstandsverein-barungen.
97 Die Klage wurde der ehemaligen Beklagten F am 07.04.2009 zugestellt. Die weiteren Beklagten erhielten übersetzte Klageschriften im August 2009. Die den Klageschriften beigefügten Anlagen wurden ihren Prozessbevollmächtigten im September 2009 in englischer Übersetzung zugestellt. Allen Beklagten wurde auf entsprechenden Antrag Verlängerung der gesetzten Frist zur Klageerwiderung gewährt. Die Beklagten erwiderten auf die Klage im April 2010 mit Ausnahme der ehemaligen Beklagten F, die keine Klageerwiderung vorlegte. Die Klage gegen sie wurde Ende September 2009 zurückgenommen, da zwischen der Klägerin und der ehemaligen Beklagten ein Vergleich geschlossen wurde.
108 Ende des Jahres 2009 verkündeten die im Prozess verbliebenen Beklagten der ehemaligen Beklagten und den Firmen D und F2 den Streit. Die Streitverkündeten sind im Juli 2010 dem Rechtsstreit auf Beklagtenseite beigetreten. Am 16.12.2010 fand Termin zur Güteverhandlung und zur mündlichen Verhandlung vor der Kammer statt. Die Beklagten erhoben die Schiedseinrede und rügten fehlende Zuständigkeit.
119 Die Vorsitzende ordnete mit Beschluss vom 07.06.2011 gesonderte Verhandlung über die Zuständigkeit der Klage nach § 281 ZPO an.
12Es wurde insoweit neu verhandelt vor der Vorsitzenden in mündlicher Verhandlung am 11.10.2011. Mit mittlerweile rechts-kräftigem Beschluss vom 01.03.2012 wurde festgestellt, dass Beklagte dieses Verfahrens nicht die B3, Frankreich, sondern die Beklagte B2, ist.
13II.
141.
1510 Die Entscheidung über die Zulässigkeit der Klage hängt davon ab,
16ob das angerufene Gericht für die nach dem 01.03.2002 erhobene Klage nach Maßgabe der Vorschriften der Verordnung (EG) Num-mer 44/2001 des Rates über die gerichtliche Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 22.12.2000 (im Folgenden: EuGVVO) gegenüber den im Prozess verbliebenen Beklagten international zuständig ist. Nur wenn dies bejaht wird, ist das angerufene Gericht befugt, Fragen betreffend weitere nach dem nationalen Prozessrecht des angerufenen Gerichts zu beurteilende Zulässigkeitsvoraussetzungen wie Ausschluss der staatlichen Gerichtsbarkeit durch Schiedsverein-barung, Rechtsschutzbedürfnis, Feststellungsinteresse und Be- stimmtheit der Klageanträge zu prüfen.
1711 Eine internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte nach Art. 2,
1822, 24 EuGVVO besteht nicht. Die Beklagten haben sämtlich ihren Firmensitz nicht im Gerichtsstaat, sondern in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union. Sie haben auch sämtlich fehlende internationale Zuständigkeit gerügt. Zuständigkeits-begründung durch rügelose Einlassung scheidet danach aus. Ausschließliche Gerichtsstände nach Art. 22 EuGVVO sind nicht begründet.
1912 Eine internationale Zuständigkeit des angerufenen Gerichts kommt
20nur in Betracht aufgrund der Vorschriften der Art. 6 Nr. 1, 5 Nr. 3 EuGVVO. Wenn die Voraussetzungen hierfür nach dem allein maßgeblichen unstreitigen Sachvortrag der Parteien oder schlüssigem Klägervortrag vorliegen, kann die Klägerin die Beklagten nach ihrer Wahl in einem dieser Gerichtsstände ver-klagen, wenn diese nicht wirksam nach Art. 23 EuGVVO oder durch eine Schiedsvereinbarung ausgeschlossen sind.
2113 Da abgesonderte Entscheidung über die Zulässigkeit der Klage angeordnet ist, prüft das angerufene Gericht die Begründetheit der Klage zum jetzigen Zeitpunkt nicht und lehnt eine Vorlage zur Vor-abentscheidung über die Auslegung des Gemeinschaftsrechts zur Frage des in diesem Rechtsstreit anzuwendenden materiellen Rechts ab, auch wenn dies von den Parteien aus Gründen der Prozessökonomie angeregt wurde. Fragen des anzuwendenden materiellen Rechts stellen sich im jetzigen Stadium des Verfahrens ausschließlich, soweit sie für die Zuständigkeitsprüfung Bedeutung haben können.
2214 Das angerufene Gericht hält es aus Gründen der Verfahrensöko-
23nomie für geboten, von seiner Vorlageberechtigung gemäß Art. 267 Abs. 2 AEUV Gebrauch zu machen und dem Gerichtshof schon im Rahmen der erstinstanzlichen Prüfung der Zuständigkeit Fragen zur Auslegung des Unionsrechts zur Vorabentscheidung vorzulegen. Die Frage der Zuständigkeit des angerufenen Gerichts hat Vorrang vor der Prüfung aller weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen und schließt auch jede prozessuale Möglichkeit, über die materielle Begründetheit der Klage zu entscheiden, aus. Inhalt und Umfang der rechtlichen Ausführungen der Prozessbeteiligten und ihrer jeweiligen rechtsgutachterlichen Berater zu den Voraussetzungen einer internationalen Zuständigkeit nach Art. 6 Nr. 1, 5 Nr. 3 EnGVVO bei kartellrechtlichen follow-on Klagen zeigen, dass in diesem Rechtsstreit sich schon im Rahmen der Zuständigkeits-prüfung mehrere Fragen zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts ergeben, die nicht oder noch nicht zweifelsfrei geklärt sind.
242. Vorlagefrage 1 a
2515 Der Gerichtsstand des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO setzt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs voraus, dass in getrennten Verfahren vor verschiedenen nationalen Gerichten bei derselben Sach- und Rechtslage sich die Gefahr widersprechender Entscheidungen ergibt (Urteil vom 12.07.2012 in der Rechtssache Solvay, C-616/10 unter Verweis auf die Urteile in den Verfahren Roche Nederland vom 13.07.2006, C-539/03, Slg 2006, I-6535; Freeport vom 11.10.2007, C-98/06, Slg 2007 I-8319 und Painer vom 1.12.11, C-145/10).
2616 Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen ist nach Auffassung des
27angerufenen Gerichts nicht abzustellen auf eine isolierte Betrachtung der unterschiedlichen örtlichen und zeitlichen Beteiligung der Kartellbeteiligten bei den Kartellabsprachen und deren Umsetzung durch eigenständige Gestaltung der Vertriebs- und Preispolitik und Begründung und Durchführung von Lieferbeziehungen. Entscheidend ist vielmehr, dass gemäß den nach Art. 16 Absatz 1 der VO/2003 mit Bindungswirkung ge-troffenen Feststellungen der Europäischen Kommission, die die Klägerin sich als Vortrag zu eigen macht, die Kartellbeteiligten einheitlich und fortgesetzt handelnd gegen Art. 81 EG/53 EWRA verstoßen haben und ihnen als Mittätern ungeachtet ihres eigenen konkreten Beitrags das tatsächliche Verhalten der Mitkartelllanten als eigenes zugerechnet wird (Entscheidung der Kommission vom 03.05.2006 COMP/F/38.620, Randnummer 31, 324 bis 327).
2817 Das im bußgeldrechtlichen Verfahren festgestellte Verhalten begründet nach Auffassung des angerufenen Gerichts eine schadensrechtliche Verantwortlichkeit der einzelnen Täter für de-liktisches Handeln ihrer Mittäter und für hierdurch verursachte Schadensfolgen. Ob diese folgt aus direkter Anwendung der europarechtlichen Kartellverbotsnorm bei Annahme einer europa-rechtlichen Mithaftung mit gesamtschuldnerischem Haftungsumfang oder als Haftungsfolge auf der Grundlage des nach jeweiligem IPR anzuwendenden nationalen Schadensersatzrechts ist bei der gebotenen autonomen Prüfung nicht zu entscheiden. Insoweit stellt sich nur die Frage, ob und gegebenenfalls in welcher Weise eine schadensersatzrechtliche Haftungszurechnung, gleich, ob direkt abgeleitet aus Art. 81 EG/101 EGVU, Art. 53 EWRA oder auf der Grundlage nationaler Vorschriften, europarechtlich geboten ist zur Durchsetzung eines nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs (Urteile in den Sachen Courage vom 20.09.2001, C-453/99, Slg 2001 I-6297 und Manfredi vom 13.07.2006, verb. Rs C-295/04 bis C-298/04, Slg 2006 I-6619) garantierten kartellrechtlichen Schadensersatzanspruchs für Schäden, die durch ein europaweit gemeinschaftlich agierendes Kartell verursacht wurden.
2918 Ist dies der Fall, ist ausgehend von diesen Erwägungen und unter Berücksichtigung von Erwägungsgrund Nr. 15 der Erwägungsgründe zur EuGVVO nach Auffassung des angerufenen Gerichts eine gleiche Sach- und Rechtslage zu bejahen. Auch dem Erwägungsgrund Nr. 11 wird dabei Rechnung getragen. Für die Beteiligten eines europaweit agierenden Kartells ist voraussehbar, auch vor dem Gericht in einem Mitgliedsstaat, in dem einer der Mitkartelllanten seinen Sitz hat, verklagt zu werden. Den Beklagten dieses Rechtsstreits war nach Klagevortrag bekannt, welche in anderen Mitgliedsstaaten ansässigen Unternehmen am Kartell beteiligt waren. Sie wussten danach, welche Gerichtsstände in welchen Mitgliedsstaaten für Kartellschadensersatzklagen gegen sie in Betracht kommen und konnten sich darauf einstellen, nicht vor ihrem Wohnsitzgericht verklagt zu werden.
303. Vorlagefrage 1 b
3119 Die Rücknahme der Klage gegen die ehemalige Beklagte F als Ankerbeklagte kann für die Frage der Konnexität im Sinne von Art. 6 Nr. 1 EuGVVO unter dem Gesichtspunkt des Rechtsmißbrauchs und der perpetuatio fori Bedeutung haben
3220 Nach den Ausführungen des Gerichtshofs in den Entscheidungen
33Kalfelis (Urteil vom 27.09.1988 C-189/87, Slg 1988 I-5565), Réunion européenne (Urteil vom 27.10.1998, C-51/97, Slg 1998 I-6511), Reisch Montagne (Urteil vom 13.07.2006, C-103/05, Slg 2006 I-6827), Freeport (Urteil vom 11.10.2007, C-98/06, Slg 2007 I-8319) und Painer (Urteil vom 01.12.2011 C-145/10) erlaubt die Zuständigkeitsnorm des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO einem Kläger keine Klage zu dem Zweck, den Beklagten der Wohnsitzzuständigkeit nach Art. 2 EuGVVO zu entziehen. Ob und wie dieser Anforderung bei der Prüfung der Normvoraussetzungen Rechnung zu tragen ist, ist ungeklärt. Das angerufene Gericht versteht die Forderung des Gerichtshofs in Sachen Freeport so, dass, wenn Notwendigkeit einer gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung zur Ver-meidung widersprechender Entscheidungen in getrennten Ver-fahren bejaht wird, eine gesonderte Missbrauchsprüfung nicht erforderlich, bei Vorliegen hinreichender Anhaltspunkte für Rechts-missbrauch aber auch nicht ausgeschlossen ist.
3421 Ausgehend von einem solchen Verständnis muß der Vorwurf missbräuchlichen Verhaltens aber beschränkt sein auf klägerisches Verhalten vor oder bei Klageerhebung. Im Rahmen der für das deutsche Prozessrecht geltenden Parteimaxime ist es einem Kläger unbenommen, einer nach Klageerhebung eingetretenen Änderung der Situation prozessual Rechnung zu tragen, wenn er dies für sinnvoll erachtet. Die Erzielung einer außergerichtlichen Einigung mit dem Prozeßgegner ist eine solche Änderung der Situation. Hierauf durch Klagerücknahme zu reagieren, ist aus Sicht aller Prozessbeteiligten vernünftig. Die Rechtsposition weiterer im Prozeß verbliebener Beklagten wird hierdurch nicht berührt.
3522 Die Situation ist eine andere, wenn ein Kläger vor oder im Zeitpunkt der Klageerhebung bereits eine streitbeendende Einigung mit dem Ankerbeklagten erzielt hat. Dann besteht, auch wenn Konnexität bezüglich der übrigen Beklagten zu bejahen ist, die Notwendigkeit einer gemeinsamen Entscheidung unter Einbeziehung des Ankerbeklagten durch das für ihn ständige Wohnsitzgericht gerade nicht.
3623 Darüber hinaus ist eine Klageerhebung unter Verschweigen einer bereits erzielten Einigung mit dem Ankerbeklagten auch rechts-missbräuchlich. Die Parteien haben sich über tatsächliche Umstände vollständig und wahrheitsgemäß zu erklären. Sie dürfen nicht, auch nicht zu ihren Gunsten, Erklärungen wider besseres Wissen abgeben und damit lügen.
3724 Es fragt sich, ob mißbräuchliches Verhalten auch vorliegt, wenn eine Einigung zwischen dem Kläger und dem Ankerbeklagten vor Klageerhebung noch nicht erzielt wurde, aber möglich war und nur im Hinblick auf die Zuständigkeitserweiterung nach Art. 6 Nr. 1 EuGVVO hinausgeschoben wurde. Eine Einflussnahme auf die Begründung gerichtlicher Zuständigkeiten durch die Parteien ist, wie die Regelungen zu Gerichtsstandsvereinbarungen und Zuständigkeitsbegründung durch rügelose Einlassung gemäß Art. 23, 24 EuGVVO zeigen, nicht zu beanstanden. Unbedenklich unter dem Aspekt der Rechtsmissbräuchlichkeit ist auch die Wahl eines bestehenden Gerichtsstandes nach Zweckmäßigkeitserwägungen. Der Bereich des Rechtsmissbrauchs ist aber erreicht bei Einsatz verwerflicher und zu missbilligender Mittel. Hierzu könnte abge-stimmtes Verhalten zwischen Kläger und Ankerbeklagten zur Er-ziehung einer Zuständigkeitsverlagerung zu Lasten von Mitbe-klagten durch Hinauszögern des Vergleichsabschlusses gehören.
3825 Dass Konstellationen wie in Randnummern 23 - 25 dargestellt im Streitfall vorlagen, ist nach dem Sachvortrag der Parteien und der ehemaligen Ankerbeklagten und jetzigen Streithelferin F keineswegs nur hypothetisch. Der dahingehende Sachvortrag der Beklagten ist, da zu den Umständen des Vergleichsschlusses und zum Inhalt des Vergleichs von den Partnern der Vergleichsvereinbarung nur ganz allgemein vorgetragen wird, schlüssig und ausreichend konkret. Nach dem zeitlichen Ablauf des Prozessgeschehens betreffend die Teilklagerücknahme und unter Berücksichtigung des prozessualen Verhaltens der Klägerin und der ehemaligen Ankerbeklagten und jetzigen Streithelferin F insoweit ist es nicht nur möglich, sondern eher naheliegend, dass schon vor Klageeinreichung die vergleichsweise Einigung zumindest dem Grunde nach und in den wesentlichen Punkten erfolgt ist. Dabei dürfte die Möglichkeit einer Zuständigkeitserweiterung auf die Mitkartellanten bei den Verhandlungen über eine Entscheidung, ob, wie und wann die Streitigkeit außergerichtlich beizulegen ist, eine nicht unwichtige Rolle gespielt haben.
3926 Wenn Konnexität zum Zeitpunkt der Klageerhebung bejaht werden
40kann, stellt sich die Frage, ob das danach erfolgte Ausscheiden der Ankerbeklagten zum Wegfall der einmal begründeten Zuständigkeit führen kann.
4127 Im deutschen Prozeßrecht besteht der Grundsatz der perpetuatio fori nach § 261 Absatz 3 Nr. 2 ZPO. Die Vorschrift lautet:
42„Die Zuständigkeit des Prozessgerichts wird durch eine
43Veränderung der sie begründenden Umstände nicht berührt.“
4428 Die Anwendbarkeit dieses Grundsatzes auf die Zuständigkeits-vorschrift des Art. 6 Nr. 1 der EuGVVO wurde vom Gerichtshof bislang nicht festgestellt. Sie wird nach überwiegender deutscher Rechtsprechung bejaht, wenn die Ziele der gemeinschaftsrechtlichen Zuständigkeitsbestimmungen Vorhersehbarkeit, Effizienz und Rechtssicherheit anders verfehlt werden (so BGH, Urteil vom 01.03.2011, XI ZR 48/10).
4529 Dies ist nach Auffassung des angerufenen Gerichts der Fall. Die Gefahr widersprechender Entscheidungen besteht auch nach Klagerücknahme betreffend den Ankerbeklagten zumindest im Hin-blick auf die im Prozess verbleibenden Beklagten. Diese kennen ihre Mitkartellanten und können voraussehen, in welchem Mitglieds-staat sie verklagt werden können. Die Frage einer Klagerücknahme ist hierfür ohne Relevanz.
4630 Dass die Klagerücknahme in einem frühen Prozessstadium erfolgte, spielt unter dem Aspekt der perpetuatio fori, anders als für den Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs, keine Rolle. Zwar ergibt sich in der Regel vor einer Erörterung der Sach- und Rechtslage in mündlicher Verhandlung und auf der Grundlage des Vorbringens aller Parteien kein besonderer Erkenntnisgewinn. Effizienzverluste sind gleichwohl für alle Beteiligten, auch für das Prozessgericht, zu befürchten. Dieses muss sich, auch wenn eine Erwiderung auf die Klage noch nicht vorliegt, mit dem Klagevorbringen zumindest im Hinblick auf die Beachtung formaler Voraussetzungen auseinandersetzen und die für eine wirksame Klagezustellung erforderlichen Anordnungen treffen.
474. Vorlagefrage 2
4831 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs können Ansprüche
49wegen außervertraglicher Rechtsverletzungen im Gerichtsstand des Art. 5 Nr. 3 EuGVVO nach Wahl des Klägers geltend gemacht werden sowohl am Handlungsort als dem Ort des schadens-ursächlichen Geschehens als auch am Erfolgsort als Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs, wobei das Gericht des Erfolgsortes nur für die Entscheidung über Ansprüche aus Schadensereignissen, die in diesem Staat verursacht wurden, zu-ständig ist (Urteil vom 25.10.2011, verb. RS C-7509/09 und C-161/10, eDate Advertising GmbH und Martinez; Urteil vom 07.03.1995 Shevill, C‑ 68/93, Slg 1995 I-415).
5032 Der besondere Gerichtsstand des Art. 5 Nr. 3 EuGVVO trägt dem Erwägungsgrund Nr. 12 Rechnung. Er beruht darauf, dass zwischen der Streitigkeit und den Gerichten des Ortes, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist, eine besondere enge Beziehung besteht, die aus Gründen einer geordneten Rechts-pflege und sachgerechter Gestaltung des Prozesses die Abweichung vom Grundsatz der Zuständigkeit am Beklagtenwohnsitz nach Art. 2 EuGVVO rechtfertigt.
5133 Das angerufene Gericht erachtet die streitgegenständlichen kartelldeliktischen Auskunfts- und Schadensersatzansprüche für Ansprüche im Sinne von Art. 5 Nr. 3 EuGVVO. Es bezweifelt aber, ob ausgehend von der Erwägung im Erwägungsgrund Nr. 12 bei einem europaweit über einen längeren Zeitraum agierenden Preiskartell mit mehreren Kartellbeteiligten für alle Beklagten und im Hinblick auf den verlangten Gesamtschaden Handlungsort und/oder Erfolgsort in seinem Zuständigkeitsbereich zu bejahen sind.
5234 Auch bei Annahme einer umfassenden Haftungszurechnung wegen
53mittäterschaftlicher einheitlicher und fortgesetzter Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG/101 AEUV fragt sich, weshalb sich für jedes Gericht an einem der mehreren Orte, an denen das Kartell konzipiert, organisiert und in der Umsetzung überwacht wurde und die Kartellabrede die Abnehmer marktweit in ihrer Auswahlfreiheit beschränkt hat, die vom Erwägungsgrund Nr. 12 geforderte besonders enge Beziehung zur Streitigkeit ergeben soll.
5435 Zu fragen ist auch, ob in Abweichung von der durch die Ent-scheidung des Gerichtshofs in Sachen Shevill postulierten Beschränkung nach dem Territorialprinzip bei einem europaweiten Kartell dem Kläger zu gestatten ist, den gesamten nach seiner Behauptung durch das Kartell ihm verursachten Schaden gegen jeden Mittäter an jedem Erfolgsort geltend zu machen. Hierdurch ergäbe sich ein Regelklägergerichtsstand an beliebig vielen Orten und die Möglichkeit eines ausgreifenden Forum shopping, ohne dass eine Gewähr für eine besonders enge Beziehung des Tatortgerichtes zur Streitigkeit als Anknüpfungspunkt für die Gerichtszuständigkeit vorläge. Den Erwägungsgründen Nr. 11 und Nr. 12 wäre nicht genüge getan.
5536 Da eine solchermaßen ubiquitäre Zuständigkeit die Bündelung von kartellrechtlichen Schadensersatzansprüchen ermöglicht, ist sie für einen Kläger zur effektiven Anspruchsdurchsetzung ohne Frage sehr vorteilhaft. Fraglich ist, ob sie insoweit unverzichtbar ist. Es verbleibt die Möglichkeit der Klageerhebung im Gerichtsstand des Art. 2 EuGVVO, ggfls. mit Aussetzung nach Art. 28 EuGVVO. Ein Verstoß gegen das Effektivitätsgebot ist angesichts dessen fraglich.
565. Vorlagefrage 3
5737 Das angerufene Gericht kann aufgrund der behaupteten Schieds-
58gerichtsvereinbarungen und/oder Gerichtsstandsvereinbarungen nach Art. 23 EuGVVO derogiert sein.
5938 Die Sperrwirkung vertraglich vereinbarter Gerichtsstandsklauseln hängt davon ab, welche Rechtsstreitigkeiten in ihren Geltungsbereich fallen. Dies ist Frage der Auslegung der Klausel, was nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs Sache des nationalen Gerichts ist (Urteil vom 10.3.1992, Powell Duffryn, C-214/89, Slg 1992, I-1745). Das angerufene Gericht geht davon aus, dass Gleiches gilt für Schiedsklauseln.
6039 Wenn die vereinbarten Schieds- und Gerichtsstandsklauseln Kartellschadensersatzansprüche umfassen, stellt sich die Frage, ob das Gebot der effektiven Durchsetzung des Kartellverbots des Art. 81 EG/Art. 101 AEUV der Berücksichtigung dieser Klauseln bei ge-richtlicher Geltendmachung von Kartellschadensersatzansprüchen in den Gerichtsständen des Art. 6 Nr. 1 und/oder Art. 5 Nr. 4 EuGVVO entgegensteht.
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.
Referenzen
This content does not contain any references.